Sind wir noch zu retten?

Buch Sind wir noch zu retten?

Warum Staat, Markt und Gesellschaft auf einen Systemkollaps zusteuern

FinanzBuch,


Rezension

Wach­s­tumss­chwäche, Staatsver­schul­dung, de­mografis­cher Wandel: alles keine neuen Probleme, alles durchaus in den Griff zu kriegen, sollte man meinen. Die Politik tut jedoch zu wenig, dringend notwendige Reformen bleiben aus, und wir laufen geradewegs ins Desaster, warnt der langjährige Capital-Chefredak­teur Klaus Schweins­berg. Hys­ter­ischer Alarmismus? So einfach lassen sich seine Bedenken nicht abtun. Schweins­berg zeigt, wie die durchaus lösbaren Einzel­prob­leme in einem un­heil­vollen Zusam­men­spiel ein bewährtes System zum Einsturz bringen können. Das beste Beispiel ist die Finanzkrise: Ein Auslöser genügt, und schon droht der Kollaps. Das Buch überzeugt in seinem Analyseteil, während man über die Durch­schlagskraft der recht eilig vor­ge­tra­ge­nen Lösungsvorschläge geteilter Meinung sein kann. Aber egal, wie man zu Mehrheitswahlrecht, kommunaler Steuer­ho­heit oder einem sozialen Jahr für alle steht: Die Ideen sind mutig, grundsätzlich umsetzbar und damit diskus­sionswürdig, meint BooksInShort – und empfiehlt das Buch Entschei­dern in Politik und Wirtschaft, die Deutsch­lands Zukunft realistisch einschätzen und planen wollen.

Take-aways

  • In den letzten fünf Jahrhun­derten waren es stets die 10er Jahre, die das entsprechende Jahrhundert entschei­dend prägten.
  • Der Wach­s­tumsmo­tor stottert – und damit der Garant unseres Wohlstands, unserer sozialen Sicherungssys­teme und unserer Demokratie.
  • Der Euro steckt in der Krise, und aufgrund der lockeren Geldpolitik droht außerdem eine Inflation.
  • Das ständige Sparen führt zu immer größeren Konflikten innerhalb der Gesellschaft, die Rohstof­fk­nap­pheit zu Verteilungskämpfen zwischen den Ländern der Welt.
  • Die frus­tri­erten Bürger suchen nach neuen Führungs­fig­uren: Populisten werden stärker.
  • Der unabhängige Qualitätsjour­nal­is­mus steht vor dem Aus.
  • Nur mit einer entschlosse­nen Politik lässt sich das Steuer noch herumreißen, ins­beson­dere durch einen Übergang zum Mehrheitswahlrecht.
  • Deutschland braucht mehr Föderalismus, gerade in Sachen Steuer­ho­heit.
  • Es braucht eine In­sol­ven­zord­nung für marode EU-Staaten.
  • Banken müssen für riskante Geschäfte mit mehr Eigenkap­i­tal haften.
 

Zusammenfassung

Schick­sal­s­jahr 2014

Die Geschichte wiederholt sich: In den letzten fünf Jahrhun­derten war es immer die zweite Dekade, die besonders kritisch war, in der die bestehenden Systeme kol­la­bierten oder die Weichen für die nächsten 100 Jahre gestellt wurden: 1517 schlug Martin Luther seine berühmten 95 Thesen an die Tür der Wit­ten­berger Schlosskirche. Damit begründete er die Reformation, die den Beginn der Neuzeit markierte. 1618 brach der Dreißigjährige Krieg aus, der zwei Drittel der Bevölkerung das Leben kostete und unendliches Leid, Hunger und Armut brachte. 1713 bestieg Friedrich Wilhelm I. den preußischen Thron und verwandelte das hochver­schuldete Armenhaus des deutschen Re­ichsver­bands in einen pros­perieren­den und mächtigen Staat. 1815 kamen nach dem Sieg über Napoleon Europas Staatsoberhäupter auf dem Wiener Kongress zusammen und legten die Grundlage für die Einigung Deutsch­lands rund 50 Jahre später. 1914 schließlich fand das Attentat auf den öster­re­ichis­chen Thronfolger statt – der Auslöser für die Abschaffung der Monarchie, zwei Weltkriege und die Neuordnung Europas bis hin zum Ende des Kalten Krieges und der Wiedervere­ini­gung Deutsch­lands.

