Schicksalsjahr 2014
Die Geschichte wiederholt sich: In den letzten fünf Jahrhunderten war es immer die zweite Dekade, die besonders kritisch war, in der die bestehenden Systeme kollabierten oder die Weichen für die nächsten 100 Jahre gestellt wurden: 1517 schlug Martin Luther seine berühmten 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche. Damit begründete er die Reformation, die den Beginn der Neuzeit markierte. 1618 brach der Dreißigjährige Krieg aus, der zwei Drittel der Bevölkerung das Leben kostete und unendliches Leid, Hunger und Armut brachte. 1713 bestieg Friedrich Wilhelm I. den preußischen Thron und verwandelte das hochverschuldete Armenhaus des deutschen Reichsverbands in einen prosperierenden und mächtigen Staat. 1815 kamen nach dem Sieg über Napoleon Europas Staatsoberhäupter auf dem Wiener Kongress zusammen und legten die Grundlage für die Einigung Deutschlands rund 50 Jahre später. 1914 schließlich fand das Attentat auf den österreichischen Thronfolger statt – der Auslöser für die Abschaffung der Monarchie, zwei Weltkriege und die Neuordnung Europas bis hin zum Ende des Kalten Krieges und der Wiedervereinigung Deutschlands.
„2014 hat das Zeug zum Schicksalsjahr – für die Zukunft Europas und Deutschlands Verankerung in der Staatengemeinschaft.“
Solche Umbrüche ergeben sich natürlich nicht aus dem Nichts. Sie sind vielmehr das Ergebnis zahlreicher ungelöster Probleme, die sich schon länger abgezeichnet haben. Ein relativ nichtiger Auslöser führt dann zum Systemkollaps, ähnlich wie bei einem Menschen, der mehrere an sich heilbare Krankheiten hat, die kleinste Zusatzbelastung zum multiplen Organversagen und damit zum Tod führen kann. Auch jetzt stehen wir wieder am Beginn einer neuen Dekade, und es mehren sich die Zeichen, dass es wiederum zu einem Zusammenbruch des gesamten Systems kommt. Vor allem das Jahr 2014 hat alle Voraussetzungen, zum Schicksalsjahr zu werden – für Deutschland, für Europa und für die ganze Welt. Rettungsprogramme für Griechenland, Ungarn, Litauen und Co. laufen dann aus, in den USA entscheidet sich bis dahin, ob man die wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommt, und die Regulierung des internationalen Finanzsystems sollte dann unter Dach und Fach sein. Sicherheitspolitisch kann der beschleunigte Abzug aus dem Hindukusch zu einer massiven Verschlechterung der Sicherheitslage führen. In Deutschland wird die 2013 anstehende Bundestagswahl vielleicht zum Regierungswechsel führen, verbunden mit verstärkter Verschuldung und einer weiteren Schwächung des Euro, was in einer Währungsreform münden könnte. Kurzum: Dem bestehenden sozialen, politischen und ökonomischen System drohen massive Umwälzungen. Was auch immer der Auslöser sein wird – die Ursachen liegen in den ungelösten Grundproblemen unserer Gesellschaft.
Grenzen des Wachstums
Solide soziale Sicherungssysteme, ein funktionierender Arbeitsmarkt, Schuldenabbau: Nur wenn die Wirtschaft kräftig wächst, geht es uns gut. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei: Chinesen, Inder und andere günstige Arbeiter drängen auf die Märkte, Rohstoffe werden immer teurer – nicht zuletzt wegen der steigenden Nachfrage der Schwellenländer –, Klimawandel und Umweltschäden drohen. Und wir befinden uns, jedenfalls wenn man den Modellen des russischen Ökonomen Nicolai Kondratieff folgt, derzeit auf dem absteigenden Ast, weil der große Innovationsschub durch Computer und Internet inzwischen am Auslaufen ist und keine neue Ideen in Sicht sind, die die Wirtschaft über die kommenden Jahrzehnte tragen könnten. Der Indikator dafür: Trotz des aktuellen Konjunkturhochs bleiben die Zinsen untypischerweise im Keller, wo doch eigentlich Investitionen für eine starke Kreditnachfrage und damit für hohe Zinsen hätten sorgen müssen.
