Das Schauerfeld oder die Sprache von Tsalal
An einem Julitag 1968 im Heidedörfchen Ădingen: Der alleÂinÂsteÂhende SchriftÂsteller und Ăbersetzer Daniel PaÂgenÂstecher, genannt DĂ€n, hat Besuch von seinen JuÂgendÂfreÂunÂden, den Ăbersetzern Paul und Wilma Jacobi, und deren 16-jĂ€hriger Tochter Franziska. Morgens um halb vier schlĂŒpfen sie durch einen StachelÂdrahtzaun und machen einen Spaziergang. Unter Wilmas missfĂ€lligen Blicken trinkt Paul InÂgÂwÂerÂschnaps, aber DĂ€n nimmt ihn in Schutz: âGehirntiereâ brĂ€uchten nun mal Alkohol zum Schreiben. DĂ€n lĂ€stert ĂŒber DichterÂpriester wie Edgar Allan Poe, die alles verklĂ€ren, aber nichts ordentlich beschreiben. Da Paul und Wilma an einer NeuĂŒbersetzung von Poes Gesamtwerk arbeiten, möchten sie von ihm etwas Neues, leicht VerkĂ€ufliches ĂŒber den Dichter hören. DĂ€n erklĂ€rt seine Idee des Etyms: Der Klang eines Wortes verrate oft mehr ĂŒber die Intention des Autors als seine Bedeutung. Wenn ein EnglĂ€nder vom Ganzen (âwholeâ) spreche, meine sein sprachÂliches Unbewusstes eigentlich das Loch (âholeâ). Wilma will von solchen Schweinereien nichts wissen. Paul ist da schon aufgeschlossener.
âD(ichter)=P(riester). Darfst auch an âDePeâ denken; oder âDisplaced Personsâ : âDeplacierte Persönlichkeitenâ.â (DĂ€n, S. 22)
WĂ€hrend die Damen im Bach planschen, fĂŒhrt DĂ€n seine Theorie weiter aus: Poes immer wiederkehrende âcrystal springsâ stĂŒnden stelÂlvertreÂtend fĂŒr Damenurin (âcristaeâ = lat. âSchamlippenâ) â und das erklĂ€re auch, weshalb sich das Christentum (= âSchamÂlipÂpenÂdiÂenstâ) unter den Römern so schnell ausÂgeÂbreÂitet habe. Die MĂ€nner lachen und schauen den Frauen durch die BĂŒsche beim Umziehen zu. DĂ€n deutet an, dass seine Potenz nachlasse. Sein Trost: die so genannte vierte Instanz, die es inÂtelÂliÂgenÂten Köpfen ĂŒber 50 erlaube, ihre sterbende SexualitĂ€t mit erotischen, dopÂpeldeutiÂgen Wortspielen zu komÂpenÂsieren. SpĂ€ter verwandeln sich die vier in Pferde: Die alte Stute erklĂ€rt ihrem jungen Fohlen höhnisch, warum die beiden Hengste nichts mehr taugen. Da gĂ€be es nur zweierlei: kastrieren und als Arbeitstier verheizen oder ab zum Schlachter.
