Sagen des klassischen Altertums

Buch Sagen des klassischen Altertums

Stuttgart, 1838 bis 1840
Diese Ausgabe: Insel,


Worum es geht

Der Klassiker der Klassiker

Die Sagenstoffe aus dem antiken Griechen­land bilden die wichtigste Grundlage der europäischen Kultur. Sie sind in unserer All­t­agssprache in zahllosen Re­dewen­dun­gen präsent: Wir sprechen von der „Büchse der Pandora“, dem „Rätsel der Sphinx“ oder dem „Ikarussturz“ eines ver­meintlichen Überfliegers. Der erste Tragödiendichter Sophokles brachte vor 2000 Jahren Ödipus auf die Theaterbühne und in einer aktuellen Verfilmung des Kampfes um Troja stellt Brad Pitt den Achilles dar. Die Zahl von künst­lerischen Anregungen und Bear­beitun­gen ist schlicht unüberschaubar. Der schwäbische Gym­nasial­pro­fes­sor und Dichter Gustav Schwab erstellte um 1840 eine eigene Nacherzählung der wichtigsten Mythen der alten Griechen, die vor allem für Jugendliche gedacht war. Schwabs Sagen des klassischen Altertums gilt nach wie vor als die am meisten verbreitete Version dieser um­fan­gre­ichen epischen Stoffe für deutschsprachige Leser. Und dabei ist Schwabs Wiedergabe der Klassiker selbst zum Klassiker geworden. Da bei BooksInShort Zusam­men­fas­sun­gen der Ilias, Odyssee und Aeneis bereits vorliegen, werden deren Sagen in dieser Zusam­men­fas­sung nicht berücksichtigt.

Take-aways

  • Seit 1840 lernen die meisten deutschsprachi­gen Leser die Sagen des klassischen Altertums in der Prosafas­sung von Gustav Schwab kennen.
  • Inhalt: Prometheus, Herakles, Perseus, Theseus, Kadmos, Europa und viele andere sind die legendären Heroen und Gründergestal­ten der frühgriechis­chen Mythen. Obwohl sie überlebens­groß gezeichnet werden, haben sie menschliche Stärken und Schwächen und müssen sich in vielfältigen Abenteuern, Gefahren und Kämpfen bewähren.
  • Schwab schuf seine Prosafas­sung griechis­cher Heldensagen als eigenständige Nacherzählung, aber nahe an den Orig­inal­tex­ten.
  • Ziel des Pädagogen und Dichters Schwab war es, besonders jugendliche Leser für den um­fan­gre­ichen Stoff zu begeistern.
  • Durch seine Auswahl und die Art seiner Wiedergabe erreichte Schwab eine große inhaltliche Geschlossen­heit der teilweise heterogenen Stoffmassen.
  • Schwabs antik getönte Sprache gab schon den Lesern im 19. Jahrhundert ein Gefühl für die historische Distanz, wirkt aber trotzdem nicht altbacken.
  • In den Sagen der Antike ist men­schliches Handeln stets eingebettet in eine göttliche Weltordnung, die sich durch Orakel und Prophezeiun­gen offenbart.
  • Ein allgegenwärtiges Motiv ist die Sühnung von Freveltaten, damit die Rechts- und Weltordnung intakt bleibt.
  • Seit der Renaissance dienen die antiken Sagen als Quelle zahlreicher künst­lerischer Motive und Vorlagen, aber erst in Gustav Schwabs Epoche der Romantik erkannten viele die sprachliche Qualität der Texte.
  • Zitat: „Wisse also, dass von allem, was gut und wünschenswert ist, die Götter den Menschen nichts ohne Arbeit und Mühe gewähren.“
 