„2014 hat das Zeug zum Schick­sal­s­jahr – für die Zukunft Europas und Deutsch­lands Verankerung in der Staatenge­mein­schaft.“

Solche Umbrüche ergeben sich natürlich nicht aus dem Nichts. Sie sind vielmehr das Ergebnis zahlreicher ungelöster Probleme, die sich schon länger abgeze­ich­net haben. Ein relativ nichtiger Auslöser führt dann zum Sys­temkol­laps, ähnlich wie bei einem Menschen, der mehrere an sich heilbare Krankheiten hat, die kleinste Zusatz­be­las­tung zum multiplen Or­gan­ver­sagen und damit zum Tod führen kann. Auch jetzt stehen wir wieder am Beginn einer neuen Dekade, und es mehren sich die Zeichen, dass es wiederum zu einem Zusam­men­bruch des gesamten Systems kommt. Vor allem das Jahr 2014 hat alle Vo­raus­set­zun­gen, zum Schick­sal­s­jahr zu werden – für Deutschland, für Europa und für die ganze Welt. Ret­tung­spro­gramme für Griechen­land, Ungarn, Litauen und Co. laufen dann aus, in den USA entscheidet sich bis dahin, ob man die wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommt, und die Regulierung des in­ter­na­tionalen Fi­nanzsys­tems sollte dann unter Dach und Fach sein. Sicher­heit­spoli­tisch kann der beschle­u­nigte Abzug aus dem Hindukusch zu einer massiven Ver­schlechterung der Sicher­heit­slage führen. In Deutschland wird die 2013 anstehende Bun­destagswahl vielleicht zum Regierungswech­sel führen, verbunden mit verstärkter Ver­schul­dung und einer weiteren Schwächung des Euro, was in einer Währungsre­form münden könnte. Kurzum: Dem bestehenden sozialen, politischen und ökonomischen System drohen massive Umwälzungen. Was auch immer der Auslöser sein wird – die Ursachen liegen in den ungelösten Grund­prob­le­men unserer Gesellschaft.

Grenzen des Wachstums

Solide soziale Sicherungssys­teme, ein funk­tion­ieren­der Ar­beits­markt, Schulden­ab­bau: Nur wenn die Wirtschaft kräftig wächst, geht es uns gut. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei: Chinesen, Inder und andere günstige Arbeiter drängen auf die Märkte, Rohstoffe werden immer teurer – nicht zuletzt wegen der steigenden Nachfrage der Schwellenländer –, Klimawandel und Umweltschäden drohen. Und wir befinden uns, jedenfalls wenn man den Modellen des russischen Ökonomen Nicolai Kondratieff folgt, derzeit auf dem ab­steigen­den Ast, weil der große In­no­va­tion­ss­chub durch Computer und Internet inzwischen am Auslaufen ist und keine neue Ideen in Sicht sind, die die Wirtschaft über die kommenden Jahrzehnte tragen könnten. Der Indikator dafür: Trotz des aktuellen Kon­junk­turhochs bleiben die Zinsen un­typ­is­cher­weise im Keller, wo doch eigentlich In­vesti­tio­nen für eine starke Kred­it­nach­frage und damit für hohe Zinsen hätten sorgen müssen.

„Da die Jüngeren weniger werden, gehen dem Wirtschafts­stan­dort Deutschland Kreativität und neue Ideen verloren.“

Dazu kommt der de­mografis­che Wandel, der die In­no­va­tion­skraft nicht eben fördert: Im Zuge des medi­zinis­chen Fortschritts werden wir alle immer älter, und gle­ichzeitig werden immer weniger Kinder geboren. Nicht zu reden von massiven Versäumnissen beim Thema Migration und katas­trophalen Zuständen im deutschen Bil­dungssys­tem. Der Staat wird derweil zunehmend hand­lung­sunfähig; er ist jetzt schon hoch verschuldet, und die Rettungsmaßnahmen während der letzten Krise haben ihn an die Grenzen seiner Kräfte gebracht. Es droht eine Phase des Nullwach­s­tums – und damit eine Le­git­i­ma­tion­skrise der Demokratie.

Die Eurokrise

Zunächst war der Euro eine Er­fol­gsstory: Nach einem holprigen Start entwickelte er sich zu einer starken und stabilen Währung. Doch dieser Erfolg verdeckte den Blick auf die Schwach­stellen des Systems: Es fehlt an einer wirksamen Kontrolle und Durch­set­zung der Stabilitätskriterien; die Staats­fi­nanzen müssen grundlegend saniert werden. Die Ökonomien der wirtschaftlich schwachen Länder im so genannten Olivengürtel im Süden der EU sind nicht ausreichend wet­tbe­werbsfähig. Der Versuchung, sich weiter auf Kosten der reichen Länder durchzulavieren, muss Einhalt geboten werden. Für den schlimmsten Fall muss eine In­sol­ven­zord­nung die geregelte Abwicklung einer Staat­spleite erlauben. Spätestens wenn die Milliarden aus dem Ret­tungss­chirm tatsächlich abgerufen werden, dürfte es zum großen Knall kommen: Es droht eine massive Abwertung des Euro.

