Zettel’s Traum

Buch Zettel’s Traum

Stuttgart, 1970
Diese Ausgabe: Suhrkamp,


Worum es geht

Nichts fĂŒr Weichlinge

„Ein Roman wie ein Gebirgs­mas­siv“, schrieb Lit­er­aturkri­tiker Denis Scheck ĂŒber Zettel’s Traum. Recht hat er. Und wie jede ordentliche Bergex­pe­di­tion will auch diese gut vorbereitet sein, denn die VerhĂ€ltnisse auf Arno Schmidts Überberg sind alles andere als gewöhnlich: BĂ€ume werden zu erigierten Penissen, WasserfĂ€lle zu UrinergĂŒssen und Bergkuppen zu RiesenbrĂŒsten. Durch diese verhexte Landschaft streifen ein kan­ni­balis­cher Drache, ein rammelnder Trinkertrot­tel und eine scharfe Fee, die sich aus unerfind­lichen GrĂŒnden in einen impotenten Dichter­priester verliebt. Der Leser indes stolpert bei seiner Wanderung ĂŒber sperrige Satzklötze, verirrt sich in einem Labyrinth aus lit­er­arischen Querver­weisen und kĂ€mpft sich mĂŒhsam durch das unwegsame GelĂ€nde eines vollkommen fremden Schrift­bilds. Weibliche Leser werden oft genug die Brocken hinschmeißen wollen, wenn sie zum wieder­holten Mal auf eine HĂŒtte mit dem Schild „Frauen mĂŒssen draußen bleiben“ treffen. Knapp 400 Menschen hielt Schmidt fĂŒr fĂ€hig, sein Opus magnum zu bewĂ€ltigen. Wenn endlich der Gipfel in Sicht ist und nur noch wenige Schritte bis zum Panoram­ablick fehlen, möchte man dem Autor am liebsten eine Nase drehen.

Take-aways

  • Zettel’s Traum von Arno Schmidt ist ein viel bestaunter, aber wenig gelesener Roman der neueren deutschen Literatur.
  • Inhalt: An einem Sommertag im Jahr 1968 hat der Schrift­steller Daniel Pa­gen­stecher 24 Stunden lang Besuch von einem be­fre­un­de­ten Überset­zere­hep­aar und deren Tochter Franziska. WĂ€hrend sie sich ĂŒber Literatur und Sex unterhalten, ver­schwim­men alltĂ€gliche Ver­rich­tun­gen mit einer erotischen Traumwelt. Der beinahe impotente Pa­gen­stecher widersteht den VerfĂŒhrungsver­suchen Franziskas und finanziert stattdessen ihr Abitur.
  • Am Beispiel von Edgar Allan Poe und unter Berufung auf Sigmund Freud entwickelte Schmidt eine neue Lit­er­atur­the­o­rie.
  • Ihr zufolge kommen unterdrĂŒckte Triebe ĂŒber klangĂ€hnliche „Etyms“ (z. B. „whole“ = „hole“) sprachlich zum Ausdruck.
  • Ein bewusster und wortwitziger Einsatz der Etyms kann gemĂ€ĂŸ Schmidt hochbe­gabten, impotenten MĂ€nnern ĂŒber 50 gelingen.
  • Schmidt wollte sich u. a. an James Joyce’ SpĂ€twerk Finnegans Wake messen.
  • Er schrieb erst 120 000 Notizzettel voll und fĂŒgte sie dann unter völliger Selb­stauf­gabe zu seinem Mammutwerk zusammen.
  • Der Titel ist nicht nur eine Anlehnung an dieses Vorgehen, sondern auch an eine Figur aus Shake­speares Som­mer­nacht­straum.
  • Der Roman erschien 1970 zunĂ€chst als Faksimile und erst 40 Jahre spĂ€ter als gesetztes Buch.
  • Zitat: „Ich halz nich mĂšre aus! : Euer corruptes Gephasl. : Der Eene denkt bloß ans Saufm! : der Andre sieht in jedm GrasbĂŒschl n Weip!“ (Wilma)
 

