Geschichte des Agathon

Buch Geschichte des Agathon

Zürich, 1766/67
Diese Ausgabe: Deutscher Klassiker Verlag,


Worum es geht

Innere Entwicklung und Selb­stfind­ung

In seiner Geschichte des Agathon schildert Christoph Martin Wieland, wie ein junger Mann durch die Au­seinan­der­set­zung mit seiner Umwelt zu einer vernünftigen, tu­gend­haften und doch sin­nes­fro­hen Persönlichkeit heranreift; wie er also, so würde man heute sagen, zu sich selbst findet. Die Geschichte, die in der Antike spielt, hat mod­ell­haften Charakter, denn sie folgt Gesetzen, die – zumindest in Wielands Sinn – allgemeingültig sind. Dieser pro­gram­ma­tis­che Anspruch des Autors ist stets spürbar. Immer wieder richtet er sich an den Leser, um das Erzählte auf ironische Weise zu re­flek­tieren und zu kom­men­tieren. Breiten Raum nimmt auch die Gegenüberstellung ver­schiedener philosophis­cher Systeme ein. In diesen langatmigen Passagen, die den Erzählfluss mehrfach un­ter­brechen, entsteht der Eindruck, Figuren und Handlung dienten nur dazu, einen philosophis­chen Lehrsatz zu belegen. Wenn auch für heutige Leser ein schwerer Brocken, ist die Geschichte des Agathon doch von großer lit­er­aturgeschichtlicher Bedeutung. Indem Wieland den Blick weg von äußeren Ereignissen und Abenteuern hin auf die innere Entwicklung und das Seelenleben des Helden richtete, begründete er den deutschsprachi­gen Bil­dungsro­man.

Take-aways

  • Christoph Martin Wielands Geschichte des Agathon gilt als der erste deutschsprachige Bil­dungsro­man.
  • Inhalt: Der junge Agathon, aus seiner Vaterstadt Athen verbannt, muss unter schwierigen Umständen seine Tugend und seinen Idealismus bewahren. Er diskutiert mit Philosophen, engagiert sich politisch, lernt neben pla­tonis­cher Liebe sinnliche Erotik kennen und reift zur aus­ge­wo­ge­nen Persönlichkeit.
  • Im Vordergrund stehen nicht äußere Ereignisse, sondern die innere Entwicklung Agathons.
  • Um das Modellhafte an Agathons Entwicklung her­vorzuheben, lässt Wieland die Geschichte in der griechis­chen Antike spielen.
  • Dennoch behandelt der Roman Fragen aus Wielands eigener Zeit.
  • Wieland stellt keinen idealen Helden in den Mittelpunkt, sondern einen Menschen mit Schwächen.
  • Vorbild für die Geschichte des Agathon war Henry Fieldings Roman Tom Jones.
  • Oft mischt sich der Erzähler mit Kommentaren, Ab­schwei­fun­gen und direkter Leser­ansprache ein.
  • Die Geschichte des Agathon begründete die Lit­er­atur­gat­tung des Bil­dungsro­mans und bee­in­flusste unter anderem Goethes Wilhelm Meister.
  • Zitat: „Damit Agathon das Bild eines wirklichen Menschen wäre, in welchem viele ihr eigenes erkennen sollten, konnte er, wir behaupten es zu­ver­sichtlich, nicht tu­gend­hafter vorgestellt werden, als er ist (…)“
 

Zusammenfassung

Das Leben als Traum?

Agathon war einst von den Athenern wegen seiner Dienste für die Republik und wegen seiner kriegerischen Erfolge hochgeschätzt, fiel dann aber durch Intrigen in Ungnade. Er verlor all seinen Besitz und wurde aus seiner Vaterstadt verbannt. Nun reist er durch Asien. Glückliche Empfind­un­gen entschädigen ihn schon bald für das erlittene Leid. Auf seiner Reise wird der schöne junge Mann von einer Schar Bac­cha­n­tinnen überfallen, deren ek­sta­tis­cher Begierde er nur entkommt, weil ihn Seeräuber gefangen nehmen. Überraschend trifft er auf dem Schiff seine große Liebe Psyche wieder, die ebenfalls von den Piraten versklavt wurde. Doch leider wird er schon bald wieder von ihr getrennt. Alles kommt ihm unwirklich vor, und er fragt sich, ob das Leben mit seinen Zufällen und schick­sal­haften Wendungen, durch die der Betrüger triumphiert und der Tugendhafte leidet, nicht einfach nur ein Traum ist. Doch er gibt die Hoffnung nicht auf, Psyche wiederzuse­hen und glücklich zu werden.

