Ausgebrannte Organisationen
Von einem Organizational Burnout spricht man, wenn drei Merkmale erfüllt sind:
- Die Organisation befindet sich in einer Phase tiefer, anhaltender Erschöpfung.
- Sie kann sich nicht aus eigener Kraft aus diesem Zustand befreien und erholen.
- Die Situation wird als Problem erkannt und als unerwünscht eingestuft.
„Wären Organisationen keine sozialen Systeme, wären sie immun gegen ein Organizational Burnout. Nur soziale Systeme erfüllen die Voraussetzung, sich selbst zu steuern, zu lernen, zu entwickeln, sich zu engagieren und ggf. auszubrennen.“
Dabei ist es unerheblich, ob es sich bei der Organisation um ein Wirtschaftsunternehmen, eine öffentliche Verwaltung oder eine Non-Profit-Organisation handelt. Sie alle sind soziale Systeme und können gleichermaßen betroffen sein. Ein Organizational Burnout ist allerdings nicht die Summe der individuellen Burnouts der Mitarbeiter oder Führungskräfte. Es ist ein eigenständiges Symptom einer Organisation, und deren einzelne Elemente, d. h. die Mitarbeiter, müssen nicht notwendigerweise ebenfalls ausgebrannt sein. Allerdings gibt es Analogien bei den Ursachen und beim Verlauf individueller und organisatorischer Burnouts.
Wann kommt es zum Organizational Burnout?
Manche Organisationen sind anfälliger für Burnout als andere. Unterschiede zeigen sich besonders in den Dimensionen Alter, Größe und Marktbezug:
- Ältere Organisationen sind anfälliger als jüngere: Nach einigen Managementperioden war „alles schon mal da“, die Gründungsführung ist nicht mehr im Amt, man hat sich vom ursprünglichen, gemeinsam getragenen Zweck entfernt, gemeinsame Werte und gegenseitiges Vertrauen schwinden.
- Größere Organisationen sind anfälliger als kleinere: Hier spielt vor allem die Größe der Untereinheiten eine Rolle, nicht die der gesamten Organisation. Ist eine Abteilung so groß, dass eine Führungskraft die Mitarbeiter nicht mehr namentlich benennen kann, wird Führung durch Kommunikation unmöglich und es werden Regeln aufgestellt. Ähnliche Mechanismen treten auch bei steilen Hierarchien auf.
- Marktferne Organisationen sind anfälliger als marktnahe: In marktnahen Unternehmen sorgen Markt und Wettbewerb für eine rasche Korrektur von Fehlentscheidungen und Fehlbesetzungen. Dieses Korrektiv ist in Unternehmen mit regulierten Märkten (z. B. Krankenversicherungen) verlangsamt und fehlt bei öffentlichen Institutionen völlig.
„Hinsichtlich eines Organizational Burnout ist nichts gefährlicher als der anhaltende Erfolg.“
Das alles sind begünstigende, aber noch nicht hinreichende Bedingungen für ein Organizational Burnout: Auch wenn ein System alt, groß und marktfern ist, muss es nicht unbedingt ausgebrannt sein. Dazu braucht es mehr, nämlich in erster Linie anhaltenden Erfolg, der müde, arrogant und nachlässig macht und dazu führt, dass Marktveränderungen nicht erkannt oder nicht ernst genommen werden. Es braucht ein Topmanagement, das Misserfolge ignoriert und Fehler gar nicht erst zulässt oder sie jeweils auf das mittlere Management und die operative Ebene abschiebt. Es braucht eine Verhaltens- und Fehlerkultur, bei der alle sich gern am Nebenmann orientieren, dem Mainstream folgen und eigene Wege meiden, auch wenn diese objektiv richtig wären. Besonders anfällig für ein Burnout sind Organisationen während einer Fusion oder Übernahme.
Ablauf eines Burnouts von Organisationen
Ein Organizational Burnout läuft in vier Phasen ab, die sich teilweise überschneiden und eine Vielzahl von Symptomen aufweisen:
- Latentes Burnout: Erste Misserfolge am Markt und nachlassende Produktivitätskennziffern werden von allen beschönigt. Immer mehr interne Sitzungen und Berichtspflichten kommen auf. Es gibt eine beginnende Ressourcenverknappung. Führung findet kaum noch statt und erreicht die unteren Ebenen nicht mehr.
