Leben und arbeiten in Indien

Buch Leben und arbeiten in Indien

Was Sie über Land und Leute wissen sollten

Vandenhoeck & Ruprecht,


Rezension

Viele In­di­en­reisende kommen in einem Zustand des Sinnes­taumels zurück: Sie haben den Schweiß in überfüllten Eisen­bahn­abteilen gerochen und tagelang mit heftigen Ma­gen-Darm-Ver­stim­mungen vor sich hin gedämmert. Oder sie sind in vergoldeten Hotels abgestiegen und haben sich von den Dienern in der Toilette die Hände abtrocknen lassen. Beides ist Teil der indischen Wirk­lichkeit, ebenso wie die 250 Millionen Menschen der indischen Mit­telschicht, die nicht nur das Leben auf dem Sub­kon­ti­nent verändern, sondern auch die Auftragsbücher deutscher Unternehmen füllen sollen. Damit diese Mission nicht an der eindi­men­sion­alen Sichtweise der europäischen Geschäftspartner scheitert, bieten die Autorinnen eine kul­turell-his­torische Blitzreise durch den Sub­kon­ti­nent. Sie erklären, was es mit dem Punkt auf der Stirn auf sich hat und warum man in Indien niemals mit Schuhen werfen sollte. Wenn sie Schätzungen zitieren, nach denen in 20 Jahren 2,5 Milliarden Inder zur kon­sum­freudi­gen Mit­telschicht gehören werden, fragt man sich allerdings, wie gut Autorinnen und Lektorat recher­chiert haben. BooksInShort empfiehlt das Buch allen, die beruflich in Indien oder mit indischen Geschäftspartnern zu tun haben.

Take-aways

  • 250 Millionen Inder gehören heute zur kon­sum­freudi­gen Mit­telschicht, Tendenz steigend.
  • Ähnlich wie Europa hat Indien viele Gesichter: ein buntes Nebeneinan­der von Kulturen und Sprachen.
  • Der Sub­kon­ti­nent steckt voller Widersprüche: Bürotürme grenzen an Slums und Luxusautos überholen heilige Kühe.
  • Inder schützen sich davor, indem sie nur in der eigenen „Ingroup“ leben und arbeiten.
  • Das Kas­ten­sys­tem ist offiziell abgeschafft, lebt in den Köpfen der Menschen aber weiter.
  • Respekt vor den Eltern und Hi­er­ar­chiebe­wusst­sein im Job sind zwei Seiten einer Medaille.
  • Indische Mitarbeiter erwarten von ihren Chefs, dass sie als Vater­fig­uren auftreten.
  • Inder lernen selbstständiges Arbeiten schnell, wenn Sie sie dazu ermutigen.
  • Sie bewundern die Ar­beits­diszi­plin der Deutschen, wünschen sich aber etwas mehr Flexibilität.
  • Universitätsabgänger müssen zusätzlich geschult, Fachar­beiter selbst ausgebildet werden.
 

Zusammenfassung

Many Indias

„Indien ist genauso wenig ein Land wie der Äquator“, meinte einst Winston Churchill. In den 28 Bun­desstaaten werden fast ebenso viele Sprachen und unzählige Dialekte gesprochen – neben Hindi und Englisch, was praktisch überall verstanden wird. Die wirtschaftlichen, kli­ma­tis­chen, ge­ografis­chen und ethnischen Un­ter­schiede zwischen Nord- und Südindien sind mindestens so groß wie die zwischen Griechen­land und Finnland. In den Metropolen grenzen moderne Bürotürme an elende Slums, auf brandneuen Autobahnen überholen westliche Luxu­skarossen Fahrrad­fahrer, Kühe und Ziegen. Die Hochschulen im Land bringen jährlich 1 Million neue Ingenieure hervor, aber weniger als die Hälfte aller indischen Frauen kann lesen und schreiben. Die meisten Inder verarbeiten diese gewaltigen Widersprüche durch innere Abschottung. Wenn sie „wir“ sagen, bezieht sich das selten auf alle Bewohner des Sub­kon­ti­nents, sondern auf ihre „Ingroup“, die sich aus Mitgliedern einer Volksgruppe und einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse zusam­mensetzt.