Zusammenfassung

Das Schauerfeld oder die Sprache von Tsalal

An einem Julitag 1968 im Heidedörfchen Ödingen: Der alle­in­ste­hende Schrift­steller und Übersetzer Daniel Pa­gen­stecher, genannt DĂ€n, hat Besuch von seinen Ju­gend­fre­un­den, den Übersetzern Paul und Wilma Jacobi, und deren 16-jĂ€hriger Tochter Franziska. Morgens um halb vier schlĂŒpfen sie durch einen Stachel­drahtzaun und machen einen Spaziergang. Unter Wilmas missfĂ€lligen Blicken trinkt Paul In­g­w­er­schnaps, aber DĂ€n nimmt ihn in Schutz: „Gehirntiere“ brĂ€uchten nun mal Alkohol zum Schreiben. DĂ€n lĂ€stert ĂŒber Dichter­priester wie Edgar Allan Poe, die alles verklĂ€ren, aber nichts ordentlich beschreiben. Da Paul und Wilma an einer NeuĂŒbersetzung von Poes Gesamtwerk arbeiten, möchten sie von ihm etwas Neues, leicht VerkĂ€ufliches ĂŒber den Dichter hören. DĂ€n erklĂ€rt seine Idee des Etyms: Der Klang eines Wortes verrate oft mehr ĂŒber die Intention des Autors als seine Bedeutung. Wenn ein EnglĂ€nder vom Ganzen („whole“) spreche, meine sein sprach­liches Unbewusstes eigentlich das Loch („hole“). Wilma will von solchen Schweinereien nichts wissen. Paul ist da schon aufgeschlossener.

„D(ichter)=P(riester). Darfst auch an ‚DePe‘ denken; oder ‚Displaced Persons‘ : ‚Deplacierte Persönlichkeiten‘.“ (DĂ€n, S. 22)

WĂ€hrend die Damen im Bach planschen, fĂŒhrt DĂ€n seine Theorie weiter aus: Poes immer wiederkehrende „crystal springs“ stĂŒnden stel­lvertre­tend fĂŒr Damenurin („cristae“ = lat. „Schamlippen“) – und das erklĂ€re auch, weshalb sich das Christentum (= „Scham­lip­pen­di­enst“) unter den Römern so schnell aus­ge­bre­itet habe. Die MĂ€nner lachen und schauen den Frauen durch die BĂŒsche beim Umziehen zu. DĂ€n deutet an, dass seine Potenz nachlasse. Sein Trost: die so genannte vierte Instanz, die es in­tel­li­gen­ten Köpfen ĂŒber 50 erlaube, ihre sterbende SexualitĂ€t mit erotischen, dop­peldeuti­gen Wortspielen zu kom­pen­sieren. SpĂ€ter verwandeln sich die vier in Pferde: Die alte Stute erklĂ€rt ihrem jungen Fohlen höhnisch, warum die beiden Hengste nichts mehr taugen. Da gĂ€be es nur zweierlei: kastrieren und als Arbeitstier verheizen oder ab zum Schlachter.

In Gesellschaft von BĂ€umen

DĂ€n und seine Besucher besteigen einen Jagdstand und bestaunen das Panorama. DĂ€n meint, man dĂŒrfe den Einfluss von Bildern auf die Schrift­stellerei nicht unterschĂ€tzen. So schrieb Poe z. B. ĂŒber die Aussicht vom Ätna, obwohl er nie in Europa war – wahrschein­lich ließ er sich von gemalten Land­schaftspanora­men inspirieren. Franziska flirtet unverhohlen mit DĂ€n, und Wilma schnauzt sie an, sie solle sich anstĂ€ndig hinsetzen. Ein Blick auf DĂ€ns tote Hose beruhigt sie. Franziska erinnert ihn an die zwei Monate, die sie als AchtjĂ€hrige bei ihm verbracht hat, wĂ€hrend ihre Eltern auf Reisen waren; daran, wie sie Fieber bekam und mit ihm in einem Bett schlief – fĂŒr sie die schönste Zeit ihres Lebens. Beim Pilzesuchen befingern und belecken Wilma und Franziska staunend die „stattlichen“ und „geschwol­lenen“ StĂ€ngel der in Pilze ver­wan­del­ten MĂ€nner und ziehen ihnen genĂŒsslich die „alte und faltige Oberhaut“ ab. Paul fragt sich anschließend, warum es auch unter MĂ€nnern pas­sion­ierte Pilzesucher gibt. Plötzlich beschimpft Wilma Paul als „Mörder“. Er hat ihr von einem Traum erzĂ€hlt, in dem er sie erst ins Wasser stieß und dann – er angezogen, sie nackt auf ihm – mit seinem GĂŒrtel schlug. Um seinen Freund zu retten, in­ter­pretiert DĂ€n die TrĂ€ume freudi­an­isch als Zeichen von Pauls Begehren; ja sogar dafĂŒr, dass er ein Kind mit Wilma zeugen wolle.