„Da die Jüngeren weniger werden, gehen dem Wirtschaftsstandort Deutschland Kreativität und neue Ideen verloren.“
Dazu kommt der demografische Wandel, der die Innovationskraft nicht eben fördert: Im Zuge des medizinischen Fortschritts werden wir alle immer älter, und gleichzeitig werden immer weniger Kinder geboren. Nicht zu reden von massiven Versäumnissen beim Thema Migration und katastrophalen Zuständen im deutschen Bildungssystem. Der Staat wird derweil zunehmend handlungsunfähig; er ist jetzt schon hoch verschuldet, und die Rettungsmaßnahmen während der letzten Krise haben ihn an die Grenzen seiner Kräfte gebracht. Es droht eine Phase des Nullwachstums – und damit eine Legitimationskrise der Demokratie.
Die Eurokrise
Zunächst war der Euro eine Erfolgsstory: Nach einem holprigen Start entwickelte er sich zu einer starken und stabilen Währung. Doch dieser Erfolg verdeckte den Blick auf die Schwachstellen des Systems: Es fehlt an einer wirksamen Kontrolle und Durchsetzung der Stabilitätskriterien; die Staatsfinanzen müssen grundlegend saniert werden. Die Ökonomien der wirtschaftlich schwachen Länder im so genannten Olivengürtel im Süden der EU sind nicht ausreichend wettbewerbsfähig. Der Versuchung, sich weiter auf Kosten der reichen Länder durchzulavieren, muss Einhalt geboten werden. Für den schlimmsten Fall muss eine Insolvenzordnung die geregelte Abwicklung einer Staatspleite erlauben. Spätestens wenn die Milliarden aus dem Rettungsschirm tatsächlich abgerufen werden, dürfte es zum großen Knall kommen: Es droht eine massive Abwertung des Euro.
Inflation
Einige deutsche Senioren kennen es vielleicht noch von früher: Millionen oder sogar Milliarden Mark für ein einziges Brot oder ein Ei. Nicht umsonst ist Geldwertstabilität mit einer Inflationsrate unter 2 Prozent eines der wichtigsten Ziele der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Bundesbank. Aktuell besteht zwar keine Gefahr, wohl aber mittelfristig: nämlich, wenn die derzeit lockere Geldpolitik allzu lange fortgesetzt wird, weil die EZB politischem Druck nachgeben muss. Schon jetzt kauft sie im Widerspruch zu ihren bisherigen Prinzipien Staatspapiere der schwächeren Länder auf. Inflationsauslösend können auch andere Einflüsse sein: externe, wie beispielsweise die lockere Geldpolitik der USA, oder auch interne wie steigende Gebühren und Sozialabgaben, die die Preise hochtreiben. Auch wenn es nicht zu einer Hyperinflation kommt: Es droht mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent eine Inflation wie in den 1970er Jahren, als die Teuerung zeitweilig bei rund 7 Prozent lag.
Staatsbankrott
Die Staatsverschuldung ist schon jetzt gigantisch, und sie steigt laufend weiter an. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ändert vorläufig nichts daran, weil deren Vorschriften erst ab 2016 (Bund) bzw. ab 2020 (Länder) zu greifen beginnen. Und auch nur dann, wenn keine gewichtigen Ereignisse, Naturkatastrophen oder andere Notlagen Ausnahmen erlauben. Ein besonderes Risiko wäre ein Regierungswechsel im Jahr 2013: Kommt dann Rot-Grün an die Macht, ist eine hohe Neuverschuldung wahrscheinlich, weil die im Wahlkampf versprochenen sozialen Wohltaten finanziert werden müssen: etwa die Rente mit 65, die Erhöhung von Hartz IV oder die Einführung eines Mindestlohnes. Doch selbst ohne Neuverschuldung dauert der Abbau der Altschulden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte. Ohne eine nachhaltige Sanierung der Staatsfinanzen droht der Staatsbankrott – und derzeit sieht es nicht danach aus, als würde diese Sanierung mit der notwendigen Energie und Konsequenz angegangen.
Verteilungskonflikte
Wir alle müssen den Gürtel enger schnallen, und das bedeutet in der Konsequenz: Streit. Der jetzige üppige Sozialstaat – Renten, Gesundheit, Pflege – ist auf Dauer nicht mehr bezahlbar. Es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen Leistungsempfängern und denen, die zahlen müssen. Dazu kommt die immer tiefere Kluft zwischen Arm und Reich: Ohne nachhaltige Reformen wird der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht bestehen können; es drohen soziale Konflikte bislang unbekannten Ausmaßes. Auch international droht Ungemach: Der Rohstoffhunger der aufstrebenden Schwellenländer, vor allem Chinas, bestimmt zunehmend die Weltpolitik; Rohstoffspekulanten treiben die Preise künstlich in die Höhe. Die Wechselkurse werden zum Schlachtfeld der internationalen Politik: Der künstlich niedrig gehaltene chinesische Yuan sorgt ebenso für Probleme wie die amerikanische Geldpolitik, denn beides schwächt die Wettbewerbsfähigkeit der Exportnation Deutschland erheblich und mündet auf internationaler Ebene womöglich in Protektionismus und Abschottung der Märkte – zum Schaden aller.