Agathons Tugend wird auf die Probe gestellt

Auf dem Sklaven­markt in Smyrna wird Agathon von Hippias, einem Sophisten, gekauft. Die Sophisten ziehen reiche Jünglinge an sich, indem sie ihnen versprechen, sie zu perfekten Rednern, Politikern oder Kriegsh­er­ren auszubilden, und indem sie sie in der Kunst der Verstellung un­ter­richten. Hippias, der seine Mitmenschen allein schon durch sein gutes Aussehen und sein selb­st­sicheres Auftreten für sich einnimmt, hat es mit seiner verlogenen Weisheit­slehre zu einem Vermögen gebracht und bewohnt ein prächtiges Haus, angefüllt mit den schönsten Kunstschätzen und den reizendsten Sklaven und Sklavinnen. Nun ist er alt und hofft, in Agathon, dem er sofort seine Neigung zur Philosophie ansieht, einen würdigen Nachfolger zu finden.

„Damit Agathon das Bild eines wirklichen Menschen wäre, in welchem viele ihr eigenes erkennen sollten, konnte er, wir behaupten es zu­ver­sichtlich, nicht tu­gend­hafter vorgestellt werden, als er ist (…)“ (S. 13)

In einem langen Gespräch versucht Hippias, Agathon von seinem Idealismus abzubringen. Hippias hält die Welt für ein Produkt des Zufalls und erklärt Agathon, dessen Idee von einem höchsten Geist, der alles nach einem vernünftigen Plan erschaffen habe, sei eine Wah­n­vorstel­lung. Statt einen un­sicht­baren, abstrakten, sinnlich nicht wahrnehm­baren Gott zu verehren und auf ein besseres Leben nach dem Tod zu hoffen, solle er lieber im Hier und Jetzt leben, der Stimme der Natur folgen und seine natürlichen Bedürfnisse befriedigen, sich sinnlichen Vergnügungen hingeben und Schmerz vermeiden. Darin sieht Hippias die wichtigste Vo­raus­set­zung des Glücks.

„Und ist denn das Leben ein Traum, ein bloßer Traum, so eitel, so un­wesentlich, so unbedeutend als ein Traum?“ (Agathon, S. 40)

Agathon ist keineswegs un­empfind­lich für Schönheit. Er un­ter­schei­det zwischen tierischem Instinkt und dem Willen der Seele. Er gesteht, dass er Hippias’ reizvolle Sklavin Cynthia begehrt. Diese soll ihn verführen und sein tu­gend­haftes Verhalten auf die Probe stellen, doch er widersteht der Verlockung: Wer stets seiner Begierde nachgebe und nur seinen eigenen Nutzen verfolge, handle irgendwann un­weiger­lich gegen die Moral. Tu­gend­haftes Handeln aber schenke viel mehr Glück als alle sinnlichen Genüsse. Doch Hippias gibt nicht auf: Danae, nicht nur die Schönste unter seinen Gesellschaf­terin­nen, sondern auch noch spröde und tugendhaft, soll Agathons feste Vorsätze zum Wanken bringen. Sie selbst sucht einen Mann, der zwar für ihre Reize empfänglich ist, aber nicht nur auf das Äußere achtet, sondern dahinter ihre schöne Seele sieht. Agathon verliebt sich sofort in sie. Er nimmt Hippias’ Angebot an, auf Danaes Landgut Aufseher zu werden. Zunächst ist die Liebe der beiden rein platonisch, doch bald lieben sie sich auch körperlich lei­den­schaftlich – und Psyche ist vergessen.