In Gesellschaft von BĂ€umen
DĂ€n und seine Besucher besteigen einen Jagdstand und bestaunen das Panorama. DĂ€n meint, man dĂŒrfe den Einfluss von Bildern auf die SchriftÂstellerei nicht unterschĂ€tzen. So schrieb Poe z. B. ĂŒber die Aussicht vom Ătna, obwohl er nie in Europa war â wahrscheinÂlich lieĂ er sich von gemalten LandÂschaftspanoraÂmen inspirieren. Franziska flirtet unverhohlen mit DĂ€n, und Wilma schnauzt sie an, sie solle sich anstĂ€ndig hinsetzen. Ein Blick auf DĂ€ns tote Hose beruhigt sie. Franziska erinnert ihn an die zwei Monate, die sie als AchtjĂ€hrige bei ihm verbracht hat, wĂ€hrend ihre Eltern auf Reisen waren; daran, wie sie Fieber bekam und mit ihm in einem Bett schlief â fĂŒr sie die schönste Zeit ihres Lebens. Beim Pilzesuchen befingern und belecken Wilma und Franziska staunend die âstattlichenâ und âgeschwolÂlenenâ StĂ€ngel der in Pilze verÂwanÂdelÂten MĂ€nner und ziehen ihnen genĂŒsslich die âalte und faltige Oberhautâ ab. Paul fragt sich anschlieĂend, warum es auch unter MĂ€nnern pasÂsionÂierte Pilzesucher gibt. Plötzlich beschimpft Wilma Paul als âMörderâ. Er hat ihr von einem Traum erzĂ€hlt, in dem er sie erst ins Wasser stieĂ und dann â er angezogen, sie nackt auf ihm â mit seinem GĂŒrtel schlug. Um seinen Freund zu retten, inÂterÂpretiert DĂ€n die TrĂ€ume freudiÂanÂisch als Zeichen von Pauls Begehren; ja sogar dafĂŒr, dass er ein Kind mit Wilma zeugen wolle.
DĂ€nâs Cottage. (Ein Diorama)
Erschöpft erreichen sie DĂ€ns bescheiÂdenes Holzhaus und frĂŒhstĂŒcken. Franziska trĂ€llert OpÂerettenÂlieder von Jacques Offenbach. Sie spazieren durch den Garten. Wilma wundert sich ĂŒber DĂ€ns zurĂŒckgezogenes Leben. Ob er als ehemaliger KriegsÂgeÂfanÂgener keinen âPalÂisadenkomÂplexâ bekomme? Sie bestaunen den âBlumâinâCulâ (âculâ = frz. âHinternâ), prĂ€chtige RhabarÂber-StanÂgen und frĂŒhreife Ăpfel â Obst und GemĂŒse als Sinnbilder sekundĂ€rer GeschlechtÂsteile. Danach essen sie zu Mittag, hören Nachrichten und diskutieren ĂŒber Politik. Wilma beschimpft ihre Tochter unÂunÂterÂbrochen und berichtet entrĂŒstet, wie diese neulich mit ihren Freundinnen eine Flasche Sekt getrunken und danach einen FurzwetÂtbeÂwerb in ihrem Zimmer veÂrÂanstalÂtet habe. Wie im Puff habe es da gerochen! DĂ€n erkundigt sich nach Franziskas SchulleisÂtunÂgen. Die seien in Ordnung, aber Abitur machen? Ihre Eltern drucksen verlegen herum, dann rĂŒckt Wilma damit heraus: Studieren könne man bei ihrer störrischen Art eh vergessen. AuĂerdem hĂ€tten sie Geldsorgen ... kurzum: Franziska soll eine Lehre in einem SchuhgeschĂ€ft machen. DĂ€n ist entsetzt, vor allem als Paul andeutet, dass der Besitzer des GeschĂ€fts sie als Erstes âpimpernâ werde. Und wenn schon, meint Wilma. SpĂ€ter trifft DĂ€n im Haus auf die verweinte Franziska. Sie sagt heulend, ihre Eltern wollten sie zur Halbhure machen, und fleht ihn an, bei ihm bleiben zu dĂŒrfen. DĂ€n versucht ihr das auszureden: die Einsamkeit, sein Alter, die beginnende Impotenz. Jemand ruft âZeppelin!â, und sie rennen nach drauĂen.