Zunehmende Radikalisierung
Politikverdrossenheit, Wahlmüdigkeit, massenhafte Austritte aus Gewerkschaften, Verbänden, Kirchen: Der Deutsche hat den Rückzug ins Private angetreten. Das unterminiert die Legitimität demokratischer Entscheidungen und schwächt den Staat, der vom Engagement seiner Bürger lebt. Das Ergebnis ist eine Führerdemokratie, in der nicht das überzeugende Argument, sondern der charismatische Populist gewinnt. Vor allem die Rechte zählt zu den Gewinnern bei den frustrierten Bürgern – wie die Beispiele Ungarn, Niederlande und Frankreich zeigen. Separatistische Tendenzen, die Betonung der eigenen Identität und die Abgrenzung gegen das Fremde werden zunehmen – wie in Spanien, Norditalien oder auf dem Balkan. Befeuert wird dies durch die nach wie vor ungelösten Probleme mit schlecht integrierten Migranten und vielleicht auch durch islamistisch motivierte Terroranschläge. Der europäische Gedanke droht in diesem Unmut unterzugehen.
Die Schwäche der Medien
Eigentlich sollten die Medien die vierte Gewalt im Staat sein. Lange dürfte das aber nicht mehr der Fall sein: Die Gratiskultur des Internets, wegbrechende Werbekunden, Sparzwänge, ausgedünnte Redaktionen und unterbezahlte freie Journalisten stehen in direktem Zusammenhang mit der immer engeren Vermischung von PR und Journalismus. Heute schon übernehmen viele Journalisten PR-Texte, statt dass sie Artikel selbst recherchieren. Die Inhalte werden zunehmend am Publikumsgeschmack ausgerichtet: Sensationen, Glamour, Sex und Gewalt verkaufen sich nun mal besser als komplexe politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge. Dazu kommen ökonomische Abhängigkeiten: Wenn sich Verlage in den Händen großer Unternehmen befinden, werden kritische Berichte, die den Interessen des Kapitalgebers zuwiderlaufen, nicht gerade wahrscheinlicher. Qualitätsjournalismus, hat kaum eine Zukunft – zum Schaden der Demokratie.
Was tun?
Der Kollaps droht, doch noch ist er nicht da, noch ist Zeit zum Handeln. Das Herumdoktern an Symptomen reicht jedoch nicht mehr aus, die Ursachen der Probleme müssen beseitigt werden. Ansatzpunkte dafür wären: mehr Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen (Volksabstimmungen), eine schwächere Position des Bundestags, eine unabhängigere Regierung, Einführung eines Mehrheitswahlrechts, Wahlpflicht, ein allgemeines soziales Jahr für beide Geschlechter, eine Reform des Föderalismus und insbesondere mehr Steuerhoheit für Länder und Gemeinden. Außenpolitisch tut eine stärkere Vertretung deutscher Interessen in der EU not: eine strikte Durchsetzung der Stabilitätskriterien sowie ein Deutscher an der Spitze der EZB. Wirtschaftspolitisch brauchen wir eine stärkere Haftung der Banken bei riskanten Geschäften, etwa durch eine höhere Eigenkapitalunterlegung oder auch eine Größenbegrenzung mit der Möglichkeit geordneter Insolvenz.
„Mit kleineren konventionellen Eingriffen werden wir den Kollaps des Systems nicht abwenden.“
Die Führungsetage muss wieder im Alltag ankommen: Statt abgehobener Topmanager im Glashaus brauchen wir echte Führungskräfte mit gelebter Erfahrung, die mit beiden Beinen im Leben stehen. Als Auswahlkriterium sollte deshalb nicht die Turbokarriere mit 70-Stunden-Wochen stehen, sondern neben der fachlichen auch die soziale Kompetenz, die man sich etwa durch ehrenamtliches Engagement in den sozialen Brennpunkten erwirbt, bei Obdachlosen, Armen und Kranken.