Agathons Geschichte

Nach Wochen der Abwesenheit kehrt Hippias zurück und erkennt an Agathons verändertem Aussehen und Verhalten gleich, dass sein Plan aufgegangen ist. Danae bestätigt ihm, dass ihr Komplott erfolgreich war und sie Agathon verführt hat – sie gesteht aber zugleich, dass sie den jungen Mann von ganzem Herzen liebt. Der wiederum träumt in der Nacht, dass Psyche über seine Untreue trauert, und sehnt sich plötzlich nach seinem tu­gend­haften Leben zurück. Als Danae seine Niedergeschla­gen­heit bemerkt und nach der Ursache dafür fragt, erzählt ihr Agathon die Geschichte seiner Kindheit und Jugend.

„Es gibt so verschiedne Gattungen von Liebe, daß es, wie uns ein Kenner derselben versichert hat, nicht unmöglich wäre, drei oder vier Personen zu gleicher Zeit zu lieben, ohne daß sich eine derselben über Untreue zu beklagen hätte.“ (S. 140)

Elternlos wuchs er im Tempel von Delphi auf, umgeben von den schönsten Kunstwerken, Schätzen und Geschenken, die den Göttern geopfert worden waren. Der ständige Anblick dieser Pracht bewirkte, dass er sich Träumen hingab, die ihm mehr Freude und Zufrieden­heit boten als aller materielle Reichtum. Der Priester Theogiton machte ihn mit den Lehren des Orpheus vertraut und unterwies ihn darin, durch geheime Rituale den Geist vom Körper zu lösen und sich so auf die Begegnung mit dem Göttlichen vorzu­bere­iten. Das entfachte Agathons Fantasie, und bald begriff er, dass die Ein­bil­dungskraft stärker ist als alles, was man durch die Sinne wahrnimmt. Eines Nachts erschien ihm in einer Höhle der Gott Apollo, doch schon bald merkte Agathon, dass sich dahinter Theogiton selbst verbarg. Dennoch behielt er seine Neigung zum Wunderbaren und seinen Glauben an ein höheres Wesen, das alles erschaffen hat und mit dem sich der Mensch vereinigt, sofern er durch die Betrachtung der Natur, in der sich das Göttliche spiegelt, Schönheit der Seele erlangt.

„So seltsam es klingt, so gewiß ist es doch, daß die Kräfte der Einbildung dasjenige weit übersteigen, was die Natur unsern Sinnen darstellt (…)“ (Agathon, S. 211)

Als Agathon 18 Jahre alt war, verliebte sich die schöne, schon etwas ältere Ober­pries­terin Pythia in ihn. Doch er hatte nur eine Unbekannte im Sinn, die er auf einem Fest inmitten einer Schar junger Mädchen erblickt hatte. Deren äußere Schönheit reichte zwar nicht an die der anderen heran, in ihren Zügen erkannte er aber Schönheit der Seele. Psyche, so ihr Name, schien auch von ihm angetan. Die beiden See­len­ver­wandten, deren Gesichtszüge sich erstaunlich ähnlich waren, trafen sich heimlich, schlossen Fre­und­schaft und liebten sich wie Bruder und Schwester. Pythia raste vor Eifersucht, und plötzlich war Agathons Geliebte ver­schwun­den. Nachdem er erfahren hatte, dass Psyche nicht mehr in Delphi war, floh er, um sie zu suchen.

„Mit einem Wort, ich wußte noch nicht, daß Tugend, Verdienste und Wohltaten gerade dasjenige sind, wodurch man gewisse Leute zu dem tödlichsten Haß erbittern kann.“ (Agathon, S. 270)

In Korinth nahm ihn ein reicher Athener aus altem und vornehmem Geschlecht in seinem Haus auf. Später stellte sich heraus, dass es Agathons Vater Stratonicus war. Zusammen kehrten sie nach Athen zurück, wo Agathon sich politisch betätigte. Er besuchte die damals noch hoch angesehene Schule Platons, mit dem ihn ein fre­und­schaftliches Verhältnis verband. Rasch gewann er Achtung und Zuneigung der Athener und stieg in die höchsten Ämter der Republik auf. Doch nach dem Tod seines Vaters, dessen Reichtümer er erbte, schlug seine Popularität in Neid und Hass um. Seine Feinde, darunter die Edelsten und Reichsten unter den Athenern, überzeugten das wankelmütige Volk mit Lügen, Intrigen und rhetorischen Tricks davon, dass Agathon einen Anschlag auf die Republik geplant habe. Daraufhin wurde er für immer aus Athen verbannt und verlor alle seine Güter.