- Akutes Burnout: Unsicherheit und Angst vor Fehlern bei Führungskräften und Mitarbeitern machen sich breit. Es kommt zu gegenseitigen Schuldzuweisungen und allseits steigenden Ansprüchen, Zynismus als Zeichen innerer Kündigung, Leistungssimulation statt Performance und einem frostigen Innovationsklima.
- Chronisches Burnout: Das Management igelt sich ein und ist immer häufiger abwesend, Resignation und Ohnmachtsgefühle machen sich breit. Manager werden überraschend ausgetauscht, die Fluktuation steigt. Das Management proklamiert wieder einmal den „Neustart“.
- Letales Burnout: Management und Mitarbeiter sind enttäuscht voneinander, misstrauen sich und kommunizieren nicht mehr. Die Führung verliert endgültig die Kontrolle über betriebliche Vorgänge, alle sehnen einen großen Knall herbei. In einer Situation von Hoffnungslosigkeit und Depression unternimmt niemand etwas gegen den „Organisationssuizid“.
„Die heroische Sozialisierung unserer Führungskräfte lässt Schwäche oder gar Versagen nicht zu. Genau die aber müsste man sich eingestehen, wenn man auch nur in Erwägung ziehen wollte, dass die eigene Organisation von dem ,Virus‘ erfasst sein könnte.“
Nicht in allen Organisationen treten diese Symptome gleichermaßen und in dieser Reihenfolge auf, sie lassen sich aber im Großen und Ganzen immer wieder beobachten. Die Symptome der ersten Phase sind möglicherweise nur harmlose Schwankungen im Geschäftsablauf. Dennoch sollte man stets ein drohendes Organizational Burnout im Blick haben und ggf. Maßnahmen einleiten. In der frühen Phase reichen geringe Interventionen, um ein Burnout abzuwenden. Wird jedoch zu Beginn nichts unternommen, besteht die Gefahr einer Spirale, die das System aus eigener Kraft nicht wieder verlassen kann.
Diagnose und Akzeptanz
Bei der Diagnose ist externe Unterstützung ratsam, denn für eine Selbstdiagnose fehlen in der Regel die Voraussetzungen: Es sind ja vor allem Führungsprobleme, die ein Organizational Burnout auslösen, und das können erfolgsverwöhnte und unfehlbare Manager nur schwer zugeben. Die Selbstdiagnose scheiterte bisher auch am fehlenden Krankheitsbild Organizational Burnout.
„Durch Machtausübung werden – im Unterschied zu Führung und Vertrauen – selten bessere Prozesse oder höherwertiges Wissen produziert.“
Zunächst muss das Topmanagement die Diagnose akzeptieren. Dafür ist die Fähigkeit zu Selbstkritik erforderlich, aber in der Realität sind eher Unfehlbarkeitsansprüche und Realitätsverweigerung anzutreffen. Im zweiten Schritt wird das mittlere Management mit der Diagnose konfrontiert und erst im dritten Schritt die operativen Mitarbeiter. Diese Reihenfolge ist unverzichtbar, denn es braucht die Akzeptanz des Topmanagements, damit sich die nachgeordneten Ebenen überhaupt aus der Deckung wagen.
„Die Therapie ist gut beraten, an der Organisationsstruktur zunächst nicht zu rütteln. Wir müssen an den Inhalten, nicht an der Form arbeiten.“
Häufig akzeptiert die Führung das Krankheitsbild Organizational Burnout, sobald sie – z. B. durch einen Coach – mit den Symptomen konfrontiert wird. Ist das nicht der Fall, sind Befragungen von Mitarbeitern, Führungskräften, Kunden und Lieferanten erforderlich, um der Topführung möglichst umfassend die Symptome vor Augen führen zu können. Mangelt es an Akzeptanz im mittleren Management oder bei den Mitarbeiten, helfen so genannte Analogieforen, in denen eine Szene vorgespielt wird, damit die Teilnehmer Burnout-Situationen bei Kunden oder Lieferanten besser erkennen können. Dass auch die eigene Organisation betroffen ist, wird von den Teilnehmern dann schnell erkannt.