Die Geste des GroĂen Pun
Es folgt eine Diskussion ĂŒber die erotischen Formen diverser Luftschiffe und Ballons als Chiffren fĂŒr BrĂŒste und das weibliche GesĂ€Ă. DĂ€n und Paul machen einen Spaziergang zum Badesee und treffen auf eine geheimnisvolle Gesellschaft, die von einem Fechter angefĂŒhrt wird. Paul lĂ€sst sich auf ein Duell ein, wobei seinem Gegner glatt das Florett entzweibÂricht. Der Mann bietet ihnen zu trinken an. Ein Zaubertrank? Jedenfalls verwandeln sie sich in Matrosen und treffen auf Wilma in Gestalt einer Wahrsagerin. DĂ€n gegenĂŒber spricht sie mit Blick auf die LeisÂtengeÂgend die VerheiĂung aus: âNevermore!â Dann hören sie weiblichen Gesang in einem Schiff. Es sind nackte Piratinnen, unter ihnen auch Franziskas Freundin Christa, die es schon als NeunjĂ€hrige mit Paul getrieben hat. Sie verwandeln sich in MeerÂjungfrauen, Meergötter und MeereÂsungeÂheuer und sprechen ĂŒber Conchology, ein wisÂsenschaftliches Buch ĂŒber Muscheln, das Poe editiert und unter seinem Namen neu herÂausÂgegeben hat. Die MĂ€nner schlĂŒpfen in die Rollen der Muschelforscher Dr. Powell und Daniel Pagane Stecheros. Powell findet eine gigantische Muschel, die sich als Wilma entpuppt. Er entnimmt ihr die groĂe âUrinPerleâ, Sperrholz und viel stinkenden Schleim. Plötzlich verwandelt sich die TraumÂlandÂschaft wieder. Nun stehen sie an einem Teich im nordÂdeutschen Flachland und behandeln als Ărzte Dr. Juckobi und Dr. WĂątson armselige Gestalten, die halb besinÂnungsÂlos mit geÂquetschten SexÂuÂalorÂgaÂnen auf dem Boden liegen. DĂ€n und Paul gehen zurĂŒck zum Haus. DĂ€n hat eine Vision vom groĂen Hirtengott Pan; dann erwacht er zitternd.
Franziska=Nameh//
//Wieder wird gegessen, Wilma hat HeiĂhunger auf Senfgurken. Allein mit DĂ€n in dessen ArÂbeitÂszÂimÂmer bejammert Paul sein Los mit dem Ehedrachen. BĂŒcher seien ihm lieber als Frau und Kind; sie seien das, was vom Menschen ĂŒbrig bleibe, âverholzte MĂ€nnerstrĂŒnkeâ quasi. Und nennt der BuchÂliebÂhaber sie nicht seine âSchĂ€tzeâ, riecht verliebt an ihren Seiten und steckt lĂŒstern seine Finger hinein? Die Eheleute machen auf dem Traktor des Bauern Stephan einen Ausflug. DĂ€n und Franziska wecken turtelnd Gurken ein. Sie malen sich aus, er sei Apotheker und sie eine liebestolle Jungfer, die von ihm einen potenten Liebestrank ersteht. Dann hilft sie ihm, Dias zu rahmen und alte BriefumschlĂ€ge zu recyceln, indem sie daraus Notizzettel schneidet. Immer wieder kommen Christas ĂuĂerungen zum Thema Sex zur Sprache. SchlieĂlich erzĂ€hlt DĂ€n das Leben der âSelijn Franziskaâ wie eine HeiliÂgengeschichte: Sie weiht ihr Leben dem Propheten Daniel und wird dafĂŒr von ihren Eltern verfolgt. Dann wird ihm schwarz vor Augen â eine Herzattacke. Als er wieder zu sich kommt, beschlieĂt er, Paul Geld anzubieten, um so Franziska vor dem SchuhgeschĂ€ft zu bewahren. Da ertönt TrakÂtorenknatÂtern. Wilma rauscht mit rotem Kopf vorbei, offenbar hochgradig erregt. Kein Wunder, doziert DĂ€n: Auch die hiesigen Witwen und Backfische wĂŒrden sich stĂ€ndig auf dem Traktor einen âabrĂŒttlnâ.