Zurück zur Tugend

Danae fürchtet nach dieser Erzählung, ihren Geliebten eines Tages zu verlieren. Um ihn zu halten, überschüttet sie ihn mit Zärtlichkeiten, bewirkt dadurch aber das Gegenteil: Agathon ist von Danaes Liebe übersättigt und ermüdet. Klug zieht sie sich für eine Weile zurück und facht durch ihre Abwesenheit seine Liebe erneut an. Ihretwegen widersteht Agathon allen Ver­lock­un­gen durch Hippias, doch die bösen Geschichten, die dieser ihm über Danae erzählt, wecken in ihm Zweifel an ihrer Tugend: Hippias soll auch schon mit Danae geschlafen haben und die ganze Liebesgeschichte zwischen Agathon und ihr soll ein abgekartetes Spiel gewesen sein. Agathon ist entsetzt und sehnt sich plötzlich wieder nach Psyche. Im Vergleich zu seiner un­schuldigen und reinen Jugendliebe, mit der er die zärtlichste See­len­vere­ini­gung erlebte, schneidet Danae mit ihrer Verführungskunst schlecht ab. Aber Niedergeschla­gen­heit und Scham halten nicht lange an, und schon bald siegt die Eigenliebe. In der Erinnerung daran, wer er einmal war, beschließt Agathon, das wollüstige Leben hinter sich zu lassen und auf den Pfad der Tugend zurückzukehren. Noch bevor Danae zurückkehrt und ihn davon abhalten kann, verlässt er Smyrna.

„Aber Agathon hatte größere und feinere Begriffe von der Tugend.“ (S. 357)

Bei seiner Abreise trifft Agathon einen alten Bekannten, einen Kaufmann aus Syrakus. Der berichtet von der Bekehrung des einst tyran­nis­chen Herrschers Dionysius zu Platons Lehren, was ganz Sizilien mit neuer Hoffnung erfülle. Agathon nimmt die Einladung des Kaufmanns, ihn nach Syrakus, in dieses neue Zentrum der Tugend und Weisheit, zu begleiten, freudig an. Dort trifft er den Philosophen Aristipp wieder, den er noch aus Athen kennt und der ihm erzählt, Dionysius habe sich unter dem schädlichen Einfluss einiger Höflinge von Platon losgesagt und sei auf dem besten Weg, wieder zum Tyrannen zu werden. Agathon überlegt, an Platons Stelle zu treten und Dionysius’ Berater zu werden. Er hält von der Demokratie ebenso wenig wie von der Aris­tokratie, und eine aus ver­schiede­nen Staats­for­men gemischte Verfassung ist ihm zu instabil und zu chaotisch. Die beste Regierungs­form ist seiner Ansicht nach immer noch die Monarchie – sofern ein Fürst gute, tugendhafte Berater hat und nicht intrigante Höflinge, die das Volk mit ihrer Ver­stel­lungskunst betrügen.

Agathon als Fürsten­ber­ater

Durch Vermittlung von Aristipp erhält Agathon Zugang zum Fürsten Dionysius, der ihn inmitten seiner Hofleute empfängt. Nicht nur durch seine Schönheit, auch durch Beschei­den­heit und Klugheit gelingt es Agathon, als ehemaligem Schüler Platons, den Herrscher für sich einzunehmen. Gle­ichzeitig erregt er aber auch den Neid der Höflinge. Mit einer flammenden Rede gegen die Republik, die keineswegs für Tugend, Gerechtigkeit und Gemeinwohl, sondern nur für Bürgerkrieg stehe, und seiner Lobrede für die Monarchie bezaubert und überzeugt Agathon das Publikum. Er tritt in den Dienst des Dionysius, mit dem Vorbehalt allerdings, sich jederzeit wieder zurückziehen zu können, wenn er sieht, dass seine Arbeit nicht mehr von Nutzen ist. Nachdem er zunächst ein speku­la­tiver Schwärmer in Delphi, dann ein Platonist und Re­pub­likaner in Athen und durch die Begegnung mit Danae schließlich ein Lüstling gewesen ist, wird er nun also zum monarchisch gesinnten Fürsten­ber­ater. Doch diese scheinbar widersprüchlichen Facetten, die er aufgrund wechselnder äußerer Umstände nacheinan­der durchlebt hat, ändern nichts an Agathons Wesenskern.