DĂ€n’s Cottage. (Ein Diorama)

Erschöpft erreichen sie DĂ€ns beschei­denes Holzhaus und frĂŒhstĂŒcken. Franziska trĂ€llert Op­eretten­lieder von Jacques Offenbach. Sie spazieren durch den Garten. Wilma wundert sich ĂŒber DĂ€ns zurĂŒckgezogenes Leben. Ob er als ehemaliger Kriegs­ge­fan­gener keinen „Pal­isadenkom­plex“ bekomme? Sie bestaunen den „Blum’in’Cul“ („cul“ = frz. „Hintern“), prĂ€chtige Rhabar­ber-Stan­gen und frĂŒhreife Äpfel – Obst und GemĂŒse als Sinnbilder sekundĂ€rer Geschlecht­steile. Danach essen sie zu Mittag, hören Nachrichten und diskutieren ĂŒber Politik. Wilma beschimpft ihre Tochter un­un­ter­brochen und berichtet entrĂŒstet, wie diese neulich mit ihren Freundinnen eine Flasche Sekt getrunken und danach einen Furzwet­tbe­werb in ihrem Zimmer ve­r­anstal­tet habe. Wie im Puff habe es da gerochen! DĂ€n erkundigt sich nach Franziskas Schulleis­tun­gen. Die seien in Ordnung, aber Abitur machen? Ihre Eltern drucksen verlegen herum, dann rĂŒckt Wilma damit heraus: Studieren könne man bei ihrer störrischen Art eh vergessen. Außerdem hĂ€tten sie Geldsorgen ... kurzum: Franziska soll eine Lehre in einem SchuhgeschĂ€ft machen. DĂ€n ist entsetzt, vor allem als Paul andeutet, dass der Besitzer des GeschĂ€fts sie als Erstes „pimpern“ werde. Und wenn schon, meint Wilma. SpĂ€ter trifft DĂ€n im Haus auf die verweinte Franziska. Sie sagt heulend, ihre Eltern wollten sie zur Halbhure machen, und fleht ihn an, bei ihm bleiben zu dĂŒrfen. DĂ€n versucht ihr das auszureden: die Einsamkeit, sein Alter, die beginnende Impotenz. Jemand ruft „Zeppelin!“, und sie rennen nach draußen.

Die Geste des Großen Pun

Es folgt eine Diskussion ĂŒber die erotischen Formen diverser Luftschiffe und Ballons als Chiffren fĂŒr BrĂŒste und das weibliche GesĂ€ĂŸ. DĂ€n und Paul machen einen Spaziergang zum Badesee und treffen auf eine geheimnisvolle Gesellschaft, die von einem Fechter angefĂŒhrt wird. Paul lĂ€sst sich auf ein Duell ein, wobei seinem Gegner glatt das Florett entzweib­richt. Der Mann bietet ihnen zu trinken an. Ein Zaubertrank? Jedenfalls verwandeln sie sich in Matrosen und treffen auf Wilma in Gestalt einer Wahrsagerin. DĂ€n gegenĂŒber spricht sie mit Blick auf die Leis­tenge­gend die Verheißung aus: „Nevermore!“ Dann hören sie weiblichen Gesang in einem Schiff. Es sind nackte Piratinnen, unter ihnen auch Franziskas Freundin Christa, die es schon als NeunjĂ€hrige mit Paul getrieben hat. Sie verwandeln sich in Meer­jungfrauen, Meergötter und Meere­sunge­heuer und sprechen ĂŒber Conchology, ein wis­senschaftliches Buch ĂŒber Muscheln, das Poe editiert und unter seinem Namen neu her­aus­gegeben hat. Die MĂ€nner schlĂŒpfen in die Rollen der Muschelforscher Dr. Powell und Daniel Pagane Stecheros. Powell findet eine gigantische Muschel, die sich als Wilma entpuppt. Er entnimmt ihr die große „UrinPerle“, Sperrholz und viel stinkenden Schleim. Plötzlich verwandelt sich die Traum­land­schaft wieder. Nun stehen sie an einem Teich im nord­deutschen Flachland und behandeln als Ärzte Dr. Juckobi und Dr. WĂątson armselige Gestalten, die halb besin­nungs­los mit ge­quetschten Sex­u­alor­ga­nen auf dem Boden liegen. DĂ€n und Paul gehen zurĂŒck zum Haus. DĂ€n hat eine Vision vom großen Hirtengott Pan; dann erwacht er zitternd.