: âRohrfrei!â
Stephan und dessen Bruder machen sich daran, DĂ€ns Klogrube auszupumpen. Angewidert und fasziniert schauen sie zu, wie die ĂŒbel riechende Masse mit darin schwimÂmenden Damenbinden und einem Kondom in die Grenzfurche zwischen zwei Ăckern geleitet wird. Als Franziska das Kondom sieht, wird sie grĂŒn vor Eifersucht und möchte wissen, von wem es stammt. DĂ€n gesteht verlegen, dass er alle paar Monate eines benutze, um die BettwĂ€sche nicht schmutzig zu machen. Die Operation Klogrube inspiriert zu weiteren GedankenÂspielchen: DĂ€n hĂ€lt Poe fĂŒr einen impotenten FĂ€kalfetisÂchisÂten und Klo-Voyeur mit Hang zur SelbÂstÂbeÂfriediÂgung. SpĂ€ter sieht DĂ€n Franziska durch die halb geöffnete BadezimmertĂŒr masÂturÂbieren und wird seinerseits von Wilma beim SpĂ€hen ĂŒberrascht. Sie keift, ihre Tochter sei vom Wichsen besessen â noch ein Grund, warum sie endlich arbeiten sollte. DĂ€n nimmt sie in Schutz, schlieĂlich sei das fĂŒr Teenager die harmloseste aller Arten, ihre SexualitĂ€t auszuleben. Doch Wilma entgegnet, sie habe ihre Tochter bei einer Sexorgie mit drei Freundinnen ĂŒberrascht. âUffgegeilt haSDe Dichâ, murmelt Paul dazu. Zur Strafe musste Franziska sich stundenlang in eiskaltes Wasser setzen.
The Twoilit of the Goduts
Als es dĂ€mmert, spazieren die MĂ€nner in den Nachbarort. Auf dem Friedhof sehen sie einem jungen Paar beim leiÂdenÂschaftlichen Sex zu und unterhalten sich ĂŒber Nekrophilie in Poes Werk: Er war offenbar auf die Vorstellung fixiert, lebendig begraben zu werden. DĂ€n sieht darin einen Beweis fĂŒr die Impotenz des Dichters: das GefĂŒhl, ein âlebender Leichnamâ zu sein, und die Hoffnung, dass sein Penis wiederÂauferÂsteÂhen wĂŒrde. Es geht weiter zur Kirche und dann zur Dorfkneipe. DĂ€n verirrt sich in die DaÂmenÂtoiÂlette, wird dort entdeckt und von der Wirtin vor den zornigen Frauen gerettet. Auf dem Jahrmarkt bestaunen sie Zigeuner, Zwerge und bauchÂtanzende Negerinnen. In einer Bude fĂŒr Sexartikel kauft Paul sich vor lauter ImÂpotenÂzangst ein Glied zum Umschnallen: den gröĂenvariablen âPussymockâ fĂŒr âNesthĂ€kchen bis Omaâ, komplett mit âRunzlsĂ€ckchenâ fĂŒr ausÂrangÂierte GeschlechtÂsteile. SchlieĂlich besuchen sie die JahrmarkÂtÂsenÂsaÂtion Ira und Gesine: siamesische Zwillinge, die im Duett singen. Paul spielt in Gedanken durch, wie es bei einer Vagina und zwei Köpfen wohl mit dem Sex funkÂtionÂiert. Dann versucht eine junge Hure, DĂ€n zu verfĂŒhren, doch ohne Erfolg. HĂ€misch erzĂ€hlt sie, wie sie einer guten Freundin geraten habe, Löcher in die Kondome ihrer Eltern zu piksen, um sich so an ihrer Mutter zu rĂ€chen. Nun sei die Betreffende âdicker als dickâ.
