Laterales Führen
Alles hört auf mein Kommando – so lautet etwas überspitzt die Kurzfassung des hierarchischen Führungsmodells. Der Leiter steht an der Spitze und trifft die Entscheidungen. Die Mitarbeiter erfüllen die Aufgaben und Anweisungen pflichtbewusst, pünktlich und korrekt; die Leistung wird kontrolliert. Derartige steile Hierarchien können durchaus zum Erfolg führen. In einer Wirtschaftswelt, die sich immer schneller verändert, erweist sich das System aber oft als zu träge. Befehlsempfängern fehlt die Eigenmotivation. Nicht einmal eine üppige Bezahlung als äußerer Leistungsanreiz kann diesen Mangel kompensieren. Gegen allzu autoritäres, hierarchisches Führen bildet sich sogar Widerstand: Dienst nach Vorschrift, Krankfeiern, Sabotage.
„Führen steht für Einflussnahme.“
Das hierarchische Modell geht überwiegend davon aus, dass die Menschen zur Arbeit gezwungen werden müssen oder dass sie ihrer Arbeit aus Gründen nachgehen, die nichts oder nur wenig mit ihren Aufgaben zu tun haben. Das laterale Führen oder Führen auf Augenhöhe hingegen geht davon aus, dass die Mitarbeiter Eigenverantwortung übernehmen, sich selbst motivieren und sich entfalten wollen. Hier liegt ein Potenzial, das es zu nutzen gilt. Vor allem Projektmanager, die keine Weisungsbefugnis gegenüber den anderen Projektmitarbeitern haben, leiten ihre Kollegen mithilfe legitimer Formen von Beeinflussung, um ihre Ziele erreichen zu können.
Führen durch Beeinflussung
Mit Beeinflussung sind weder Manipulationen noch mikropolitische Tricks oder Machtspielchen gemeint, die Kollegen und Mitarbeiter instrumentalisieren sollen. Das würde nicht dem Wertekanon des lateralen Führens entsprechen. Grundvoraussetzungen einer positiven Einflussnahme sind vielmehr Aufmerksamkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit den Kollegen oder Teammitgliedern gegenüber und das Herstellen einer guten Arbeitsatmosphäre. Durch umfassende Informationsweitergabe bringen Sie Ihre Wertschätzung zum Ausdruck. Informationen als Machtmittel zurückzuhalten, wäre nicht sachdienlich, sondern demotivierend, ja u. U. sogar kontraproduktiv: Auch die Mitarbeiter könnten anfangen, Informationen zu verschweigen.
„Wo immer Menschen sich begegnen, findet Kommunikation und damit Einflussnahme statt.“
Führen auf Augenhöhe beruht in jeder Hinsicht auf Gegenseitigkeit. Jeder Teilnehmer geht den anderen gegenüber die Verpflichtung ein, sich der Sache zu widmen. Eine Festigung der sozialen Beziehungen kann ebenso hilfreich sein wie authentisches und sympathisches Auftreten. Sie müssen sich nicht einschmeicheln. Ermutigen, Beziehungen aufbauen und verstärken, Verständigung optimieren, Emotionen wecken, Einverständnis und Vertrauen herstellen, die Zielorientierung fördern, überzeugen, Feedback geben, Mitarbeiter einbinden – all das sind positive Einflussmöglichkeiten. Alles, was blockiert, ist der lateralen Führung abträglich.
Führen durch Überzeugung
Ihre eigene Überzeugung ist eine Grundvoraussetzung für die Überzeugung der Mitarbeiter und die Vertrauensbildung in der Gruppe. Mithilfe von W-Fragen (Weshalb? Wozu? Womit? Wie? Mit wem?) können Sie Ihre persönliche Überzeugung klären und sie anschließend auf andere übertragen. Dadurch entsteht ein partnerschaftliches Verhältnis. Vertrauen ermöglicht es, Aufgaben und Verantwortung zu übertragen. Diese Art von umfassender Delegierung verflacht automatisch die Hierarchie.