Franziska=Nameh//

//Wieder wird gegessen, Wilma hat Heißhunger auf Senfgurken. Allein mit DĂ€n in dessen Ar­beit­sz­im­mer bejammert Paul sein Los mit dem Ehedrachen. BĂŒcher seien ihm lieber als Frau und Kind; sie seien das, was vom Menschen ĂŒbrig bleibe, „verholzte MĂ€nnerstrĂŒnke“ quasi. Und nennt der Buch­lieb­haber sie nicht seine „SchĂ€tze“, riecht verliebt an ihren Seiten und steckt lĂŒstern seine Finger hinein? Die Eheleute machen auf dem Traktor des Bauern Stephan einen Ausflug. DĂ€n und Franziska wecken turtelnd Gurken ein. Sie malen sich aus, er sei Apotheker und sie eine liebestolle Jungfer, die von ihm einen potenten Liebestrank ersteht. Dann hilft sie ihm, Dias zu rahmen und alte BriefumschlĂ€ge zu recyceln, indem sie daraus Notizzettel schneidet. Immer wieder kommen Christas Äußerungen zum Thema Sex zur Sprache. Schließlich erzĂ€hlt DĂ€n das Leben der „Selijn Franziska“ wie eine Heili­gengeschichte: Sie weiht ihr Leben dem Propheten Daniel und wird dafĂŒr von ihren Eltern verfolgt. Dann wird ihm schwarz vor Augen – eine Herzattacke. Als er wieder zu sich kommt, beschließt er, Paul Geld anzubieten, um so Franziska vor dem SchuhgeschĂ€ft zu bewahren. Da ertönt Trak­torenknat­tern. Wilma rauscht mit rotem Kopf vorbei, offenbar hochgradig erregt. Kein Wunder, doziert DĂ€n: Auch die hiesigen Witwen und Backfische wĂŒrden sich stĂ€ndig auf dem Traktor einen „abrĂŒttln“.

: ‚Rohrfrei!‘

Stephan und dessen Bruder machen sich daran, DĂ€ns Klogrube auszupumpen. Angewidert und fasziniert schauen sie zu, wie die ĂŒbel riechende Masse mit darin schwim­menden Damenbinden und einem Kondom in die Grenzfurche zwischen zwei Äckern geleitet wird. Als Franziska das Kondom sieht, wird sie grĂŒn vor Eifersucht und möchte wissen, von wem es stammt. DĂ€n gesteht verlegen, dass er alle paar Monate eines benutze, um die BettwĂ€sche nicht schmutzig zu machen. Die Operation Klogrube inspiriert zu weiteren Gedanken­spielchen: DĂ€n hĂ€lt Poe fĂŒr einen impotenten FĂ€kalfetis­chis­ten und Klo-Voyeur mit Hang zur Selb­st­be­friedi­gung. SpĂ€ter sieht DĂ€n Franziska durch die halb geöffnete BadezimmertĂŒr mas­tur­bieren und wird seinerseits von Wilma beim SpĂ€hen ĂŒberrascht. Sie keift, ihre Tochter sei vom Wichsen besessen – noch ein Grund, warum sie endlich arbeiten sollte. DĂ€n nimmt sie in Schutz, schließlich sei das fĂŒr Teenager die harmloseste aller Arten, ihre SexualitĂ€t auszuleben. Doch Wilma entgegnet, sie habe ihre Tochter bei einer Sexorgie mit drei Freundinnen ĂŒberrascht. „Uffgegeilt haSDe Dich“, murmelt Paul dazu. Zur Strafe musste Franziska sich stundenlang in eiskaltes Wasser setzen.

The Twoilit of the Goduts

Als es dĂ€mmert, spazieren die MĂ€nner in den Nachbarort. Auf dem Friedhof sehen sie einem jungen Paar beim lei­den­schaftlichen Sex zu und unterhalten sich ĂŒber Nekrophilie in Poes Werk: Er war offenbar auf die Vorstellung fixiert, lebendig begraben zu werden. DĂ€n sieht darin einen Beweis fĂŒr die Impotenz des Dichters: das GefĂŒhl, ein „lebender Leichnam“ zu sein, und die Hoffnung, dass sein Penis wieder­aufer­ste­hen wĂŒrde. Es geht weiter zur Kirche und dann zur Dorfkneipe. DĂ€n verirrt sich in die Da­men­toi­lette, wird dort entdeckt und von der Wirtin vor den zornigen Frauen gerettet. Auf dem Jahrmarkt bestaunen sie Zigeuner, Zwerge und bauch­tanzende Negerinnen. In einer Bude fĂŒr Sexartikel kauft Paul sich vor lauter Im­poten­zangst ein Glied zum Umschnallen: den grĂ¶ĂŸenvariablen „Pussymock“ fĂŒr „NesthĂ€kchen bis Oma“, komplett mit „RunzlsĂ€ckchen“ fĂŒr aus­rang­ierte Geschlecht­steile. Schließlich besuchen sie die Jahrmark­t­sen­sa­tion Ira und Gesine: siamesische Zwillinge, die im Duett singen. Paul spielt in Gedanken durch, wie es bei einer Vagina und zwei Köpfen wohl mit dem Sex funk­tion­iert. Dann versucht eine junge Hure, DĂ€n zu verfĂŒhren, doch ohne Erfolg. HĂ€misch erzĂ€hlt sie, wie sie einer guten Freundin geraten habe, Löcher in die Kondome ihrer Eltern zu piksen, um sich so an ihrer Mutter zu rĂ€chen. Nun sei die Betreffende „dicker als dick“.