Inflation

Einige deutsche Senioren kennen es vielleicht noch von früher: Millionen oder sogar Milliarden Mark für ein einziges Brot oder ein Ei. Nicht umsonst ist Geld­w­ert­sta­bilität mit einer In­fla­tion­srate unter 2 Prozent eines der wichtigsten Ziele der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Bundesbank. Aktuell besteht zwar keine Gefahr, wohl aber mit­tel­fristig: nämlich, wenn die derzeit lockere Geldpolitik allzu lange fortgesetzt wird, weil die EZB politischem Druck nachgeben muss. Schon jetzt kauft sie im Widerspruch zu ihren bisherigen Prinzipien Staatspa­piere der schwächeren Länder auf. In­fla­tion­sauslösend können auch andere Einflüsse sein: externe, wie beispiel­sweise die lockere Geldpolitik der USA, oder auch interne wie steigende Gebühren und Sozial­ab­gaben, die die Preise hochtreiben. Auch wenn es nicht zu einer Hy­per­in­fla­tion kommt: Es droht mit einer Wahrschein­lichkeit von 25 Prozent eine Inflation wie in den 1970er Jahren, als die Teuerung zeitweilig bei rund 7 Prozent lag.

Staats­bankrott

Die Staatsver­schul­dung ist schon jetzt gigantisch, und sie steigt laufend weiter an. Die im Grundgesetz verankerte Schulden­bremse ändert vorläufig nichts daran, weil deren Vorschriften erst ab 2016 (Bund) bzw. ab 2020 (Länder) zu greifen beginnen. Und auch nur dann, wenn keine gewichtigen Ereignisse, Naturkatas­tro­phen oder andere Notlagen Ausnahmen erlauben. Ein besonderes Risiko wäre ein Regierungswech­sel im Jahr 2013: Kommt dann Rot-Grün an die Macht, ist eine hohe Neu­ver­schul­dung wahrschein­lich, weil die im Wahlkampf ver­sproch­enen sozialen Wohltaten finanziert werden müssen: etwa die Rente mit 65, die Erhöhung von Hartz IV oder die Einführung eines Min­dest­lohnes. Doch selbst ohne Neu­ver­schul­dung dauert der Abbau der Altschulden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Ohne eine nachhaltige Sanierung der Staats­fi­nanzen droht der Staats­bankrott – und derzeit sieht es nicht danach aus, als würde diese Sanierung mit der notwendigen Energie und Konsequenz angegangen.

Verteilungskon­flikte

Wir alle müssen den Gürtel enger schnallen, und das bedeutet in der Konsequenz: Streit. Der jetzige üppige Sozialstaat – Renten, Gesundheit, Pflege – ist auf Dauer nicht mehr bezahlbar. Es kommt zu Au­seinan­der­set­zun­gen zwischen Leis­tungsempfängern und denen, die zahlen müssen. Dazu kommt die immer tiefere Kluft zwischen Arm und Reich: Ohne nachhaltige Reformen wird der gesellschaftliche Zusam­men­halt nicht bestehen können; es drohen soziale Konflikte bislang unbekannten Ausmaßes. Auch in­ter­na­tional droht Ungemach: Der Rohstoffhunger der auf­streben­den Schwellenländer, vor allem Chinas, bestimmt zunehmend die Weltpolitik; Rohstoff­speku­lanten treiben die Preise künstlich in die Höhe. Die Wech­selkurse werden zum Schlacht­feld der in­ter­na­tionalen Politik: Der künstlich niedrig gehaltene chinesische Yuan sorgt ebenso für Probleme wie die amerikanis­che Geldpolitik, denn beides schwächt die Wet­tbe­werbsfähigkeit der Ex­port­na­tion Deutschland erheblich und mündet auf in­ter­na­tionaler Ebene womöglich in Pro­tek­tion­is­mus und Abschottung der Märkte – zum Schaden aller.