Zusammenfassung

Die frühen Heroen

Nachdem Himmel und Erde geschaffen sind, knetet der Titanensohn Prometheus aus feuchtem Ton die Menschen. Die Göttin Athene haucht ihnen göttlichen Geist ein und Prometheus lehrt sie nützliche Fer­tigkeiten, vom Hausbau bis zum Gebrauch von Heilmitteln. Weil Prometheus den Göttervater Zeus bei der Opferung eines Stiers um das Fleisch betrügt, verweigert Zeus den Menschen das Feuer. Doch Prometheus stiehlt es vom Himmel und schenkt es ihnen. Um sich zu rächen, lässt Zeus eine wunderschöne Jungfrau erschaffen, Pandora. In einem Kästchen trägt sie un­heil­brin­gende Gaben auf die Erde. Sie öffnet den Deckel und damit verbreiten sich alle Übel wie Krankheit und Tod. Ferner lässt Zeus Prometheus zur Strafe an einen Felsen am Kaukasus schmieden, wo täglich ein Adler Prometheus’ Leber frisst, die immer wieder nachwächst. Der zufällig vor­beik­om­mende Herakles befreit den Gequälten. Prometheus trägt fortan einen Ring mit einem Stein vom Kaukasus; damit gilt Zeus’ Befehl, ihn an den Kaukasus zu schmieden, als erfüllt.

„Er nahm den langen Stengel des markigen Riesen­fenchels, näherte sich mit ihm dem vorüberfahren­den Sonnenwagen und setzte so den Stengel in glostenden Brand. Mit diesem Feuerzunder kam er hernieder auf die Erde, und bald loderte der erste Holzstoß gen Himmel.“ (über Prometheus, S. 11)

Die phönizische Königstochter Europa vergnügt sich am Strand von Tyros mit einigen Gefährtinnen, als sich ein stattlicher, aber sehr sanftmütiger Stier den Mädchen nähert. In diese Gestalt hat sich der in Europa verliebte Zeus verwandelt, um seine eifersüchtige Gattin Hera zu täuschen. Die jungen Frauen streicheln und bekränzen den schönen Stier mit Blumen. Er kauert sich einladend auf den Boden und Europa besteigt seinen Rücken. Nun springt der Stier auf, läuft ins Meer und schwimmt mit Europa davon. Am Abend setzt er sie auf einer Insel ans Ufer, ver­schwindet und kehrt als Herrscher Kretas mit imposanter Erscheinung zurück. Er bietet ihr an, sie zu beschützen, wenn sie sich ihm hingibt. Europa willigt ein. Am nächsten Tag ist sie unglücklich, trauert der verlorenen Heimat nach und möchte am liebsten sterben. Da erscheint ihr die Göttin Aphrodite und tröstet sie mit dem Hinweis, dass sie die Gattin eines Gottes geworden sei und als Na­mensge­berin für einen Erdteil unsterblich würde.

„Und ehe sich Europa besinnen konnte, war er mit einem Satz ins Meer gesprungen und schwamm mit seiner Beute dahin.“ (über Zeus, S. 34)

Nach Europas Entführung macht sich ihr Bruder Kadmos auf die Suche nach seiner entführten Schwester, jedoch vergeblich. In Griechen­land besiegt er einen Drachen, der eine Quelle bewacht. Nach dem Kampf befiehlt Athene Kadmos, die Drachenzähne in die Erde einzusäen. Daraus wachsen bald Krieger in voller Rüstung, die sich sofort gegenseitig bekämpfen, bis nur noch fünf übrig bleiben. Mit ihnen gründet Kadmos die Stadt Theben. Der Prinz von Argos, Perseus, Sohn von Zeus und Danae, wird nach seiner Geburt zusammen mit seiner Mutter in einem Kasten ins Meer geworfen: Ein Orakel hat geweissagt, er würde seinen Großvater ermorden und ihm den Thron nehmen. Der Kasten wird auf der Insel Seriphos an Land geschwemmt. Der In­sel­herrscher Polydektes heiratet Danae und zieht Perseus auf. Als junger Mann soll sich Perseus durch mutige Taten auszeichnen, vor allem soll er die grauen­erre­gende Gorgone Medusa töten. Der Anblick ihres Schlangen­hauptes verwandelt jeden in Stein. Indem er sich nur am Spiegelbild seines Schildes orientiert und sie nicht direkt anblickt, gelingt es Perseus, Medusa den Kopf abzuschla­gen. Auf der Rückreise nach Argos befreit Perseus die an eine Klippe gefesselte Prinzessin Andromeda, die einem See­unge­heuer geopfert werden sollte, und erhält sie zur Frau. Später tötet Perseus tatsächlich seinen Großvater: Verse­hentlich trifft er ihn bei einem Wurf mit der Diskuss­cheibe.