„Die Schweizer ha’m tatsĂ€chlich recht, wenn die ihre Frau’n nicht wĂ€hln lassn : sĂŽ=was von Geilheit plus Schwachsinn!“ (Paul, S. 63)

DĂ€n bietet seinem Freund 10 000 Mark dafĂŒr an, Franziska das Abitur machen zu lassen. Einzige Bedingung: Er will sie nie wiedersehen. Paul kann es nicht fassen. Denn fĂŒr so viel Geld hĂ€tte er sie dem Freund gerne zur Auf­frischung seines öden Sexlebens ĂŒberlassen. Auf dem RĂŒckweg kommt ihnen Franziska entgegen, und DĂ€n erzĂ€hlt ihr von seinem Plan, ihr Abitur zu finanzieren. Er fĂŒgt hinzu: Nur wenn Wilma sich nicht an die Abmachung halten sollte, dĂŒrfe sie von zu Hause fortlaufen und zu ihm kommen. Franziska ist außer sich vor Freude. Das gemeinsame GlĂŒck in Ödingen scheint ihr zum Greifen nahe.

Im Reiche der Neith

Zu viert wird vor dem Fernseher zu Abend gegessen. In den Nachrichten wird ĂŒber AufstĂ€nde von Schwarzen in den USA berichtet. DĂ€n schlĂ€gt vor, sie nach Afrika zu trans­portieren und sie dort „aus­rev­oluzzern“ zu lassen. SpĂ€ter belauschen Franziska und DĂ€n vom Keller aus ein GesprĂ€ch zwischen Paul und Wilma ĂŒber die Abmachung: Das MĂ€dchen hört mit EntzĂŒcken, wie viel Geld sie DĂ€n wert war, und dann mit Schrecken, dass Wilma offenbar auf DĂ€ns baldigen Tod und die daraus folgende Erbschaft spekuliert. Wilma fragt Paul, warum sie Franziska nicht gleich bei DĂ€n lassen – als plötzlich die Pumpe mit einem ohrenbetĂ€ubenden LĂ€rm einsetzt und die Antwort verschluckt. DĂ€n ist erleichtert: Den zweiten Teil seiner Abmachung soll Franziska nie erfahren.

„Ich halz nich mĂšre aus! : Euer corruptes Gephasl. : Der Eene denkt bloß ans Saufm! : der Andre sieht in jedm GrasbĂŒschl n Weip!“ (Wilma, S. 226)

Als sie sich gemeinsam Dias anschauen, erkennt DĂ€n Christa als die junge Hure vom Jahrmarkt. Franziska gesteht, dass sie das Treffen arrangiert habe, um DĂ€ns Treue auf die Probe zu stellen. Sie frohlockt: Christa sei nun genauso verliebt in ihn wie sie, denn er sei der erste Mann, der ihr nicht gleich an die WĂ€sche wollte. Unter klarem Ster­nen­him­mel philoso­phieren sie ĂŒber Poe, Monderotik und Stern­bild-Et­yms, die Bibel, Traumdeu­tung und die altĂ€gyptische Göttin Neith. RĂŒhrend unbeholfen versucht Franziska ein letztes Mal, DĂ€n zu verfĂŒhren – als wĂ€re die angestrengte Bettgym­nas­tik ihrer Eltern, die sie durchs Fenster beobachten, nicht Ab­schreck­ung genug. Die beiden schwitzen und grunzen, und Paul sticht mit dem Pussymock auf Wilma ein, ohne dass sie den Unterschied bemerkt. Mittendrin fĂ€llt es DĂ€n wie Schuppen von den Augen: Wilma ist schwanger! Franziska bestĂ€tigt es ihm. Das erklĂ€rt auch, warum sie im SchuhgeschĂ€ft arbeiten sollte, anstatt mit dem Abitur weitere Kosten zu verursachen. SpĂ€ter trinken alle vier noch auf die gemeinsam verbrachte Zeit. Als ein Taxi die Besucher abholt, versteckt sich DĂ€n hinter einer Eiche im Garten. Die eigenen Skrupel verfluchend verliert er Franziska fĂŒr immer aus den Augen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Roman erzĂ€hlt in acht BĂŒchern von 24 Stunden aus dem Leben Daniel Pa­gen­stech­ers und seiner Besucher. Arno Schmidt berichtet buchstĂ€blich ĂŒber jeden Furz – einschließlich Duftnote, Win­drich­tung und Ab­wehrstrate­gien – und dehnt so die erlebte Zeit in eine gefĂŒhlte Ewigkeit. Er nutzt die DIN-A3-Seite wie einen drei­di­men­sion­alen Raum, den man sich als Zylinder vorstellen kann: Die Haup­tkolumne verschiebt sich je nach Thema von links nach rechts; an den Seiten buhlen nicht weniger als 16 000 Anmerkungen in Form von Hin­tergedanken, Zwis­chen­rufen, Au­toren­z­i­taten, Skizzen, Fotos, Kochrezepten oder Zeitungs- und Kat­a­lo­gauss­chnit­ten um die Aufmerk­samkeit des Lesers. Schmidt bringt Buchstaben und Satzzeichen so aufs Papier, wie sie seinen Figuren aus den nord­deutschen MĂŒndern purzeln, tanzend und Treppen steigend, und als DĂ€n einen Herzanfall erleidet, findet der Leser sogar eine schwarze FlĂ€che vor. Von ĂŒberall lugt erotischer Hintersinn hervor: Die „tulip“ entpuppt sich als „two lips“, Wilma verwandelt sich in einen „WerVulv“ und Franziskas Plisseerock in einen „Please’see’rock“. Schmidts Sprache bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen urkomisch und bitterböse, und oft genug versteht der Leser nur Bahnhof.