„Es ist unmöglich, daß indem alles um uns her sich verändert, wir allein unveränderlich sein sollten; und wenn es auch nicht unmöglich wäre, so wär’ es doch un­schick­lich.“ (S. 435 f.)

Agathon ist durch Erfahrung re­al­is­tis­cher geworden. Er hält den Menschen zwar nicht grundsätzlich für schlecht, hat jedoch gelernt, zwischen dem Menschen als reinem, the­o­retis­chem Begriff und dem Menschen als konkretem Wesen, der den Zwängen seiner Natur aber auch der Gesellschaft unterliegt, zu dif­feren­zieren. Er hat gelernt, wie wenig man sich auf andere und auf sich selbst verlassen kann; dass Pläne nichts taugen und man stets nur auf Umwegen zum Ziel gelangt. Er hegt zwar keine Hoffnung, Dionysius zu einem Musterfürsten zu machen, immerhin aber, seine Schwächen mindern und seine guten Anlagen stärken zu können. Zwei Jahre lang genießt er das Vertrauen des Fürsten und der ganzen Nation, bis er zum Opfer einer höfischen Verschwörung wird und erkennen muss, dass Dionysius un­verbesser­lich ist. Alles, was Agathon bei Platon über Schönheit und Würde der men­schlichen Natur gelernt hat, erscheint ihm nun als Lüge; er fragt sich, ob Hippias mit seinem Bild vom Menschen als ego­is­tis­chem, ma­te­ri­al­is­tis­chem Geschöpf nicht doch Recht hat. Er sieht ein, dass er die Welt nicht retten kann, doch sein Hang zur Tu­gend­haftigkeit und zum Ide­alisch-Schönen ist zu tief verwurzelt, als dass er sich durch äußere Zufälle einfach zerstören ließe.