âDie Schweizer haâm tatsĂ€chlich recht, wenn die ihre Frauân nicht wĂ€hln lassn : sĂŽ=was von Geilheit plus Schwachsinn!â (Paul, S. 63)
DĂ€n bietet seinem Freund 10 000 Mark dafĂŒr an, Franziska das Abitur machen zu lassen. Einzige Bedingung: Er will sie nie wiedersehen. Paul kann es nicht fassen. Denn fĂŒr so viel Geld hĂ€tte er sie dem Freund gerne zur AufÂfrischung seines öden Sexlebens ĂŒberlassen. Auf dem RĂŒckweg kommt ihnen Franziska entgegen, und DĂ€n erzĂ€hlt ihr von seinem Plan, ihr Abitur zu finanzieren. Er fĂŒgt hinzu: Nur wenn Wilma sich nicht an die Abmachung halten sollte, dĂŒrfe sie von zu Hause fortlaufen und zu ihm kommen. Franziska ist auĂer sich vor Freude. Das gemeinsame GlĂŒck in Ădingen scheint ihr zum Greifen nahe.
Im Reiche der Neith
Zu viert wird vor dem Fernseher zu Abend gegessen. In den Nachrichten wird ĂŒber AufstĂ€nde von Schwarzen in den USA berichtet. DĂ€n schlĂ€gt vor, sie nach Afrika zu transÂportieren und sie dort âausÂrevÂoluzzernâ zu lassen. SpĂ€ter belauschen Franziska und DĂ€n vom Keller aus ein GesprĂ€ch zwischen Paul und Wilma ĂŒber die Abmachung: Das MĂ€dchen hört mit EntzĂŒcken, wie viel Geld sie DĂ€n wert war, und dann mit Schrecken, dass Wilma offenbar auf DĂ€ns baldigen Tod und die daraus folgende Erbschaft spekuliert. Wilma fragt Paul, warum sie Franziska nicht gleich bei DĂ€n lassen â als plötzlich die Pumpe mit einem ohrenbetĂ€ubenden LĂ€rm einsetzt und die Antwort verschluckt. DĂ€n ist erleichtert: Den zweiten Teil seiner Abmachung soll Franziska nie erfahren.
âIch halz nich mĂšre aus! : Euer corruptes Gephasl. : Der Eene denkt bloĂ ans Saufm! : der Andre sieht in jedm GrasbĂŒschl n Weip!â (Wilma, S. 226)
Als sie sich gemeinsam Dias anschauen, erkennt DĂ€n Christa als die junge Hure vom Jahrmarkt. Franziska gesteht, dass sie das Treffen arrangiert habe, um DĂ€ns Treue auf die Probe zu stellen. Sie frohlockt: Christa sei nun genauso verliebt in ihn wie sie, denn er sei der erste Mann, der ihr nicht gleich an die WĂ€sche wollte. Unter klarem SterÂnenÂhimÂmel philosoÂphieren sie ĂŒber Poe, Monderotik und SternÂbild-EtÂyms, die Bibel, TraumdeuÂtung und die altĂ€gyptische Göttin Neith. RĂŒhrend unbeholfen versucht Franziska ein letztes Mal, DĂ€n zu verfĂŒhren â als wĂ€re die angestrengte BettgymÂnasÂtik ihrer Eltern, die sie durchs Fenster beobachten, nicht AbÂschreckÂung genug. Die beiden schwitzen und grunzen, und Paul sticht mit dem Pussymock auf Wilma ein, ohne dass sie den Unterschied bemerkt. Mittendrin fĂ€llt es DĂ€n wie Schuppen von den Augen: Wilma ist schwanger! Franziska bestĂ€tigt es ihm. Das erklĂ€rt auch, warum sie im SchuhgeschĂ€ft arbeiten sollte, anstatt mit dem Abitur weitere Kosten zu verursachen. SpĂ€ter trinken alle vier noch auf die gemeinsam verbrachte Zeit. Als ein Taxi die Besucher abholt, versteckt sich DĂ€n hinter einer Eiche im Garten. Die eigenen Skrupel verfluchend verliert er Franziska fĂŒr immer aus den Augen.