„Die Nach­barschaft der Sonne erweichte mit allzu kräftigen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zusam­men­hielt, und ehe es Ikaros nur bemerkte, waren die Flügel aufgelöst und zu beiden Seiten den Schultern entsunken.“ (S. 65)

Dädalos gilt den Athenern als der be­deu­tend­ste Baumeister und Künstler. Aus Neid stürzt er seinen begabtesten Schüler Talos von der Athener Burg. Vor der Mordanklage flieht Dädalos nach Kreta. Dort baut er für König Minos ein Labyrinth, wo dieser das stierköpfige Ungeheuer Minotauros gefangen hält. Der langen Verbannung und der tyran­nis­chen Art des Minos überdrüssig, beschließt Dädalos, gemeinsam mit seinem Sohn Ikaros der Insel auf dem Luftweg zu entfliehen. Dafür konstruiert er zwei Paar Schwingen – aus Vogelfedern bestehend, die mit Wachs zusam­mengek­lebt sind. Vor dem Flug warnt er seinen Sohn, nicht zu niedrig und nicht zu hoch zu fliegen. Kurz vor der Ankunft in Griechen­land fliegt Ikaros im Übermut zu hoch, in der Sonne schmilzt das Wachs, die Schwingen lösen sich auf und Ikaros stürzt ins Meer. Damit ist der Mord an Talos gerächt. Dädalos geht nach Sizilien und wird zum Begründer der dort hochen­twick­el­ten Baukunst und des Kun­sthandw­erks.

Die Argonauten und das Goldene Vlies

Als Kind wird der Königssohn Iason durch seinen Onkel Pelias seines Thronerbes von Iolkos in Thessalien beraubt. 20 Jahre lang wächst er in der Obhut des Zentauren Chiron zu einem bestens erzogenen und strahlend schönen Helden heran. Dann verlangt Iason in Iolkos seinen Thron zurück. Pelias erklärt sich zum Verzicht bereit, falls Iason imstande wäre, in Kolchis das Vlies des goldenen Widders vom dortigen König Aietes zu erlangen und zurückzubringen. Das in ganz Griechen­land berühmte Vlies wird in Kolchis in einem heiligen Hain von einem niemals schlafenden Drachen bewacht. Pelias ist überzeugt, dass Iason angesichts der enormen Schwierigkeiten, das Vlies zu gewinnen, scheitern wird. Die berühmtesten Helden Griechen­lands beteiligen sich an dem Unternehmen: darunter Argos, der mit der Argo das erste Schiff baut, auf welchem sich Griechen auf das offene Meer wagen. Auf dem Weg nach Kolchis müssen die Argonauten zahllose Abenteuer bestehen. Als Iason im Palast des Aietes erscheint, verliebt sich dessen Tochter Medea in ihn. Was das Vlies betrifft, willigt Aietes in eine gütliche Herausgabe ein. Er hat jedoch eine Bedingung: Iason muss erst eine Mut- und Kraftprobe mit Feuer speienden Stieren bestehen. Bei einer nächtlichen Zusam­menkunft verspricht Iason der schönen Medea, sie nach Griechen­land mitzunehmen. Als Priesterin verfügt Medea über allerlei Zauberkräfte. Dank einer Wundersalbe, die Iason un­ver­wund­bar macht, zähmt er die Stiere, und nach Medeas Einschläferung des Drachen gelingt die Eroberung des Goldenen Vlieses. Iason und Medea fahren sofort auf der Argo gemeinsam ab.

„Die Jungfrau Medea ließ ihre Augen durch den Schleier nach ihm schweifen, und ihr Sinn folgte seinen Fußstapfen wie ein Traum.“ (über Iason, S. 96)

Umgehend nehmen die Kolcher unter dem Befehl von Medeas Bruder Absyrtos die Verfolgung auf und überholen das Schiff. Auf Medeas Rat locken die Griechen Absyrtos in einen Hinterhalt, wo er von Iason ermordet wird; so können die Griechen der kolchischen Übermacht entkommen. Die Argonauten setzen ihre Reise fort, die erneut mit unzähligen Abenteuern verbunden ist und sehr lange währt. Iason und Medea lassen sich schließlich in Korinth nieder und bekommen drei Söhne. Nach zehn Jahren Ehe will Iason die junge ko­rinthis­che Königstochter Glauke heiraten, doch Medea willigt nicht in eine Trennung ein. Sie vergiftet Glauke, deren Vater stirbt auch an Medeas Gift und sie ersticht ihre und Iasons Söhne. Medea entzieht sich Iasons Vergeltung durch die Flucht auf einem Drachen­wa­gen. Iason stürzt sich in sein eigenes Schwert.