Führen durch Zielsetzung
Ein zentraler Punkt des lateralen Führens ist eine konkrete Zielsetzung. Vage Formulierungen wie „Sie müssen besser werden“ reichen nicht aus. Das Ziel soll eine echte Herausforderung darstellen, damit die nötigen Kräfte freigesetzt werden. Idealerweise verbinden sich die unternehmerischen Ziele mit den persönlichen Zielen der Mitarbeiter. Dies entspricht der verbreiteten Praxis des „Management by Objectives“. Gemäß der bekannten SMART-Formel sollen Ziele spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert sein. Je besser es gelingt, ein Ziel emotional zu besetzen, es quasi in eine bildhafte Vision zu gießen, umso höher wird die Eigenmotivation der Mitarbeiter oder der Teamkollegen sein. Versetzen Sie sich nacheinander in die Position eines Träumers, eines Realisten und eines Kritikers, so gelingt es Ihnen leichter, das Ziel optimal zu erfassen.
Führen durch wertschätzende Beziehungen
In der alltäglichen lateralen Führungsarbeit kommt es darauf an,
- alle gleich zu behandeln,
- alle wertschätzend zu behandeln und zu Wort kommen zu lassen,
- die Schüchternen und Stillen einzubinden,
- Regeln aufzustellen und ihre Einhaltung zu überwachen,
- Störungen und sich anbahnende Konflikte sogleich zu benennen,
- durch Fragen den Arbeits- und Lösungsprozess voranzubringen und
- Aussagen und Ergebnisse in neutraler Weise zusammenzufassen.
„Es geht bei Führung auf Augenhöhe um Kooperation und Vertrauen und das gemeinsame Erreichen von gemeinsam vereinbarten Zielen.“
Die Teamarbeit kann von einer Vielzahl psychosozialer Faktoren beeinflusst werden. Diese schwingen unterschwellig mit und sind nicht ohne Weiteres sichtbar. Sympathie und Antipathie, Misstrauen und Vertrauen sind Beispiele dafür. In interkulturellen Gruppen kommen unterschiedliche kulturelle Prägungen oder Wertvorstellungen hinzu. Beim Führen auf Augenhöhe müssen Sie diese Faktoren stets aufmerksam im Blick behalten. Ein positives Gruppengefühl ist allerdings nicht notwendigerweise mit einer positiven Gruppenleistung gleichzusetzen.
„Nur die eigene Überzeugung kann die Grundlage für laterales Führen sein.“
Wissenschaftliche Studien unterscheiden bestimmte Charaktertypen. Wenn Sie diese kennen, können Sie Persönlichkeiten und deren Verhalten besser einschätzen. Daraus ergeben sich gewisse Steuerungs- und Einflussmöglichkeiten im Gruppenprozess. In der antiken Temperamentenlehre unterschied man den Choleriker, den Melancholiker, den Sanguiniker und den Phlegmatiker. Heute kategorisiert man nach den Dimensionen der so genannten Big Five:
- Gelassenheit vs. Angespanntheit,
- Extraversion vs. Introversion,
- Offenheit vs. Festgefahrensein,
- soziale Verträglichkeit vs. Egozentrik,
- Gewissenhaftigkeit vs. Unorganisiertheit.
„Der Dialog ist die dem lateralen Führen angemessene Kommunikationsform.“
Jede Dimension stellt zwei Extreme dar, zwischen denen sich ein Mensch bewegen kann. Sie sind bei keinem Individuum in Reinkultur ausgeprägt. Gerade in Gruppenprozessen kann sich jedes Merkmal so oder so auswirken. Wenn Sie diese Dimensionen kennen, können Sie andere leichter erfassen und im Sinne von Wertschätzung, Achtung, Toleranz und Einfühlungsvermögen besser auf sie eingehen. Es ist eine Führungsaufgabe, Mitarbeiter oder Kollegen und ihren Hintergrund so gut wie möglich zu kennen.