In­ter­pre­ta­tion­sansÀtze

  • Zettel’s Traum ist der Versuch, das menschliche Bewusstsein so exakt wie möglich sprachlich abzubilden. Das Unbewusste redet gemĂ€ĂŸ Schmidt ĂŒber klangĂ€hnliche Etyms mit: So verstecke sich hinter dem Englischen „true“ der Gedanke an „trou“, den französischen Ausdruck fĂŒr „Loch“. Sprache wird damit zum Ventil fĂŒr unterdrĂŒckte SexualitĂ€t.
  • Edgar Allan Poes Sprache soll ihn als impotenten, onanieren­den Klo-Voyeur entlarven. Ähnlich geht es den Figuren: Sie verraten sich ĂŒber ihre Sprache. So erlebt der Leser etwa Wilma bereits als mannstolles WeibsstĂŒck, lange bevor man ihr als Voyeur beim un­ap­peti­tlichen Liebesspiel zuschauen darf.
  • Schmidt un­ter­schei­det zwischen „Dichter­priestern“ („DPs“) wie Poe, bei denen sich die Etyms unbewusst ein­schle­ichen, und genialen MĂ€nnern ĂŒber 50. Letztere bilden neben den drei Freud’schen Instanzen (Unbewusstes, Ich, Über-Ich) eine humorige vierte Instanz heraus. Sie bewirkt, dass bei Nachlassen des Sex­u­al­triebs frei gewordene Energien in den Wortwitz fließen. Neben James Joyce und Lewis Carrol wird auch Daniel Pa­gen­stecher der Kategorie des „GroßGenius im Etym=Alter“ (O-Ton Wilma) zugerechnet. Die Initialen verraten ihn aber als be­mitlei­denswerten Dichter-Priester – ein selb­stiro­nis­cher Hinweis auf die inneren WidersprĂŒche der Figur.
  • Neben alltĂ€glichen Handlungen wie dem Gurkenein­le­gen und Klo­gruben­reini­gen wird man Zeuge einer verhexten Sommernacht: Die Pro­tag­o­nis­ten verwandeln sich in Pferde, Muscheln und Zigeuner und durchleben Ă€hnlich wie der Weber Zettel aus William Shake­speares Som­mer­nacht­straum in ihrem Traumzu­s­tand groteske sexuelle Fantasien.
  • Der Humor des Mis­an­thropen Schmidt ist tiefschwarz, arrogant und provozierend: Frauen treten entweder als mĂ€nner­mor­dende Drachen, frĂŒhreife Lolitas oder hin­terlistige Huren auf, immer eine geistige Stufe unter den MĂ€nnern angesiedelt. Die Landbevölkerung ist stinkend, tierisch und boshaft. AufstĂ€ndische Studenten sind faule, verwöhnte Nichtsnutze und Schwarze kulturlose, triebges­teuerte Kinder.