Die Taten von Herakles

Herakles, der Sohn des Zeus und der Perseus-Enke­lin Alkmene, zeigt schon als Baby er­staunliche Kräfte. Alkmene setzt ihren neuge­bore­nen Sohn aus Furcht vor dem Hass der Zeus-Gemahlin Hera aus. Doch aus­gerech­net Hera und Athene finden das Kind. Das Findelkind beißt der Göttermutter beim Säugen zu fest in die Brust, sodass sie es losreißt. Doch Herakles hat schon so viel Götter­mut­ter­milch aufgenommen, dass er später unsterblich werden kann. Nicht wissend, um wen es sich handelt, gibt Athene den Jungen bei Alkmene zur Pflege ab. Erst jetzt bemerkt Hera, wer der Junge ist, und schickt zwei Schlangen in die Wiege. Doch das Baby erwürgt sie statt sie ihn. Herakles erhält die sorgfältigste Erziehung von den besten Lehrern und ist mit 18 Jahren der schönste und stärkste Mann Griechen­lands. Eines Tages verheißen ihm zwei ganz un­ter­schiedliche Frauen zwei ver­schiedene Lebenswege: Die üppige und aufreizend gekleidete Glückseligkeit verheißt leichten Genuss aller angenehmen Dinge. Die schlicht gekleidete Tugend mahnt ihn, dass die Götter nichts ohne Mühe und Arbeit gewähren und die Liebe der Freunde und die Ehre seitens des Staates nur aus dem Dienst an der Gemein­schaft entspringen. Herakles beschließt, ein Wohltäter zu werden.

„Auf ihre Ermahnung zog nun Iason das Vlies von der Eiche, während das Mädchen fortwährend den Kopf des Drachen mit dem Zauberöl besprengte.“ (über Medea, S. 111)

Um dieses Ziel zu erreichen, vollbringt er eine große Zahl von Heldentaten. Eigentlich war Herakles von Zeus zum Herrscher über alle Nachkommen des Perseus bestimmt, aber durch eine List der Hera hat nun König Eurystheus von Mykene diese Stellung inne. Herakles muss für Eurystheus zehn Arbeiten erledigen. Wenn sie ihm gelingen, wird ihm endgültig die Un­sterblichkeit zuteil. Eurystheus wählt jede der Arbeiten so aus, dass ihre Erfüllung eigentlich unmöglich ist. So tötet Herakles den Nemeischen Löwen, dessen Fell für Speer und Schwert un­ver­wund­bar ist, indem er ihn erwürgt. Das für Waffen un­durch­dringliche Löwenfell trägt Herakles fortan stets als Schutz­man­tel bei sich. Dann tötet er das neunköpfige Sump­funge­heuer Hydra, dessen Köpfe immer doppelt nachwachsen, wenn einer abgeschla­gen ist. Aus dem Hydra-Blut gewinnt er ein Pfeilgift, dem später viele Gegner erliegen. Zu seinen Taten zählt auch das Reinigen der Rinderställe des Augias an einem einzigen Tag durch das Umleiten zweier Flüsse. Da Eurystheus zwei der Arbeiten nicht gelten lässt, muss Herakles noch die goldenen Äpfel aus dem Garten der Hesperiden pflücken. Dazu übernimmt Herakles für kurze Zeit die Last des Himmelsgewölbes von Atlas, da nur dieser in der Lage ist, einen Drachen, der den Garten bewacht, einzuschläfern. Zuletzt muss Herakles den dreiköpfigen Höllenhund Kerberos bändigen und aus der Unterwelt holen. Als auch das gelingt, gibt sich Eurystheus geschlagen. Nach einem langen Leben mit vielen weiteren Heldentaten wird Herakles in den Olymp aufgenommen, wo sich Hera mit ihm versöhnt.