Tradition und Moderne

In Indien existieren viele Religionen nebeneinan­der; die meisten Menschen sind aber Hindus. Sie bekennen sich zum Kas­ten­sys­tem und glauben an die Wiederge­burt. Unter Karma verstehen sie die Bilanz der letzten Leben. Das Karma bestimmt, wie das nächste Leben aussehen wird. Der zunehmende Wohlstand hat Religiöses und Spir­ituelles nicht aus dem indischen Alltag verdrängt. Im Gegenteil: Moderne Büroarbeiter säubern ihre Computer rituell wie früher die Bauern ihre Werkzeuge, und junge Makler verneigen sich täglich vor der Gane­sha-Statue an der Börse von Mumbai, damit der Gott Hindernisse aus dem Weg räume. Die sprichwörtliche „heilige Kuh“ wird von den Hindus als Symbol au­fopfer­n­der Mutterliebe verehrt und darf in vielen Bun­desstaaten nicht geschlachtet werden. Die Synthese aus Altem und Neuem zieht sich wie ein roter Faden durch den indischen Alltag: So wurde etwa das Kas­ten­sys­tem offiziell abgeschafft. Posten im öffentlichen Dienst und Studienplätze an Universitäten werden nach Quoten vergeben, damit Mitglieder aller Religionen und Schichten berücksichtigt werden. Im Bewusstsein der Menschen ist das Kas­ten­sys­tem aber noch immer vorhanden, es ist Teil ihrer Identität. Die Kastenzugehörigkeit bestimmt etwa, was man isst und wen man heiraten darf.

Typisch deutsch, typisch indisch

Arbeitsam, zielo­ri­en­tiert, diszi­plin­iert und gut organisiert – so sehen Inder ihre deutschen Kollegen. Deren Verhalten am Ar­beit­splatz flößt Respekt ein, das Privatleben weniger. Deutsche gelten als übertrieben in­di­vid­u­al­is­tisch, die Familie hält nicht zusammen, Rechnungen im Lokal werden getrennt bezahlt, und es wird wenig gefeiert. Hierarchien sind flach, das Sta­tus­be­wusst­sein gering. Es soll sogar Akademiker geben, die putzen und basteln – für Inder un­vorstell­bar. Die ausgeprägte Sa­chori­en­tierung der Deutschen führt in der Zusam­me­nar­beit mit Indern zu Spannungen. Viele Inder vermissen Flexibilität und Im­pro­vi­sa­tions­bere­itschaft.

„Man scherzt, dass ,die Wirtschaft nur nachts wächst, wenn die Bürokraten schlafen‘.“

Aus Sicht der Deutschen sind indische Geschäftspartner harmoniebedürftig und emotional. Hierarchien werden immer respektiert und sogar verlangt. Entsprechend unselbstständig und un­or­gan­isiert arbeiten viele Mitarbeiter. Die Bürokratie steht einem oft im Weg, doch dafür sind die Menschen op­ti­mistisch und glauben daran, dass alles machbar ist. Natürlich sind Ve­r­all­ge­meinerun­gen in einem so vielfältigen Land wie Indien prob­lema­tisch. Dennoch lassen sich die folgenden Kul­tur­stan­dards herausschälen:

  • Fam­i­lienori­en­tierung: Hochzeiten werden im Familienrat beschlossen, ältere Geschwister bezahlen die Ausbildung der jüngeren und die Kinder sorgen für ihre Eltern im Alter. Genauso selbstverständlich ist es, dass indische Unternehmer Schlüsselposten mit Fam­i­lien­mit­gliedern besetzen.
  • Beziehung­sori­en­tierung: Ohne persönliche Beziehungen gibt es kein Geschäft. Wech­sel­seit­iges Vertrauen braucht Zeit, zahlt sich aber aus.
  • Kom­mu­nika­tion: Sie dient dem Ausloten von Gefühlen und Beziehungen. Inder gehen Konflikten lieber aus dem Weg. Probleme sprechen sie verschlüsselt oder indirekt an.
  • Hi­er­ar­chieori­en­tierung: Was früher die Kaste war, ist heute oft die soziale Position. Älteren wird immer mit Respekt begegnet, Rechte und Pflichten sind klar geordnet, und Sta­tussym­bole werden zur Schau gestellt.
  • Flexibilität: Inder haben ein zyklisches Verständnis von Zeit. Sie hat weder Anfang noch Ende. Langzeit­pla­nung ergibt keinen Sinn, da der Alltag un­berechen­bar ist.

