Many Indias
„Indien ist genauso wenig ein Land wie der Äquator“, meinte einst Winston Churchill. In den 28 Bundesstaaten werden fast ebenso viele Sprachen und unzählige Dialekte gesprochen – neben Hindi und Englisch, was praktisch überall verstanden wird. Die wirtschaftlichen, klimatischen, geografischen und ethnischen Unterschiede zwischen Nord- und Südindien sind mindestens so groß wie die zwischen Griechenland und Finnland. In den Metropolen grenzen moderne Bürotürme an elende Slums, auf brandneuen Autobahnen überholen westliche Luxuskarossen Fahrradfahrer, Kühe und Ziegen. Die Hochschulen im Land bringen jährlich 1 Million neue Ingenieure hervor, aber weniger als die Hälfte aller indischen Frauen kann lesen und schreiben. Die meisten Inder verarbeiten diese gewaltigen Widersprüche durch innere Abschottung. Wenn sie „wir“ sagen, bezieht sich das selten auf alle Bewohner des Subkontinents, sondern auf ihre „Ingroup“, die sich aus Mitgliedern einer Volksgruppe und einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse zusammensetzt.
Tradition und Moderne
In Indien existieren viele Religionen nebeneinander; die meisten Menschen sind aber Hindus. Sie bekennen sich zum Kastensystem und glauben an die Wiedergeburt. Unter Karma verstehen sie die Bilanz der letzten Leben. Das Karma bestimmt, wie das nächste Leben aussehen wird. Der zunehmende Wohlstand hat Religiöses und Spirituelles nicht aus dem indischen Alltag verdrängt. Im Gegenteil: Moderne Büroarbeiter säubern ihre Computer rituell wie früher die Bauern ihre Werkzeuge, und junge Makler verneigen sich täglich vor der Ganesha-Statue an der Börse von Mumbai, damit der Gott Hindernisse aus dem Weg räume. Die sprichwörtliche „heilige Kuh“ wird von den Hindus als Symbol aufopfernder Mutterliebe verehrt und darf in vielen Bundesstaaten nicht geschlachtet werden. Die Synthese aus Altem und Neuem zieht sich wie ein roter Faden durch den indischen Alltag: So wurde etwa das Kastensystem offiziell abgeschafft. Posten im öffentlichen Dienst und Studienplätze an Universitäten werden nach Quoten vergeben, damit Mitglieder aller Religionen und Schichten berücksichtigt werden. Im Bewusstsein der Menschen ist das Kastensystem aber noch immer vorhanden, es ist Teil ihrer Identität. Die Kastenzugehörigkeit bestimmt etwa, was man isst und wen man heiraten darf.
Typisch deutsch, typisch indisch
Arbeitsam, zielorientiert, diszipliniert und gut organisiert – so sehen Inder ihre deutschen Kollegen. Deren Verhalten am Arbeitsplatz flößt Respekt ein, das Privatleben weniger. Deutsche gelten als übertrieben individualistisch, die Familie hält nicht zusammen, Rechnungen im Lokal werden getrennt bezahlt, und es wird wenig gefeiert. Hierarchien sind flach, das Statusbewusstsein gering. Es soll sogar Akademiker geben, die putzen und basteln – für Inder unvorstellbar. Die ausgeprägte Sachorientierung der Deutschen führt in der Zusammenarbeit mit Indern zu Spannungen. Viele Inder vermissen Flexibilität und Improvisationsbereitschaft.
„Man scherzt, dass ,die Wirtschaft nur nachts wächst, wenn die Bürokraten schlafen‘.“
Aus Sicht der Deutschen sind indische Geschäftspartner harmoniebedürftig und emotional. Hierarchien werden immer respektiert und sogar verlangt. Entsprechend unselbstständig und unorganisiert arbeiten viele Mitarbeiter. Die Bürokratie steht einem oft im Weg, doch dafür sind die Menschen optimistisch und glauben daran, dass alles machbar ist. Natürlich sind Verallgemeinerungen in einem so vielfältigen Land wie Indien problematisch. Dennoch lassen sich die folgenden Kulturstandards herausschälen:
- Familienorientierung: Hochzeiten werden im Familienrat beschlossen, ältere Geschwister bezahlen die Ausbildung der jüngeren und die Kinder sorgen für ihre Eltern im Alter. Genauso selbstverständlich ist es, dass indische Unternehmer Schlüsselposten mit Familienmitgliedern besetzen.
- Beziehungsorientierung: Ohne persönliche Beziehungen gibt es kein Geschäft. Wechselseitiges Vertrauen braucht Zeit, zahlt sich aber aus.