Die neue Familie

In Tarent, wohin Agathon mithilfe von Archytas gelangt, dem weisen und tu­gend­haften Herrscher der Stadt und einem alten Freund seines Vaters, findet er endlich sein Ideal der Monarchie ver­wirk­licht: Der greise Archytas regiert sein Volk wie ein Vater und wird von ihm geliebt. Er nimmt Agathon wie einen Sohn in seinem Haus auf. Dort trifft dieser überraschend auf Psyche. Sie ist mit Critolaus, einem der Söhne des Archytas, verheiratet und entpuppt sich schließlich als Agathons tot geglaubte Schwester. Statt sich politisch zu engagieren, arbeitet Agathon an sich selbst, beschäftigt sich mit den Wis­senschaften und Künsten, durchschaut alle dog­ma­tis­chen Weisheiten als bloße Luftschlösser und vertraut fortan seinem eigenen Instinkt. Durch Zufall trifft er Danae wieder, die seit der Flucht ihres Geliebten aus Smyrna in vol­lkommener Abgeschieden­heit in der Nähe von Tarent lebt. Sie schließt Fre­und­schaft mit Archytas’ ganzer Familie, wird Psyches beste Freundin und kommt täglich zu Besuch. Agathon würde seine ehemalige Geliebte gern heiraten, doch die schöne Danae, durch den Umgang mit ihren neuen Freunden in ihrer Tu­gend­haftigkeit bestärkt, widersteht diesem Wunsch und möchte ihr neues entsa­gungsvolles Leben weiterführen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Christoph Martin Wielands zweiteilige Geschichte des Agathon ist grundsätzlich chro­nol­o­gisch erzählt, enthält aber einige Ab­schwei­fun­gen, Reflexionen und Rückblenden. Der Erzähler gibt vor, ein altes, lückenhaftes und daher ergänzungsbedürftiges griechis­ches Manuskript über die Geschichte des his­torischen Agathon zu publizieren, die er kommentiert und reflektiert. Mit der Technik eingeschobener Kommentare und Exkurse aus der Sicht einer souveränen Erzählerfigur folgt Wieland dem Vorbild von Henry Fieldings Tom Jones. Immer wieder nimmt er die Perspektive Agathons sowie ver­schiedener anderer Figuren ein und wendet sich in heiter-selb­stiro­nis­chem Ton direkt an den Leser. Auf geistreiche und humorvolle Weise the­ma­tisiert er das Erzählen selbst und legt dadurch offen, dass wir es trotz des Anspruchs auf historische Wahrhaftigkeit mit einem poetischen Konstrukt zu tun haben. Die langen, rhetorisch aus­ge­feil­ten Re­de­pas­sagen, in denen die Figuren ihre Weltsicht darlegen, un­ter­brechen immer wieder den Erzählfluss und wirken oft lehrbuch­haft.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die Geschichte des Agathon handelt weniger von äußeren Abenteuern und his­torischen Ereignissen als vielmehr von der inneren Entwicklung des Helden, der seine schwärmerischen Ideale relativiert und zu einem Menschen in einem Gle­ichgewicht von Verstand und Gefühl reift. Wieland zeichnet kein Modell eines vollkommen tu­gend­haften Mannes, sondern das Bild eines wirklichen Menschen. Seine Hauptfigur ist keineswegs fehlerlos, sondern von En­thu­si­as­mus, Ruhmsucht und Wollust getrieben.
  • Obgleich durchaus realistisch, spielt die Ro­man­hand­lung nicht in Wielands Gegenwart, sondern im vierten Jahrhundert v. Chr., während der Blütezeit Athens. Das war zum einen der strengen Zensur geschuldet, verweist aber an­der­er­seits auf den mod­ell­haften Charakter der Geschichte des Agathon. Agathons Handeln, Denken und Fühlen folgen Gesetzen, die nach Wieland für alle Menschen jeder Epoche von Natur aus gelten.
  • In vielen mehr oder minder versteckten Andeutungen zieht Wieland – für den Zeitgenossen unübersehbare – Parallelen zu seiner eigenen Epoche, so beispiel­sweise in seiner Darstellung der Tyrannei und der höfischen Intrigen in Syrakus, mit der er auf die Situation an den ab­so­lutis­tis­chen Höfen des 18. Jahrhun­derts anspielt.
  • Auch wenn der Widerspruch zwischen Ich und Welt am Ende auf eher märchenhafte Weise aufgelöst wird, liegt ein Hauch von Resignation über dem Schluss des Romans. Die idyllische Staats-, Familien- und Fre­und­schaft­su­topie erfüllt sich nur auf Kosten von aktivem Leben und erotischer Lei­den­schaft.
  • Wieland befasst sich eingehend mit den ver­schiede­nen Formen der Liebe und – provozierend für seine Zeit – mit den Ver­lock­un­gen der körperlichen Liebe, die er keineswegs verteufelt. Auch wenn Agathon die geistige und die körperliche Liebe anfangs noch als Widerspruch erfährt, schließen sie einander nicht aus.
  • Deutlich ist der au­to­bi­ografis­che Bezug des Romans: Während der junge Wieland unter dem Einfluss des Pietismus eine schwärmerisch-christliche, sin­nes­feindliche Haltung einnahm, wandelte er sich später zum Aufklärer. Aufgrund mancher Vorwürfe gegen seine Kehrtwen­dung verspürte Wieland das Bedürfnis, eine Apologie zu verfassen und der lit­er­arischen Öffentlichkeit die Geschichte seines Sinneswan­dels plausibel zu machen.