His­torischer Hintergrund

Literatur als Druckventil

Die deutsche Literatur der 1950er Jahre befasste sich vorwiegend mit der un­mit­tel­baren Ver­gan­gen­heit und ihren Folgen: Faschismus, Krieg, Vertreibung. In den 1960er Jahren geriet die politische Gegenwart zunehmend in den Fokus: der Mauerbau 1961, die erste Große Koalition 1966, die Bildung der Außer­par­la­men­tarischen Opposition (APO), die Stu­den­te­nun­ruhen und die Ve­r­ab­schiedung der Not­stands­ge­setze 1968. Deutsche Autoren poli­tisierten sich. 1965 forderten Autoren wie Heinrich Böll oder Ingeborg Bachmann die USA in einer ErklĂ€rung auf, den Viet­namkrieg zu beenden. Viele bekannten sich öffentlich zur Sozialdemokratie oder sym­pa­thisierten mit der DKP. Zur gleichen Zeit entbrannte die Diskussion um den Realismus neu: Der BegrĂŒnder der so genannten Kölner Schule, Dieter Wellersdorf, forderte in Anlehnung an den französischen „Nouveau Roman“ eine genaue Abbildung des Alltags, mit all seinen zwis­chen­men­schlichen Grausamkeiten. Der Schrift­steller Uwe Timm bezeichnete das Jahrzehnt als eines der lit­er­arischen Utopien und ex­is­ten­ziellen Erfahrungen, als eine Zeit, in der an Stammtis­chen ĂŒber BĂŒcher diskutiert wurde und Frauen sich von radikaler Klein­schrei­bung verfĂŒhren ließen. Es war die Ära des SexualaufklĂ€rers Oswald Kolle, der den verklemmten BundesbĂŒrgern zeigte, was eine Klitoris ist. In deutschen Schlafz­im­mern hatte sich ein enormer sexueller Druck aufgestaut, und die Nachkriegs­gen­er­a­tion machte sich mit Eifer daran, die Ventile zu öffnen.

Entstehung

Zettel’s Traum ist gle­ichzeitig These und Antithese dieser Zeit. Denn der ein­sied­lerisch lebende Arno Schmidt mischte sich nicht in öffentliche Debatten ein. Über politisch bewegte Schrift­stellerkol­le­gen wie GĂŒnter Grass oder Martin Walser bemerkte er abfĂ€llig: „We are not amused.“ Aber er beschrieb von 1960 bis 1970 unermĂŒdlich Notizzettel, 120 000 an der Zahl, versah sie mit lit­er­arischen Zitaten, Nachricht­en­fet­zen oder Fragmenten seiner entste­hen­den Lit­er­atur­the­o­rie. Das Ergebnis: ein Jahrzehnt im Zettelka­s­ten. 1965 begann Schmidt, das Mosaik zusammenzufĂŒgen. Knapp vier Jahre lang stand er jede Nacht kurz nach Mitternacht auf, arbeitete bis sieben oder acht, schlief drei Stunden und machte danach weiter. „So habe ich jeden Tag 14 bis 18 Stunden gearbeitet“, sagte er 1970 in einem Spiegel-Interview und fĂŒgte an, neben ihm wĂŒrde „ein SĂ€ulen­heiliger wie ein Lebemann“ aussehen. FĂŒr seine Frau Alice Schmidt wurde die Zettel­wirtschaft zum Albtraum: „Keine SpaziergĂ€nge mehr – kein Sitzen im Garten – kein Sonntag ...: Im stĂ€ndigen Gemurmel, wort­pro­bierend, bewegten sich seine Lippen.“

Die Liste der Dichter und Denker, die der Autor zitierte und diskutierte, reicht von Homer ĂŒber Karl May und Marcel Proust bis hin zu Sigmund Freud und den Beatles. Sie ist so lang, dass sie locker ein eigenes BĂŒchlein fĂŒllen wĂŒrde. Stilistisch orientierte Schmidt sich an dem Iren James Joyce. Dessen ex­per­i­mentelles SpĂ€twerk Finnegans Wake hatte er wahrschein­lich Anfang 1960 gelesen. Er versuchte sich an einer Übersetzung des als unĂŒbersetzbar geltenden Buches, gab aber nach einiger Zeit auf. Stattdessen schrieb er eine deutsche Antwort auf sein Vorbild und sprengte damit jeden lit­er­arischen und druck­tech­nis­chen Rahmen seiner Zeit: „Es wird sich nicht mehr setzen lassen“, befĂŒrchtete er nach der Vollendung des Romans Ende 1968.

Wirkungs­geschichte

Schmidt sollte Recht behalten. Anfang 1970 kam das Buch als Faksimile auf den Markt, weil eine Drucklegung nach dem damaligen Stand der Technik zu teuer gewesen wĂ€re. Trotz des stolzen Preises von 298 DM war die erste Auflage von 2000 Exemplaren nach kurzer Zeit vergriffen. Die zweite erschien zum Ärger des Autors als Raubkopie. FĂŒr die einen war der Roman die Sensation des Jahres, fĂŒr die anderen ein furchter­re­gen­des Monstrum. Viele re­sig­nierten: „Zettel’s Traum ist da“, schrieb Gunar Ortlepp im Spiegel. „Ich werde ihn lesen. Aber auch rezensieren? Dies auf jedn Phall: phil spĂ€ht=er.“ Und in der SĂŒddeutschen Zeitung stand auf der Witzseite: „Zettel’s Traum: gelesen zu werden!“ Die Reaktionen dĂŒrften Schmidt in seiner Ansicht bestĂ€tigt haben, dass nur die dritte Wurzel der west­deutschen Bevölkerung, also ca. 390 Menschen, in der Lage sein wĂŒrden, sein Werk zu verstehen.