Zum Text
Aufbau und Stil
Der Roman erzĂ€hlt in acht BĂŒchern von 24 Stunden aus dem Leben Daniel PaÂgenÂstechÂers und seiner Besucher. Arno Schmidt berichtet buchstĂ€blich ĂŒber jeden Furz â einschlieĂlich Duftnote, WinÂdrichÂtung und AbÂwehrstrateÂgien â und dehnt so die erlebte Zeit in eine gefĂŒhlte Ewigkeit. Er nutzt die DIN-A3-Seite wie einen dreiÂdiÂmenÂsionÂalen Raum, den man sich als Zylinder vorstellen kann: Die HaupÂtkolumne verschiebt sich je nach Thema von links nach rechts; an den Seiten buhlen nicht weniger als 16 000 Anmerkungen in Form von HinÂtergedanken, ZwisÂchenÂrufen, AuÂtorenÂzÂiÂtaten, Skizzen, Fotos, Kochrezepten oder Zeitungs- und KatÂaÂloÂgaussÂchnitÂten um die AufmerkÂsamkeit des Lesers. Schmidt bringt Buchstaben und Satzzeichen so aufs Papier, wie sie seinen Figuren aus den nordÂdeutschen MĂŒndern purzeln, tanzend und Treppen steigend, und als DĂ€n einen Herzanfall erleidet, findet der Leser sogar eine schwarze FlĂ€che vor. Von ĂŒberall lugt erotischer Hintersinn hervor: Die âtulipâ entpuppt sich als âtwo lipsâ, Wilma verwandelt sich in einen âWerVulvâ und Franziskas Plisseerock in einen âPleaseâseeârockâ. Schmidts Sprache bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen urkomisch und bitterböse, und oft genug versteht der Leser nur Bahnhof.
InÂterÂpreÂtaÂtionÂsansĂ€tze
- Zettelâs Traum ist der Versuch, das menschliche Bewusstsein so exakt wie möglich sprachlich abzubilden. Das Unbewusste redet gemÀà Schmidt ĂŒber klangĂ€hnliche Etyms mit: So verstecke sich hinter dem Englischen âtrueâ der Gedanke an âtrouâ, den französischen Ausdruck fĂŒr âLochâ. Sprache wird damit zum Ventil fĂŒr unterdrĂŒckte SexualitĂ€t.
- Edgar Allan Poes Sprache soll ihn als impotenten, onanierenÂden Klo-Voyeur entlarven. Ăhnlich geht es den Figuren: Sie verraten sich ĂŒber ihre Sprache. So erlebt der Leser etwa Wilma bereits als mannstolles WeibsstĂŒck, lange bevor man ihr als Voyeur beim unÂapÂpetiÂtlichen Liebesspiel zuschauen darf.
- Schmidt unÂterÂscheiÂdet zwischen âDichterÂpriesternâ (âDPsâ) wie Poe, bei denen sich die Etyms unbewusst einÂschleÂichen, und genialen MĂ€nnern ĂŒber 50. Letztere bilden neben den drei Freudâschen Instanzen (Unbewusstes, Ich, Ăber-Ich) eine humorige vierte Instanz heraus. Sie bewirkt, dass bei Nachlassen des SexÂuÂalÂtriebs frei gewordene Energien in den Wortwitz flieĂen. Neben James Joyce und Lewis Carrol wird auch Daniel PaÂgenÂstecher der Kategorie des âGroĂGenius im Etym=Alterâ (O-Ton Wilma) zugerechnet. Die Initialen verraten ihn aber als beÂmitleiÂdenswerten Dichter-Priester â ein selbÂstiroÂnisÂcher Hinweis auf die inneren WidersprĂŒche der Figur.
- Neben alltĂ€glichen Handlungen wie dem GurkeneinÂleÂgen und KloÂgrubenÂreiniÂgen wird man Zeuge einer verhexten Sommernacht: Die ProÂtagÂoÂnisÂten verwandeln sich in Pferde, Muscheln und Zigeuner und durchleben Ă€hnlich wie der Weber Zettel aus William ShakeÂspeares SomÂmerÂnachtÂstraum in ihrem TraumzuÂsÂtand groteske sexuelle Fantasien.