His­torischer Hintergrund

Aufklärung und Empfind­samkeit

Im Deutschland des späten 18. Jahrhun­derts war die politische, wirtschaftliche und kulturelle Macht in den Händen absoluter Herrscher und ihrer Höfe konzen­tri­ert. Die Gesellschaft war ständisch-hi­er­ar­chisch gegliedert, und noch beherrschte Religion das Weltbild der meisten Menschen. Seit Beginn des 18. Jahrhun­derts hatte jedoch – ausgehend von England und Frankreich – die Bewegung der Aufklärung auch Deutschland erfasst. So un­ter­schiedlich diese sich in den ver­schiede­nen Nationen gestaltete, verfolgte sie doch ein ein­heitliches Ziel: die Verbesserung des Menschen zu einem mündigen, toleranten und ver­nun­ft­ges­teuerten Wesen. Aufklärerische Philosophen wie David Hume, Voltaire oder Denis Diderot träumten von einem friedlichen Miteinander aller Menschen – jenseits ständischer und religiöser Grenzen. Sie verstanden sich als Erzieher, die den Menschen auf dem Weg der Selb­stver­vol­lkomm­nung anleiteten. Ihr Ziel war Bildung im Sinne einer planmäßigen Entwicklung des Einzelnen, durch Förderung seiner natürlichen Anlagen, zu einem sittlichen, vernünftigen und zivil­isierten Wesen.

Gegen den Ra­tio­nal­is­mus der Aufklärer betonte die um die Jahrhun­dert­mitte entstehende Strömung der Empfind­samkeit stärker das Subjektive und Emotionale. Überschwängliche Gefühle galten ihr nicht als Makel, sondern als Zeichen eines edlen Menschen. Anhänger der Bewegung richteten den Blick nach innen, auf die eigenen Befind­lichkeiten und seelischen Regungen. Na­tur­erleb­nis, Lebens­genuss und durch Anmut, Fre­und­schaft und Tugend ausgelöste Er­grif­f­en­heit nahmen dabei eine zentrale Stellung ein. Von großer Bedeutung waren neben Jean-Jacques Rousseaus Roman Julie oder die Neue Héloïse vor allem Samuel Richardsons Briefromane Pamela und Clarissa, die auch in Deutschland begeistert gelesen wurden. Anstatt äußere Ereignisse und Abenteuer zu schildern, richtete Richardson den Blick auf die Gefühle und See­len­er­leb­nisse seiner Figuren, vor allem der weiblichen Hauptcharak­tere. Da Henry Fielding an dem Roman Clarissa eine gewisse Heuchelei missfiel, verfasste er als Reaktion darauf 1749 seinen Roman Tom Jones, der die engen moralischen Grenzen seiner Zeit sprengte.

Entstehung

Die Charak­ter­isierung seiner Hauptfigur als Held mit men­schlichen Schwächen sowie eine auffällige struk­turelle und erzähltech­nis­che Ähnlichkeit mit Tom Jones weisen auf den großen Einfluss hin, den Fieldings Roman auf die Entstehung des Agathon hatte. Wieland selbst betonte später in seinem Aufsatz Über das Historische im Agathon die Nähe zwischen Tom Jones und seinem eigenen Werk – auch wenn der Roman des Engländers in der Gegenwart, sein eigener dagegen in einer ide­al­isierten Antike spielte.

Anfang 1760 begann Wieland mit der Nieder­schrift des Romans. Immer wieder ließ er die Arbeit an dem schwierigen Projekt monatelang ruhen und wandte sich anderen Projekten, etwa der Übersetzung von Shake­speare-Dra­men, zu. Das un­vol­len­dete Manuskript des Agathon gab er Freunden zu lesen, mit der Bitte um ein Urteil – er begann aber auch schon früh mit der Suche nach einem Verleger, denn der Agathon sollte sein erstes Buch „für die Welt“ sein. Nach Ablehnungen mehrerer deutscher und Schweizer Verleger erschien der Roman in zwei Bänden 1766 und 1767 im Zürcher Verlag von Salomon Gessner – allerdings ohne Verfasser-, Orts- und Ver­lagsangabe, da der Agathon nicht durch die Zensur gekommen war. Schon in der ersten Fassung, die Fragment blieb, kündigte der Autor eine Fortsetzung seines Werks an. Aufgrund der schlechten Verkauf­szahlen – von 1500 Exemplaren wurden nur 1100 verkauft –, aber auch durch Rezensionen zu seinem Werk angeregt, begann Wieland 1771 mit der Übe­rar­beitung des Agathon, den er um die Geschichte der Danae und den Aufsatz Über das Historische im Agathon ergänzte. Die zweite Fassung erschien 1773, eine dritte 1794.