Theseus, Held der Athener

Der Königssohn Theseus wächst nach einem Orakel­spruch nicht bei seinem Vater Aigeus in Athen, sondern bei seiner Mutter und deren Vater im kleinen Königreich Trözen auf. Als Siebenjähriger hat er einen Besuch seines entfernten Verwandten Herakles miterlebt. Schon als junger Mann besiegt Theseus auf dem Weg nach Athen nach dem Vorbild von Herakles Wegelagerer und Ungeheuer. Als attischer Thronerbe anerkannt, meldet er sich freiwillig, als Athen zum dritten Mal sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tribut zu König Minos nach Kreta schicken muss. Sie werden dort ins Labyrinth zu dem Ungeheuer Minotauros gesperrt. Auf Kreta verliebt sich Minos’ Tochter Ariadne in den schönen, jungen Helden und gibt ihm ein Fadenknäuel und ein Schwert mit. Mithilfe des Schwerts tötet Theseus den Minotauros und mithilfe des Fadens findet er den Ausgang aus dem Labyrinth. Auf der Rückfahrt nimmt Theseus auch Ariadne mit, doch er muss sie auf Anweisung des Gottes Bakchos auf der Insel Naxos zurücklassen. Nach dem Tod seines Vaters sammelt Theseus als neuer König die verstreut in Attika lebenden Einwohner, fasst sie in der Stadt­ge­meinde zusammen und bildet damit ihren gemein­schaftlichen Staat. Er verzichtet freiwillig auf die meisten seiner königlichen Vorrechte zugunsten einer freien Verfassung und Volksver­samm­lung und räumt allen Mitbürgern gleiche Rechte ein.

Ödipus, der tragische Held

Dem the­ban­is­chen König Laïos und seiner Frau Iokaste, die lange kinderlos geblieben sind, wird vom delphischen Orakel ein Sohn verhießen, aber gle­ichzeitig wird prophezeit, dass dieser seinen Vater töten werde. Dadurch soll eine alte Schuld gesühnt werden, die Laïos in seiner Jugend auf sich geladen hat. Um das zu verhindern, lassen Laïos und Iokaste das Kind gleich nach dessen Geburt mit durch­stoch­enen Füßen im Gebirge aussetzen. Doch ein Hirte bringt den Jungen zum kinderlosen Königspaar von Korinth, wo er unter dem Namen Ödipus (Schwellfuß) wie ein Königssohn aufwächst. Als Ödipus erwachsen ist, verkündet ihm ein Orakel, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten. Um seinen liebevollen ko­rinthis­chen Pflegeel­tern nichts zuleide zu tun, zieht Ödipus von Delphi gleich weiter nach Theben. Unterwegs wird er durch ein her­an­na­hen­des Wa­genges­pann vom Weg abgedrängt und erschlägt im Zorn den Wa­genbe­sitzer und zwei Begleiter; ein dritter kann entkommen. Der Wa­genbe­sitzer war sein leiblicher Vater Laïos auf dem Weg nach Delphi.

„Da gab er die erste Probe seiner Götterkraft: Er ergriff mit jeder Hand eine Schlange am Genick und erstickte die beiden mit einem einzigen Druck.“ (über Herakles, S. 152)