- Der Humor des MisÂanÂthropen Schmidt ist tiefschwarz, arrogant und provozierend: Frauen treten entweder als mĂ€nnerÂmorÂdende Drachen, frĂŒhreife Lolitas oder hinÂterlistige Huren auf, immer eine geistige Stufe unter den MĂ€nnern angesiedelt. Die Landbevölkerung ist stinkend, tierisch und boshaft. AufstĂ€ndische Studenten sind faule, verwöhnte Nichtsnutze und Schwarze kulturlose, triebgesÂteuerte Kinder.
HisÂtorischer Hintergrund
Literatur als Druckventil
Die deutsche Literatur der 1950er Jahre befasste sich vorwiegend mit der unÂmitÂtelÂbaren VerÂganÂgenÂheit und ihren Folgen: Faschismus, Krieg, Vertreibung. In den 1960er Jahren geriet die politische Gegenwart zunehmend in den Fokus: der Mauerbau 1961, die erste GroĂe Koalition 1966, die Bildung der AuĂerÂparÂlaÂmenÂtarischen Opposition (APO), die StuÂdenÂteÂnunÂruhen und die VeÂrÂabÂschiedung der NotÂstandsÂgeÂsetze 1968. Deutsche Autoren poliÂtisierten sich. 1965 forderten Autoren wie Heinrich Böll oder Ingeborg Bachmann die USA in einer ErklĂ€rung auf, den VietÂnamkrieg zu beenden. Viele bekannten sich öffentlich zur Sozialdemokratie oder symÂpaÂthisierten mit der DKP. Zur gleichen Zeit entbrannte die Diskussion um den Realismus neu: Der BegrĂŒnder der so genannten Kölner Schule, Dieter Wellersdorf, forderte in Anlehnung an den französischen âNouveau Romanâ eine genaue Abbildung des Alltags, mit all seinen zwisÂchenÂmenÂschlichen Grausamkeiten. Der SchriftÂsteller Uwe Timm bezeichnete das Jahrzehnt als eines der litÂerÂarischen Utopien und exÂisÂtenÂziellen Erfahrungen, als eine Zeit, in der an StammtisÂchen ĂŒber BĂŒcher diskutiert wurde und Frauen sich von radikaler KleinÂschreiÂbung verfĂŒhren lieĂen. Es war die Ăra des SexualaufklĂ€rers Oswald Kolle, der den verklemmten BundesbĂŒrgern zeigte, was eine Klitoris ist. In deutschen SchlafzÂimÂmern hatte sich ein enormer sexueller Druck aufgestaut, und die NachkriegsÂgenÂerÂaÂtion machte sich mit Eifer daran, die Ventile zu öffnen.