Zunehmende Radikalisierung

Poli­tikver­drossen­heit, Wahlmüdigkeit, massenhafte Austritte aus Gew­erkschaften, Verbänden, Kirchen: Der Deutsche hat den Rückzug ins Private angetreten. Das un­ter­miniert die Legitimität demokratis­cher Entschei­dun­gen und schwächt den Staat, der vom Engagement seiner Bürger lebt. Das Ergebnis ist eine Führerdemokratie, in der nicht das überzeugende Argument, sondern der charis­ma­tis­che Populist gewinnt. Vor allem die Rechte zählt zu den Gewinnern bei den frus­tri­erten Bürgern – wie die Beispiele Ungarn, Niederlande und Frankreich zeigen. Sep­a­ratis­tis­che Tendenzen, die Betonung der eigenen Identität und die Abgrenzung gegen das Fremde werden zunehmen – wie in Spanien, Norditalien oder auf dem Balkan. Befeuert wird dies durch die nach wie vor ungelösten Probleme mit schlecht in­te­gri­erten Migranten und vielleicht auch durch is­lamistisch motivierte Ter­ro­ran­schläge. Der europäische Gedanke droht in diesem Unmut un­terzuge­hen.

Die Schwäche der Medien

Eigentlich sollten die Medien die vierte Gewalt im Staat sein. Lange dürfte das aber nicht mehr der Fall sein: Die Gratiskul­tur des Internets, weg­brechende Werbekunden, Sparzwänge, ausgedünnte Redaktionen und un­ter­bezahlte freie Jour­nal­is­ten stehen in direktem Zusam­men­hang mit der immer engeren Vermischung von PR und Jour­nal­is­mus. Heute schon übernehmen viele Jour­nal­is­ten PR-Texte, statt dass sie Artikel selbst recher­chieren. Die Inhalte werden zunehmend am Pub­likums­geschmack aus­gerichtet: Sensationen, Glamour, Sex und Gewalt verkaufen sich nun mal besser als komplexe politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge. Dazu kommen ökonomische Abhängigkeiten: Wenn sich Verlage in den Händen großer Unternehmen befinden, werden kritische Berichte, die den Interessen des Kap­i­tal­ge­bers zuwider­laufen, nicht gerade wahrschein­licher. Qualitätsjour­nal­is­mus, hat kaum eine Zukunft – zum Schaden der Demokratie.

Was tun?

Der Kollaps droht, doch noch ist er nicht da, noch ist Zeit zum Handeln. Das Herum­dok­tern an Symptomen reicht jedoch nicht mehr aus, die Ursachen der Probleme müssen beseitigt werden. Ansatzpunkte dafür wären: mehr Beteiligung der Bürger an politischen Entschei­dun­gen (Volksab­stim­mungen), eine schwächere Position des Bundestags, eine unabhängigere Regierung, Einführung eines Mehrheitswahlrechts, Wahlpflicht, ein allgemeines soziales Jahr für beide Geschlechter, eine Reform des Föderalismus und ins­beson­dere mehr Steuer­ho­heit für Länder und Gemeinden. Außenpolitisch tut eine stärkere Vertretung deutscher Interessen in der EU not: eine strikte Durch­set­zung der Stabilitätskriterien sowie ein Deutscher an der Spitze der EZB. Wirtschaft­spoli­tisch brauchen wir eine stärkere Haftung der Banken bei riskanten Geschäften, etwa durch eine höhere Eigenkap­i­talun­ter­legung oder auch eine Größen­be­gren­zung mit der Möglichkeit geordneter Insolvenz.

„Mit kleineren kon­ven­tionellen Eingriffen werden wir den Kollaps des Systems nicht abwenden.“

Die Führungsetage muss wieder im Alltag ankommen: Statt abgehobener Topmanager im Glashaus brauchen wir echte Führungskräfte mit gelebter Erfahrung, die mit beiden Beinen im Leben stehen. Als Auswahlkri­terium sollte deshalb nicht die Tur­bokar­riere mit 70-Stun­den-Wochen stehen, sondern neben der fachlichen auch die soziale Kompetenz, die man sich etwa durch ehre­namtliches Engagement in den sozialen Bren­npunk­ten erwirbt, bei Obdachlosen, Armen und Kranken.

Über den Autor

Klaus Schweins­berg war über Jahre Chefredak­teur des Wirtschafts­magazins Capital. Heute ist er Un­ternehmens­ber­ater, Vor­standsvor­sitzen­der von INTES, einer Stiftung für Fam­i­lienun­ternehmen, Mitglied der „Young Global Leaders“ sowie Dozent an ver­schiede­nen Hochschulen.