2010 erschien das Buch nach jahrelanger ed­i­torischer Fleißarbeit in gesetzter Fassung und trat eine neue Rezen­sion­swelle los: Schmidt ein ganz Großer der deutschen Nachkriegsmod­erne? Der ewige weiße Elefant? Oder doch nur ein penetranter Besser­wisser? „Ein Roman wie ein Gebirgs­mas­siv“, schwĂ€rmte der ARD-Kri­tiker Denis Scheck. „Nicht jeder wird es erklimmen wollen. Aber man sollte es in seinem Leserleben unbedingt mal gesehen haben.“ Manfred Koch erklĂ€rte in der NZZ Schmidts Versuch, „in Sachen Wor­tartis­tik auch gleich noch Finnegans Wake in den Schatten“ stellen zu wollen, als gescheitert. Er empfahl: „Anschauen, DurchblĂ€ttern und Sich­festle­sen an den Stellen, an denen die vehemente kĂŒnstlerische Potenz des Neurotikers Schmidt sich gegen seinen lit­er­atur­the­o­retis­chen Zwangsap­pa­rat durchge­setzt hat.“

Über den Autor

Arno Schmidt wird am 18. Januar 1914 in Hamburg geboren. Kaum kann er lesen, macht er sich ĂŒber jedes gedruckte StĂŒck Papier her. Er ist, nach eigener Aussage, zum „Bib­lio­pha­gen und zur Isolation prĂ€destiniert“. Nachdem sein Vater, ein Polizeibeamter, stirbt, siedelt die Familie 1928 nach Lauban in Schlesien ĂŒber. 1934 beginnt Schmidt mit einer kaufmĂ€nnischen Lehre, die er drei Jahre spĂ€ter abschließt. Er arbeitet als Lager­buch­hal­ter in einer schle­sis­chen Tex­til­fab­rik. 1937 heiratet er seine Kollegin Alice Murawski. Im Zweiten Weltkrieg kommt Schmidt zur Artillerie, er kĂ€mpft im Elsass sowie in Norwegen. Nach einem Einsatz in Nieder­sach­sen gerĂ€t er in britische Kriegs­ge­fan­gen­schaft. Als der Krieg vorbei ist, arbeitet Schmidt an der Hil­f­spolizeis­chule Benefeld als Dolmetscher fĂŒr Englisch. Noch bis 1955 mĂŒssen er und seine Frau in NotunterkĂŒnften leben, zunĂ€chst in Nieder­sach­sen und dann, nach seiner Umsiedlung nach Rhein­land-Pfalz, in Gau-Bick­el­heim. 1949 erscheint mit Leviathan die erste ErzĂ€hlung des Autors. 1955 wird See­land­schaft mit Pocahontas veröffentlicht, ein Werk, das ihm eine Anzeige wegen „GotteslĂ€sterung und Pornografie“ einbringt. Wieder muss Schmidt sich „umsiedeln“ lassen, diesmal vom katholis­chen Kastel an der Saar ins protes­tantis­che Darmstadt. Seinen Ruhepunkt findet er in Bargfeld, wo er sich mit fi­nanzieller UnterstĂŒtzung des Malers Wilhelm Michels ein Holzhaus kauft. Hier fĂŒhrt er fortan als freier Schrift­steller ein relativ abgeschiedenes Leben. Seine lit­er­arische Arbeit kulminiert 1970 im Hauptwerk Zettel’s Traum. Damit wird er endgĂŒltig zu einem Außenseiter der deutschen Literatur: Seine avant­gardis­tis­che Prosa passt in kein Schema und kann keiner lit­er­arischen Strömung zugeordnet werden. Drei Jahre spĂ€ter verleiht ihm die Stadt Frankfurt am Main den Goethepreis. Neben seinem eigenen Werk tritt er als Übersetzer von James Fenimore Cooper, William Faulkner und Edgar Allan Poe hervor. Sein Interesse an Karl May fĂŒhrt zu Sitara und der Weg dorthin, einer Studie ĂŒber den Aben­teuer­schrift­steller (1963). Arno Schmidt stirbt am 3. Juni 1979 an den Folgen eines Gehirn­schlages in Celle.