In Theben regiert nun Königin Iokaste mit ihrem Bruder Kreon. Die Stadt wird von der Sphinx, einem Ungeheuer mit Löwenleib und Mädchenkopf, bedroht. Wer die Rätsel der Sphinx nicht lösen kann, den verschlingt sie. Ödipus bietet an, sich der Sphinx zu stellen. Er löst ihr Rätsel und sie stürzt sich von ihrem Felsen. Damit wird er zum Retter und König Thebens und heiratet Iokaste. Sie bekommen zwei Söhne und zwei Töchter. Lange danach bricht eine Pest in Theben aus, dem Orakel zufolge wegen des ungesühnten Mordes an Laïos. Nun soll der greise Seher Tiresias in Ödipus’ Auftrag den unbekannten Mörder entdecken. Tiresias erkennt den Vatermörder; als Zeuge wird der beim Laïos-Mord entkommene Begleiter her­beige­holt. Daraufhin erhängt sich Iokaste, Ödipus blendet sich und geht, nur begleitet von seiner Tochter Antigone, in die Verbannung nach Kolonos. Theben bleibt unter der Herrschaft von Kreon und von Ödipus’ Zwillingssöhnen Eteokles und Polyneikes; auch die jüngere Tochter Ismene bleibt dort. Wegen eines Thron­stre­ites zwischen Ödipus’ Söhnen wollen die Thebaner ihren alten König zurückholen. Ödipus verweigert sich diesem Ansinnen und ver­schwindet schließlich geisterhaft in einer Erdschlucht in der Nähe von Kolonos, die als Eingang zur Unterwelt gilt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die ursprüngliche Ausgabe der Sagen des klassischen Altertums bestand aus drei Bänden; dem entspricht die Aufteilung der vor­liegen­den Ausgabe in drei Teile. Gustav Schwab bringt die bekannten Sagenkreise in eine Art chro­nol­o­gis­che Reihenfolge – von der Erschaffung der Welt und der Menschen über diverse Heroensagen bis zum Tro­janis­chen Krieg und seinen Folgen – und gibt ihnen damit eine Kontinuität und einen inneren Zusam­men­hang, der ursprünglich nicht vorhanden war. Einen Großteil des Textes bilden die Sagen um den Tro­janis­chen Krieg, also die Inhalte der Ilias und der Odyssee von Homer sowie der Aeneis von Vergil, daneben gibt es mehrere weitere Sagenkreise, etwa um die Argonauten, Herakles, Theseus, Ödipus oder die Sieben gegen Theben. Schwabs Wiedergabe ist eine Nacherzählung in Prosa, in bewusster Abweichung von der gebundenen Sprache der Vorlagen. Um die antiken Stoffe jungen Menschen näherzubrin­gen, musste Schwab so verfahren. Heute wirkt seine an der Aus­druck­sweise des 19. Jahrhun­derts orientierte Sprache etwas antiquiert, zumal sich Schwab schon zu seiner Zeit bewusst altertümelnd ausdrückte. Das erleichtert es aber dem modernen Leser umso mehr, die historische Distanz auch in der Prosasprache nachzuempfinden.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die Legenden von Kadmos, Theseus und in gewisser Weise auch von Europa und Dädalos sind typische Gründersagen: Heroische, fast übermen­schliche Gestalten begründen einen Ort, einen Stamm oder ein Volk. Die Sage liefert einen Gründungsmythos, wie dieser Anfang von­stat­teng­ing. Solche Gründungssagen gibt es überall; die berühmteste Ortsgründungssage ist die von Romulus und Remus.
  • Einige Helden sind stark mit den jeweiligen Land­schaften verbunden und galten dort als Iden­ti­fika­tions­fig­uren: Kadmos für Theben, Theseus für Athen, Iason für Thessalien, Herakles in erster Linie für den Peloponnes, obwohl er auch als all­griechis­cher Held bezeichnet werden kann.
  • Perseus, Iason und Ödipus sind Thronerben, deren Thro­nanspruch erst nach einer Bewährung wirksam wird. Dieses Motiv der persönlichen Reifung, des Erwach­sen­wer­dens und der Übernahme von Ve­r­ant­wor­tung ist unter anderem auch ein ver­bre­it­etes Märchenmotiv.
  • Das Motiv des vo­raus­bes­timmten Schicksals kommt häufig in den Sagen vor: Die Menschen können sich dem Willen der Götter nicht entziehen. Das käme einem Verstoß gegen die göttliche Ordnung und damit gegen die Recht­sor­d­nung gleich. Selbst Zeus kann einen einmal geäußerten Willen, also einmal gesetztes Recht, nicht rückgängig machen.
  • Die Sagen zeigen auch immer wieder, dass das Gebot der Vergeltung äußersten Frevels auch für die Götter gilt. Sie können keine Ausnahme zulassen, denn auch das würde die göttliche Ordnung infrage stellen.
  • Immer wieder werden Orakel und prophetis­che Seher befragt, um den Götterwillen zu erforschen. Das entspricht völlig dem Alltag der Antike, wo Wahrsagerei, Vogelschau und dergleichen bei Ver­tragsab­schlüssen, Heirat und Staat­sak­tio­nen völlig selbstverständlich waren. In den antiken Religionen, die keine ge­of­fen­barten heiligen Bücher kannten, waren Orakel der un­mit­tel­barste Bezug zur tran­szen­den­ten göttlichen Welt.