- Kommunikation: Sie dient dem Ausloten von Gefühlen und Beziehungen. Inder gehen Konflikten lieber aus dem Weg. Probleme sprechen sie verschlüsselt oder indirekt an.
- Hierarchieorientierung: Was früher die Kaste war, ist heute oft die soziale Position. Älteren wird immer mit Respekt begegnet, Rechte und Pflichten sind klar geordnet, und Statussymbole werden zur Schau gestellt.
- Flexibilität: Inder haben ein zyklisches Verständnis von Zeit. Sie hat weder Anfang noch Ende. Langzeitplanung ergibt keinen Sinn, da der Alltag unberechenbar ist.
Indischer Drill
Inder sind sehr leistungsorientiert. Wer das Geld hat, schickt seine Kinder auf eine Privatschule, denn der Zustand der staatlichen Schulen ist desolat. Oft lernen die Kleinen schon im Kindergarten lesen, schreiben und bis 100 zählen. Der Konkurrenzkampf um die wenigen Plätze an den Universitäten ist hart. Die meisten Schüler belegen neben der Schule Abendkurse, um die Aufnahmeprüfungen zu bestehen. Für die 5500 Plätze am renommierten Indian Institute of Technology (IIT) bewerben sich jährlich 300 000 junge Leute. Lehrer und Professoren sind Respektpersonen, deren Autorität nicht hinterfragt wird. Kritisches Denken, kreative Lösungswege und selbstständiges Arbeiten zählen nicht zu den Stärken der Absolventen. Oft müssen sie all das im Beruf noch lernen. Veranstalten Sie Schulungen für junge Universitätsabgänger, um sie fit zu machen. Wenn Sie Facharbeiter suchen, müssen Sie diese selbst ausbilden. Eine berufliche Fachausbildung gibt es nicht.
Wirtschaftsboom auf dem Subkontinent
Die marktwirtschaftlichen Reformen, die in Indien ab 1991 durchgesetzt wurden, tragen Früchte: Bis zum Krisenjahr 2008 wuchs die Wirtschaft vier Jahre lang um 9 %, danach immerhin noch um 6 %. Das Wachstum erfolgte vor allem im Dienstleistungssektor. Neun von zehn Indern sind selbstständig, viele von ihnen freilich im informellen Sektor. In der Raumfahrt, der Gentechnik sowie der Pharma- und Softwarebranche ist Indien bereits sehr stark. Auch in der Auto- und Autozulieferindustrie geht es mit Riesenschritten voran. Hier gibt es noch viel Potenzial, da erst 10 % aller Inder ein Auto besitzen. Die konsumfreudige Mittelschicht (ab 150 € Monatseinkommen) umfasst derzeit 250 Millionen Menschen und könnte sich laut einigen Schätzungen in den kommenden Jahrzehnten vervielfachen. Außerdem leben weltweit die meisten Millionäre und Milliardäre auf dem Subkontinent.
„Besucher aus der westlichen Welt sind oft entsetzt über die alltägliche Grausamkeit Indiens.“
Als Arbeitgeber haben Sie in Indien viele Pflichten. Der Kündigungsschutz ist hoch und die Gewerkschaften sind stark. Man erwartet, dass Sie sich um Ihre Arbeiter kümmern wie ein Vater um seine Familie. Noch liegen die Gehälter weit unter dem deutschen Mittel, doch sie steigen um bis zu 25 % jährlich. Die Fluktuationsrate ist hoch. Mitarbeiter im oberen Management verdienen annähernd so viel wie ihre deutschen Kollegen. Zusätzlich erwarten sie erhebliche Sonderleistungen, die weniger stark besteuert werden als das Basisgehalt. Wundern Sie sich nicht, wenn ein Manager Wohnung, Firmenwagen mit Fahrer, eine Lebensversicherung und ein Eigenheimdarlehen von Ihnen fordert.
Indische Arbeitsmoral
Als Außendienstmitarbeiter eines indischen Unternehmens Firmennotebooks zur Verfügung gestellt bekamen, die sie für ihre Arbeit benötigten, reagierten die Manager erbost: Sie hatten dieses Privileg allein für sich beansprucht. Die hierarchische Stellung wiegt oft schwerer als Funktionalität. Natürlich wird auch viel vom Chef erwartet: Er überwacht jeden Schritt seiner Mitarbeiter, wird via „Cc“ in den E-Mail-Verkehr involviert und sogar bei Familienproblemen konsultiert. Er muss konkurrierende Cliquen zur effektiven Teamarbeit zusammenführen und Konflikte schlichten. Als Expat in Indien sollten Sie sich mit diesen Erwartungen auseinandersetzen. Nehmen Sie sich Zeit für persönliche Gespräche und verlieren Sie nicht gleich die Nerven, wenn Sie Mitarbeiter stärker betreuen müssen, als Sie es gewohnt sind. Ermutigen Sie sie zur Selbstständigkeit. Meist lassen sie nichts unversucht, um ihren Chef zufriedenzustellen. Einige Tipps zum Umgang mit indischen Mitarbeitern und Geschäftspartnern:
- Niemals Nein sagen: Inder kommunizieren indirekt, wenn sie etwas für nicht machbar halten. Auf die Frage, ob die Präsentation bald fertig ist, antworten sie „vielleicht“ oder „der Sachbearbeiter ist krank“, wenn sie eigentlich „nein“ meinen. Weichen Sie auf offene Fragen (W-Fragen) aus: wer, was, wann, wo, warum.