Entstehung
Zettelâs Traum ist gleÂichzeitig These und Antithese dieser Zeit. Denn der einÂsiedÂlerisch lebende Arno Schmidt mischte sich nicht in öffentliche Debatten ein. Ăber politisch bewegte SchriftÂstellerkolÂleÂgen wie GĂŒnter Grass oder Martin Walser bemerkte er abfĂ€llig: âWe are not amused.â Aber er beschrieb von 1960 bis 1970 unermĂŒdlich Notizzettel, 120 000 an der Zahl, versah sie mit litÂerÂarischen Zitaten, NachrichtÂenÂfetÂzen oder Fragmenten seiner entsteÂhenÂden LitÂerÂaturÂtheÂoÂrie. Das Ergebnis: ein Jahrzehnt im ZettelkaÂsÂten. 1965 begann Schmidt, das Mosaik zusammenzufĂŒgen. Knapp vier Jahre lang stand er jede Nacht kurz nach Mitternacht auf, arbeitete bis sieben oder acht, schlief drei Stunden und machte danach weiter. âSo habe ich jeden Tag 14 bis 18 Stunden gearbeitetâ, sagte er 1970 in einem Spiegel-Interview und fĂŒgte an, neben ihm wĂŒrde âein SĂ€ulenÂheiliger wie ein Lebemannâ aussehen. FĂŒr seine Frau Alice Schmidt wurde die ZettelÂwirtschaft zum Albtraum: âKeine SpaziergĂ€nge mehr â kein Sitzen im Garten â kein Sonntag ...: Im stĂ€ndigen Gemurmel, wortÂproÂbierend, bewegten sich seine Lippen.â
Die Liste der Dichter und Denker, die der Autor zitierte und diskutierte, reicht von Homer ĂŒber Karl May und Marcel Proust bis hin zu Sigmund Freud und den Beatles. Sie ist so lang, dass sie locker ein eigenes BĂŒchlein fĂŒllen wĂŒrde. Stilistisch orientierte Schmidt sich an dem Iren James Joyce. Dessen exÂperÂiÂmentelles SpĂ€twerk Finnegans Wake hatte er wahrscheinÂlich Anfang 1960 gelesen. Er versuchte sich an einer Ăbersetzung des als unĂŒbersetzbar geltenden Buches, gab aber nach einiger Zeit auf. Stattdessen schrieb er eine deutsche Antwort auf sein Vorbild und sprengte damit jeden litÂerÂarischen und druckÂtechÂnisÂchen Rahmen seiner Zeit: âEs wird sich nicht mehr setzen lassenâ, befĂŒrchtete er nach der Vollendung des Romans Ende 1968.
WirkungsÂgeschichte
Schmidt sollte Recht behalten. Anfang 1970 kam das Buch als Faksimile auf den Markt, weil eine Drucklegung nach dem damaligen Stand der Technik zu teuer gewesen wĂ€re. Trotz des stolzen Preises von 298 DM war die erste Auflage von 2000 Exemplaren nach kurzer Zeit vergriffen. Die zweite erschien zum Ărger des Autors als Raubkopie. FĂŒr die einen war der Roman die Sensation des Jahres, fĂŒr die anderen ein furchterÂreÂgenÂdes Monstrum. Viele reÂsigÂnierten: âZettelâs Traum ist daâ, schrieb Gunar Ortlepp im Spiegel. âIch werde ihn lesen. Aber auch rezensieren? Dies auf jedn Phall: phil spĂ€ht=er.â Und in der SĂŒddeutschen Zeitung stand auf der Witzseite: âZettelâs Traum: gelesen zu werden!â Die Reaktionen dĂŒrften Schmidt in seiner Ansicht bestĂ€tigt haben, dass nur die dritte Wurzel der westÂdeutschen Bevölkerung, also ca. 390 Menschen, in der Lage sein wĂŒrden, sein Werk zu verstehen.
2010 erschien das Buch nach jahrelanger edÂiÂtorischer FleiĂarbeit in gesetzter Fassung und trat eine neue RezenÂsionÂswelle los: Schmidt ein ganz GroĂer der deutschen NachkriegsmodÂerne? Der ewige weiĂe Elefant? Oder doch nur ein penetranter BesserÂwisser? âEin Roman wie ein GebirgsÂmasÂsivâ, schwĂ€rmte der ARD-KriÂtiker Denis Scheck. âNicht jeder wird es erklimmen wollen. Aber man sollte es in seinem Leserleben unbedingt mal gesehen haben.â Manfred Koch erklĂ€rte in der NZZ Schmidts Versuch, âin Sachen WorÂtartisÂtik auch gleich noch Finnegans Wake in den Schattenâ stellen zu wollen, als gescheitert. Er empfahl: âAnschauen, DurchblĂ€ttern und SichÂfestleÂsen an den Stellen, an denen die vehemente kĂŒnstlerische Potenz des Neurotikers Schmidt sich gegen seinen litÂerÂaturÂtheÂoÂretisÂchen ZwangsapÂpaÂrat durchgeÂsetzt hat.â