His­torischer Hintergrund

Lit­er­arische An­tike-Rezep­tion in der Neuzeit

Gustav Schwabs Sammlung antiker Sagen ist ein Meilenstein der populären lit­er­arischen Griechen­rezep­tion in der Neuzeit. Das Mittelalter in­ter­essierte sich nicht für die Antike: Sie galt als heidnische, vorchristliche, unerlöste Zeit. Selbst eine Dichtergestalt wie Homer war weitgehend unbekannt. Mit­te­lal­ter­liche Mönche oder Gelehrte hatten überwiegend kein Interesse, die Ilias oder die Odyssee mit all ihren Götzen, falschen Zauberern und voll von Aberglauben zu lesen. Außerdem konnten die meisten Westeuropäer kein Griechisch. Im mit­te­lal­ter­lichen Abendland war eigentlich nur die Sage vom Untergang Trojas bekannt, weil sie den Aus­gangspunkt bildet für eines der be­deu­tend­sten lit­er­arischen Werke des klassischen Latein: Vergils Aeneis. Von den griechis­chen Heroen war im Mittelalter nur Herkules (Herakles) bekannt.

Die Wieder­ent­deck­ung der Kunst und Literatur der Antike, ins­beson­dere der griechis­chen, war das, was die Epoche der Renaissance ausmacht. Damals wurden die Sagenstoffe der Antike in Europa allmählich bekannt und fanden Eingang in das europäische Bewusstsein. Am deut­lich­sten wird dies in den vielfältigen Darstel­lun­gen antiker Inhalte in der Re­nais­sance- und Barock­malerei. Man in­ter­essierte sich zwar für die mythol­o­gis­chen Inhalte der Sagen, schenkte aber der Sagen­lit­er­atur, den überliefer­ten Texten, wenig Beachtung; das gilt selbst für Homer. Im Barock galten die Sagen als derbe, simple, urwüchsige Volk­slit­er­atur, nicht artifiziell genug, um als echte Literatur angesehen zu werden.

Die Romantik brachte hier eine lit­er­arische Neube­w­er­tung. Im deutschsprachi­gen Raum fanden in erster Linie Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang von Goethe in der volksnahen Poesie der Ver­gan­gen­heit In­spi­ra­tio­nen für eine neue, lebendige Dichtkunst. Damit richteten sie sich gegen die verkünstelte, akademisch regelhafte Dichtkunst ihrer Zeit. Sie bezogen sich in erster Linie auf Homer, den sie im Original lasen. Die erste für das Deutsche bahn­brechende Homerübersetzung lieferte Johann Heinrich Voß 1781. Für die damals beginnende Aufgeschlossen­heit der Literaten und Gelehrten für die Volk­slit­er­atur steht im deutschsprachi­gen Raum auch das Wirken der Brüder Wilhelm und Jacob Grimm mit ihren Sammlungen nicht nur von Märchen, sondern auch von Sagen.

Entstehung

Der Gym­nasial­pro­fes­sor Gustav Schwab hatte bereits vor den Sagen des klassischen Altertums ein­heimis­che Sagen bearbeitet und an einer Ausgabe von Überset­zun­gen antiker Autoren mitgewirkt. Die primäre Zielgruppe seiner eigenen Sagen­samm­lung waren eindeutig seine Gym­nasialschüler, denen er diese Stoffe näherbringen wollte. Er hielt sich eng an die Vor­la­gen­texte; besonders grausame und erotische Passagen ließ er aber weg. Die Sagen der Antike sind in ihren ver­schiede­nen Fassungen und Überliefer­un­gen viel heterogener, als dies bei Schwab erscheint. Das gilt vor allem für diejenigen Sagenkreise, die nicht aus einer Feder, also von Homer oder Vergil stammen. Da Sagen jahrhun­derte­lang nur mündlich überliefert wurden, existieren typ­is­cher­weise viele abweichende Varianten. Beim Arg­onaut­en­zug, bei Herakles und Theseus und vielen anderen Sagen hat Schwab die ver­schiede­nen Quel­len­texte und Vorlagen geschickt kombiniert und dadurch ein viel ein­heitlicheres erzählerisches Bild geschaffen, als es der Überliefer­ung entspricht. Schwabs Fassung sollte ausdrücklich ein Leseformat sein, keine quel­lenkri­tis­che Ausgabe.