Führen durch Kommunikation
Wo immer Menschen zusammenkommen, wird unausweichlich kommuniziert: verbal wie nonverbal, etwa durch Körpersprache oder Abstandhalten. Gestik, Augenkontakt, Körperhaltung, Tonlage und Lächeln machen einen Großteil der gesamten Kommunikation aus. Jede Art der Kommunikation ist ein Prozess wechselseitiger Beeinflussung. Jede Äußerung setzt sich aus vier Bestandteilen zusammen, die alle beim Führen auf Augenhöhe von Bedeutung sind und beachtet werden sollten:
- Auf der Sachebene werden Informationen und Fakten mitgeteilt.
- Jede Aussage hat eine Selbstkundgabe über die eigene Befindlichkeit.
- Die Beziehung zum Gegenüber erkennt man u. a. an Tonfall und Mimik.
- Der Appell bringt Wünsche, Ratschläge oder Handlungsaufforderungen zum Ausdruck.
„Unter sozialer Kompetenz versteht man z. B. die Fähigkeit, Kontakte und Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen und diese Beziehungen auch pflegen und aufrechterhalten zu können.“
Die ideale Kommunikationsform des lateralen Führens ist der Dialog, der offene, frei fließende Austausch. Feedback ist ein wichtiges Kommunikationsmittel, das hilft, Missverständnisse und Fehlinterpretationen zu vermeiden, und Wertschätzung zum Ausdruck bringt. Kontroverse Kommunikationsformen sind Diskussion, Disput und Debatte. Auch wenn der einheitsstiftende Dialog schwierig zu realisieren ist, sollten Sie danach streben, hierarchische Elemente aus der Führungsarbeit herauszuhalten.
„Augenkontakt ist die vertrauensbildende Maßnahme schlechthin.“
Legen Sie sich Rechenschaft über Ihre eigenen Reaktionen ab: Sind Sie trotzig, oberlehrerhaft, streng, überfürsorglich? Noch wichtiger ist es im Gruppenprozess, die Gefühle der anderen wahrzunehmen und zu verstehen, evtl. eigene Abneigungen abzubauen, mit Emotionen positiv umzugehen und Beziehungen bewusst zu pflegen. Laterales Führen ist im Wesentlichen Beziehungsmanagement.
Führen durch Motivieren
Sie müssen selbst von Ihrer Aufgabe und Ihren Zielen begeistert sein, sonst wird die Übernahme einer Führungsaufgabe schwierig. Für jeden Mitarbeiter und Kollegen findet sich eine Aufgabe, die seinen Fähigkeiten und seinem Charaktertypus entspricht und die ihn so stark emotional berührt, dass er sich von sich aus engagiert. Zudem neigen Menschen zur Gruppenbildung, weil sie dadurch Rückhalt und Sicherheit bekommen. Auch diesen Effekt sollten Sie zur Leistungssteigerung und Motivationsverstärkung nutzen.
Führen durch Konsensentscheidung
Der ergebnisoffene Dialog und das kreativitätssteigernde Brainstorming sind wesentliche Bausteine, um zu einer möglichst einvernehmlichen Problemlösung zu gelangen. Falls dieses Ziel nicht erreicht wird, lassen Sie einen Perspektivenwechsel zu und unterziehen Sie das Projekt durch verschiedene „Brillen“ noch einmal einer Revision.
Führen durch Konfliktbewältigung
Der offene Konflikt ist der Worst Case der Führungsarbeit. Sprechen Sie daher jedes Anzeichen für einen Konflikt frühzeitig an. Konflikte sind emotional und eskalieren leicht. Die letzten Stufen sind erreicht, wenn der Konflikt personalisiert wird, in offene Aggression und Gewalt umschlägt und manchmal bis zum Vernichtungswillen führt.
„Konflikte lösen emotionale Reaktionen aus. Sie verändern unseren emotionalen Zustand und stoßen die archaischen Reaktionen von Flucht oder Angriff an.“
Erarbeiten Sie Lösungsvorschläge, bewerten Sie sie und setzen Sie den oder die besten um. Nach einer bestimmten Frist kann die Situation neu bewertet werden. Notfalls können Sie einen externen Klärungshelfer, also einen Schlichter, beiziehen. Mit seiner Hilfe sollen sowohl die Sachverhalte als auch die Gefühlslage diskussionslos auf den Tisch gelegt werden. So kann der Konflikt wieder in eine offene Dialogform zurückgeführt werden.