Indischer Drill

Inder sind sehr leis­tung­sori­en­tiert. Wer das Geld hat, schickt seine Kinder auf eine Pri­vatschule, denn der Zustand der staatlichen Schulen ist desolat. Oft lernen die Kleinen schon im Kinder­garten lesen, schreiben und bis 100 zählen. Der Konkur­ren­zkampf um die wenigen Plätze an den Universitäten ist hart. Die meisten Schüler belegen neben der Schule Abendkurse, um die Aufnahmeprüfungen zu bestehen. Für die 5500 Plätze am renom­mierten Indian Institute of Technology (IIT) bewerben sich jährlich 300 000 junge Leute. Lehrer und Professoren sind Re­spek­t­per­so­nen, deren Autorität nicht hinterfragt wird. Kritisches Denken, kreative Lösungswege und selbstständiges Arbeiten zählen nicht zu den Stärken der Absolventen. Oft müssen sie all das im Beruf noch lernen. Ve­r­anstal­ten Sie Schulungen für junge Universitätsabgänger, um sie fit zu machen. Wenn Sie Fachar­beiter suchen, müssen Sie diese selbst ausbilden. Eine berufliche Fachaus­bil­dung gibt es nicht.

Wirtschafts­boom auf dem Sub­kon­ti­nent

Die mark­twirtschaftlichen Reformen, die in Indien ab 1991 durchge­setzt wurden, tragen Früchte: Bis zum Krisenjahr 2008 wuchs die Wirtschaft vier Jahre lang um 9 %, danach immerhin noch um 6 %. Das Wachstum erfolgte vor allem im Di­en­stleis­tungssek­tor. Neun von zehn Indern sind selbstständig, viele von ihnen freilich im informellen Sektor. In der Raumfahrt, der Gentechnik sowie der Pharma- und Soft­ware­branche ist Indien bereits sehr stark. Auch in der Auto- und Au­tozulieferindus­trie geht es mit Riesen­schrit­ten voran. Hier gibt es noch viel Potenzial, da erst 10 % aller Inder ein Auto besitzen. Die kon­sum­freudige Mit­telschicht (ab 150 € Monat­seinkom­men) umfasst derzeit 250 Millionen Menschen und könnte sich laut einigen Schätzungen in den kommenden Jahrzehnten vervielfachen. Außerdem leben weltweit die meisten Millionäre und Milliardäre auf dem Sub­kon­ti­nent.

„Besucher aus der westlichen Welt sind oft entsetzt über die alltägliche Grausamkeit Indiens.“

Als Arbeitgeber haben Sie in Indien viele Pflichten. Der Kündi­gungss­chutz ist hoch und die Gew­erkschaften sind stark. Man erwartet, dass Sie sich um Ihre Arbeiter kümmern wie ein Vater um seine Familie. Noch liegen die Gehälter weit unter dem deutschen Mittel, doch sie steigen um bis zu 25 % jährlich. Die Fluk­tu­a­tion­srate ist hoch. Mitarbeiter im oberen Management verdienen annähernd so viel wie ihre deutschen Kollegen. Zusätzlich erwarten sie erhebliche Son­der­leis­tun­gen, die weniger stark besteuert werden als das Basisgehalt. Wundern Sie sich nicht, wenn ein Manager Wohnung, Firmenwagen mit Fahrer, eine Lebensver­sicherung und ein Eigen­heim­dar­lehen von Ihnen fordert.

Indische Ar­beitsmoral

Als Außen­di­en­st­mi­tar­beiter eines indischen Un­ternehmens Fir­men­note­books zur Verfügung gestellt bekamen, die sie für ihre Arbeit benötigten, reagierten die Manager erbost: Sie hatten dieses Privileg allein für sich beansprucht. Die hi­er­ar­chis­che Stellung wiegt oft schwerer als Funk­tion­alität. Natürlich wird auch viel vom Chef erwartet: Er überwacht jeden Schritt seiner Mitarbeiter, wird via „Cc“ in den E-Mail-Verkehr involviert und sogar bei Fam­i­lien­prob­le­men konsultiert. Er muss konkur­ri­erende Cliquen zur effektiven Teamarbeit zusammenführen und Konflikte schlichten. Als Expat in Indien sollten Sie sich mit diesen Erwartungen au­seinan­der­set­zen. Nehmen Sie sich Zeit für persönliche Gespräche und verlieren Sie nicht gleich die Nerven, wenn Sie Mitarbeiter stärker betreuen müssen, als Sie es gewohnt sind. Ermutigen Sie sie zur Selbstständigkeit. Meist lassen sie nichts unversucht, um ihren Chef zufrieden­zustellen. Einige Tipps zum Umgang mit indischen Mi­tar­beit­ern und Geschäftspartnern:

  • Niemals Nein sagen: Inder kom­mu­nizieren indirekt, wenn sie etwas für nicht machbar halten. Auf die Frage, ob die Präsentation bald fertig ist, antworten sie „vielleicht“ oder „der Sach­bear­beiter ist krank“, wenn sie eigentlich „nein“ meinen. Weichen Sie auf offene Fragen (W-Fragen) aus: wer, was, wann, wo, warum.
  • Kritik nach Sand­wich-Auf­bau: Beginnen Sie mit fre­undlichem Small Talk, sprechen Sie dann den Kritikpunkt an und beenden Sie das Gespräch mit einem Hil­f­sange­bot („Kommen Sie zu mir, wenn Sie Hilfe benötigen“). Führen Sie solche Gespräche unter vier Augen, damit die Mitarbeiter ihr Gesicht wahren können.
  • Termine mit Augenmaß: Planen Sie Meetings oder die Fer­tig­stel­lung einer Arbeit nicht allzu lang im Voraus. Termine sind kaum mehr als eine Ab­sicht­serklärung. Setzen Sie Zeitpuffer, indem Sie den Wun­schter­min vor dem letztgültigen Endtermin angeben.
  • Verhandeln mit Biss: Inder sind begnadete Feilscher. Sie verlangen Zugeständnisse, die vom Preis­nach­lass bis hin zur Bestechung reichen können. Nehmen Sie immer einen indischen Partner als Vermittler mit und hüten Sie sich davor, selbst Schmiergeld zu zahlen, egal ob im Business oder in der un­durch­sichti­gen indischen Bürokratie.

Eine gute Figur machen

Die tra­di­tionelle Begrüßungsform in Indien ist das „Namaste“, eine leichte Verbeugung mit den Händen in Ge­bet­shal­tung, wobei Sie die Fin­ger­spitzen auf Kinnhöhe halten. Auch ein weicher Händedruck ist durchaus in Ordnung. Ältere Personen sollten Sie jedoch lieber tra­di­tionell begrüßen. Nutzen Sie Vis­itenkarten als Aushängeschild. Führen Sie darauf alle Titel an, um Ihren Status bestmöglich zu un­ter­stre­ichen. Überreichen Sie die Karte stets mit der rechten Hand; die linke Hand gilt als unrein. Die Füße gelten als das Niedrigste und Schmutzig­ste am Menschen. Wenn Sie verse­hentlich eine Person oder ein wertvolles Objekt mit den Füßen berühren, sollten Sie sich mit einer rituellen Hand­be­we­gung zum Kopf entschuldigen.

„Die Erfahrung zeigt, dass deutsche Expats, die Offenheit für andere Denk- und Ar­beitsmuster mitbringen, von Indien begeistert sind.“

Im Restaurant ist es üblich, die Gerichte am Anfang einer Mahlzeit un­tere­inan­der aufzuteilen. Die Rechnung wird von demjenigen bezahlt, der den Vorschlag gemacht hat, essen zu gehen. Gegessen wird mit den Fingern der rechten Hand. Zwar ist in den meisten Restaurants auch Besteck erhältlich, aber wenn Sie auf indische Art essen, ernten Sie Anerkennung. Inder reden viel und gerne, am liebsten über unverfängliche Themen wie Kricket, Musik oder Hobbys. Meiden Sie heiße Eisen wie das Kas­ten­sys­tem oder Armut, Pakistan oder die Atompolitik Indiens. Sexualität ist als Gesprächsthema tabu. Auch Ironie und Sarkasmus kommen nicht gut an.

Leben als Expat in Indien

Der Kul­turschock in Indien beginnt mit einem Fronta­lan­griff auf die Sinne und verstärkt sich noch, wenn man mit der extremen Klas­sen­ge­sellschaft kon­fron­tiert wird. Von Ihnen wird erwartet, dass Sie mehrere Hau­sangestellte und einen Fahrer beschäftigen. Wenn Sie darauf bestehen, diese Arbeit selbst zu verrichten, machen Sie sich schlicht lächerlich. Die of­fenkundige Armut und die scheinbare Gleichgültigkeit der Begüterten kann für Außenstehende schock­ierend sein. Allerdings: Wenn Inder Bettlern nichts geben, ist das kein Zeichen von Her­zlosigkeit. Die meisten Inder der Mit­telschicht sind karitativ tätig. Ihr Verhalten ist als eine Art Selb­stschutz in einem chaotischen Alltag zu verstehen, als Versuch, die „Outgroup“ nicht an sich her­anzu­lassen.

Über die Autorinnen

Vinita Bal­a­sub­ra­man­ian ist in­terkul­turelle Trainerin und Beraterin in Deutschland, Indien, Italien und Österreich. Antje Fürth arbeitet als freie Jour­nal­istin und in­terkul­turelle Trainerin mit dem Schwerpunkt Indien.