Wirkungs­geschichte

Die Epoche der Renaissance steht für eine geistige Wiederge­burt ins­beson­dere im Sinne der Wieder­ent­deck­ung der Antike. Im 15. Jahrhundert wird die alt­griechis­che Kultur wieder als geradezu unerschöpfliches Reservoir an Mustern und Motiven genutzt. Das gilt nicht nur für philosophis­che und lit­er­arische Texte im engeren Sinn, sondern sehr stark auch für mythol­o­gis­che Inhalte, die in zahllosen Sagen überliefert sind. Die Kenntnis des erzählerischen Zusam­men­hangs gehört daher zu den Grundlagen der europäischen Kultur – ob man nun eine Statue wegen ihres Löwenfells als Herkules iden­ti­fiziert, ein Gemälde betrachtet, auf dem eine junge Frau auf einem Stier über das Meer reitet, die Oper Ariadne auf Naxos von Richard Strauss hört oder eine Redewendung wie die der „Büchse der Pandora“ benutzt.

Gustav Schwabs Buch verdanken deutschsprachige Leser seit Gen­er­a­tio­nen die genauere Kenntnis dieser Zusammenhänge. Das entspricht ganz den Intentionen Schwabs und macht den lang anhaltenden Erfolg seiner Sagen­samm­lung aus, die ein wahrer Ju­gend­buchk­las­siker geworden ist. Weil es bis heute kein ver­gle­ich­bares und vor allem kein er­fol­gre­icheres Werk gibt, lesen die meisten Deutschsprachi­gen die antiken Sagen auf dem ed­i­torischen Stand von 1840, als Schwabs Buch erschien.

Über den Autor

Gustav Schwab wird am 19. Juni 1792 in Stuttgart geboren. Er stammt aus einer angesehenen Gelehrten- und Beamten­fam­i­lie. Sein Vater ist Professor an der her­zoglichen Akademie Hohe Karlsschule. Der Bildhauer Johann Heinrich Dannecker, ein Onkel der Mutter, übt früh einen prägenden Einfluss auf den Jungen aus. Gustav Schwab wächst entsprechend diesem familiären Umfeld in bildungsbürgerlichen Kreisen auf und studiert wie sein Vater Philosophie und Theologie in Tübingen an der Universität und am Evan­ge­lis­chen Stift. 1817 heiratet Schwab Sophie Gmelin, die aus der gleichen bürgerlichen Schicht stammt. Neben seinen beruflichen Aufgaben als Gym­nasiallehrer in Stuttgart und später als Pfarrer in Gomaringen bei Tübingen ist Schwab ab 1825 pub­lizis­tisch tätig, zunächst für eine Zeitschrift des Brock­haus-Ver­lags in Leipzig, als Mither­aus­ge­ber der Überset­zun­gen griechis­cher und römischer Autoren im Met­zler-Ver­lag und später als Redakteur für eine lit­er­arisch-un­ter­hal­tende Zeitschrift des Cotta-Ver­lages in Stuttgart. Schon während des Studiums ist Schwab, der selbst Gedichte verfasst, mit schwäbischen Dichtern befreundet und fördert als ein­flussre­icher Redakteur einen ganzen Kreis junger Autoren wie Wilhelm Hauff und Eduard Mörike. Schwab ist berühmt für seine Gesel­ligkeit und seine Gast­fre­und­schaft. Er reist und wandert sehr viel und verfasst darüber auch Land­schafts- und Reisebeschrei­bun­gen. In Gomaringen entstehen 1838 bis 1840 die Sagen des klassischen Altertums als Ergebnis einer 20-jährigen Beschäftigung mit den lit­er­arischen Stoffen. 1841 kehrt Gustav Schwab nach Stuttgart zurück, übernimmt ein wichtiges Stadtp­far­ramt und wird Leiter der höheren Schulen in Württemberg. 1847 erhält er die Ehren­dok­torwürde der Universität Tübingen. Schwab erliegt am 4. November 1850 seinem zweiten schweren Herzinfarkt.