- Kritik nach Sandwich-Aufbau: Beginnen Sie mit freundlichem Small Talk, sprechen Sie dann den Kritikpunkt an und beenden Sie das Gespräch mit einem Hilfsangebot („Kommen Sie zu mir, wenn Sie Hilfe benötigen“). Führen Sie solche Gespräche unter vier Augen, damit die Mitarbeiter ihr Gesicht wahren können.
- Termine mit Augenmaß: Planen Sie Meetings oder die Fertigstellung einer Arbeit nicht allzu lang im Voraus. Termine sind kaum mehr als eine Absichtserklärung. Setzen Sie Zeitpuffer, indem Sie den Wunschtermin vor dem letztgültigen Endtermin angeben.
- Verhandeln mit Biss: Inder sind begnadete Feilscher. Sie verlangen Zugeständnisse, die vom Preisnachlass bis hin zur Bestechung reichen können. Nehmen Sie immer einen indischen Partner als Vermittler mit und hüten Sie sich davor, selbst Schmiergeld zu zahlen, egal ob im Business oder in der undurchsichtigen indischen Bürokratie.
Eine gute Figur machen
Die traditionelle Begrüßungsform in Indien ist das „Namaste“, eine leichte Verbeugung mit den Händen in Gebetshaltung, wobei Sie die Fingerspitzen auf Kinnhöhe halten. Auch ein weicher Händedruck ist durchaus in Ordnung. Ältere Personen sollten Sie jedoch lieber traditionell begrüßen. Nutzen Sie Visitenkarten als Aushängeschild. Führen Sie darauf alle Titel an, um Ihren Status bestmöglich zu unterstreichen. Überreichen Sie die Karte stets mit der rechten Hand; die linke Hand gilt als unrein. Die Füße gelten als das Niedrigste und Schmutzigste am Menschen. Wenn Sie versehentlich eine Person oder ein wertvolles Objekt mit den Füßen berühren, sollten Sie sich mit einer rituellen Handbewegung zum Kopf entschuldigen.
„Die Erfahrung zeigt, dass deutsche Expats, die Offenheit für andere Denk- und Arbeitsmuster mitbringen, von Indien begeistert sind.“
Im Restaurant ist es üblich, die Gerichte am Anfang einer Mahlzeit untereinander aufzuteilen. Die Rechnung wird von demjenigen bezahlt, der den Vorschlag gemacht hat, essen zu gehen. Gegessen wird mit den Fingern der rechten Hand. Zwar ist in den meisten Restaurants auch Besteck erhältlich, aber wenn Sie auf indische Art essen, ernten Sie Anerkennung. Inder reden viel und gerne, am liebsten über unverfängliche Themen wie Kricket, Musik oder Hobbys. Meiden Sie heiße Eisen wie das Kastensystem oder Armut, Pakistan oder die Atompolitik Indiens. Sexualität ist als Gesprächsthema tabu. Auch Ironie und Sarkasmus kommen nicht gut an.
Leben als Expat in Indien
Der Kulturschock in Indien beginnt mit einem Frontalangriff auf die Sinne und verstärkt sich noch, wenn man mit der extremen Klassengesellschaft konfrontiert wird. Von Ihnen wird erwartet, dass Sie mehrere Hausangestellte und einen Fahrer beschäftigen. Wenn Sie darauf bestehen, diese Arbeit selbst zu verrichten, machen Sie sich schlicht lächerlich. Die offenkundige Armut und die scheinbare Gleichgültigkeit der Begüterten kann für Außenstehende schockierend sein. Allerdings: Wenn Inder Bettlern nichts geben, ist das kein Zeichen von Herzlosigkeit. Die meisten Inder der Mittelschicht sind karitativ tätig. Ihr Verhalten ist als eine Art Selbstschutz in einem chaotischen Alltag zu verstehen, als Versuch, die „Outgroup“ nicht an sich heranzulassen.