Wirkungs­geschichte

Das zeitgenössische Publikum reagierte zwiespältig auf die erste Fassung der Geschichte des Agathon, die mit ihrer Kritik am Ab­so­lutismus und mit ihrer ungewohnt offenen Darstellung sinnlich-ero­tis­cher Liebe eine Provokation bedeutete. Gotthold Ephraim Lessing urteilte, es sei „der erste und einzige Roman für den denkenden Kopf“. Einige Rezensenten kri­tisierten dagegen die zu komplexe Philosophie, andere ver­meintliche Anzüglichkeiten. Die zweite Fassung wurde in lit­er­arischen Kreisen ebenfalls rege diskutiert und mit hohem Lob bedacht. Am Beispiel des Agathon entwickelte Friedrich von Blanck­en­burg 1774 seine Theorie über die Gattung des Romans als innere Geschichte eines Charakters, der in Au­seinan­der­set­zung mit äußeren Umständen und der Ausbildung seiner Anlagen zu einer in­di­vidu­ellen Persönlichkeit reift. Das Werk begründete die lit­er­arische Gattung des Bil­dungsro­mans, die in Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meister einen ersten Höhepunkt fand.

Über den Autor

Christoph Martin Wieland wird am 5. September 1733 in Ober­holzheim bei Biberach als Sohn eines Pfarrers geboren. In Biberach erhält er Pri­vatun­ter­richt und besucht die städtische Latein­schule. 1747 geht er auf ein pietis­tis­ches Internat bei Magdeburg. In dieser Zeit schwärmt er für den Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock. 1749 nimmt Wieland das Studium der Philosophie in Erfurt auf, er kehrt aber schon ein Jahr später nach Biberach zurück, wo er sich mit seiner Cousine Sophie Gutermann verlobt. In Tübingen studiert er für kurze Zeit widerwillig Jura. Auf Einladung des Schweizer Kritikers und Übersetzers Johann Jacob Bodmer, der ihn un­ter­richtet, zieht er 1752 nach Zürich und arbeitet zunächst dort, später in Bern als Hauslehrer. Er beginnt zu schreiben und erregt mit seinem Drama Lady Johanna Gray (1758) einige Aufmerk­samkeit. 1760 kehrt er nach Biberach zurück, wo er zum Senator und Kan­zleiver­wal­ter der Stadt ernannt wird. Nachdem bereits 1753 die Verlobung mit Sophie gelöst worden ist, verliebt sich Wieland in Christine Hagel, seine Haushälterin, die 1763 von ihm schwanger wird. Das Kind stirbt kurz nach der Geburt. Auf Druck der Familie heiratet Wieland 1765 die Kauf­mannstochter Anna Dorothea von Hillenbrand, mit der er 13 Kinder haben wird. Unter dem Einfluss der französischen Aufklärung, vor allem Denis Diderots und Voltaires, wandelt sich der ehemals fromme und sit­ten­strenge Wieland zu einem heiteren, skeptischen Freigeist. Nicht nur seine Shake­speare-Überset­zun­gen, auch Romane wie Geschichte des Agathon (1766/67) oder Verserzählungen wie Musarion (1768) bringen ihm Anerkennung und Ruhm. Er wird als Professor für Philosophie nach Erfurt und 1772 als Erzieher des Erbprinzen Karl August an den Weimarer Hof berufen. Dieser wandelt sich unter Wielands Einfluss zum Musenhof, an dem später Goethe, Schiller und Herder wirken. 1773 gründet er die Zeitschrift Der Teutsche Merkur. Aus­ges­tat­tet mit einer lebenslan­gen Pension lebt er ab 1798 auf seinem Gut in Oßmannstedt bei Weimar als freier Schrift­steller. Nach dem Tod seiner Frau kehrt er 1803 nach Weimar zurück, wo er am 20. Januar 1813 stirbt.