„Aufbauorganisationen sind leicht zu verändern, Unternehmenskulturen aber sind tief verwurzelte Verhaltensweisen, deren Veränderung nur langsam möglich ist.“
An die Akzeptanz schließt sich die selbstkritische Analyse der Vorgeschichte an. Wichtig ist dabei, gegenseitige Schuldzuweisungen zu vermeiden, die den Weg für Lösungen verbauen würden. Das Management sollte ein hierarchiefreies Projektteam damit beauftragen, die Ursachen des Burnouts zu benennen und die Folgen für die Organisation aufzuzeigen. Während dieser Phase muss unbedingt auf schnelle Sofortlösungen verzichtet werden, denn diese haben ja auch in der Vergangenheit nicht funktioniert. Neben einem ausgeprägten Teamansatz ist bei der Diagnose ein externer Organisationscoach praktisch unverzichtbar – seine Arbeit gleicht einer ärztlichen Behandlung bei bestimmten Krankheitssymptomen. Verzichten sollte man auf eine klassische Unternehmensberatung, denn die üblichen Consultingansätze zum Change-Management oder zur Geschäftsprozessoptimierung würden gerade nicht aus der Burnout-Spirale heraushelfen und das Misstrauen der Beschäftigten nur verstärken.
Selbstheilung ausgeschlossen
Wer ein System tatsächlich verändern will, muss die Verteilung von Macht infrage stellen. Das lassen diejenigen, die über Macht verfügen, normalerweise nicht zu. Nötig wären Partizipation und Delegation, Information und Kommunikation, um die Ursachen des Burnouts zu behandeln. Mit hausinternen Therapien wird die Macht nicht neu verteilt, sondern man doktert nur oberflächlich an Symptomen herum und weckt falsche Hoffnungen. Das kann die Lage zunächst scheinbar verbessern. Aber schon bald wird das Burnout umso schneller fortschreiten. Das Unternehmen kann ein Organizational Burnout nie aus eigener Kraft heilen. Es bedarf professioneller Begleitung durch einen erfahrenen und fachlich wie psychologisch kompetenten Coach.
Therapieansätze gegen Organizational Burnout
Damit sie erfolgreich ist, darf die Therapie nicht unter Zeitdruck stattfinden. Der Coach muss bei seiner Arbeit mit den Führungskräften und Mitarbeitern dort ansetzen, wo das Burnout entstanden ist. Das sind in der Regel die folgenden Bereiche:
- Kommunikation: Sie ist die notwendige Voraussetzung und damit der „Transmissionsriemen“ für die nachfolgenden Elemente. Gestörte Kommunikation ist eine der Hauptursachen für das Burnout, daher muss die neue Kommunikation empfängerorientiert, wahrhaftig, positiv und direkt sein sowie neben den formellen auch informelle Kanäle einbeziehen.
- Führung: Sie ist das beste Mittel gegen Organizational Burnout. Manchmal lässt sich die vorhandene Führung revitalisieren; wenn möglich sollte die Spitze ausgetauscht werden. Schnell und gut funktioniert oft auch der Einsatz eines Interimsmanagers, solange es sich bei dieser Person nicht um den typischen Vollstrecker oder Abwickler handelt. Je nach Burnout-Phase unterscheiden sich die wichtigsten Botschaften der neuen oder erneuerten Führung. Immer aber geht es darum, das Vertrauen der Mitarbeiter wiederzugewinnen.
- Strategie: Zunächst braucht es klare, ehrliche und nicht top-down vermittelte, sondern intensiv kommunizierte Ziele. Anschließend muss festgelegt werden, wie die Ziele gemeinsam erreicht werden können und welche Ressourcen dafür erforderlich sind. Die Ziele müssen ambitioniert sein und der bekannten SMART-Formel (spezifisch – messbar – anspruchsvoll – realistisch – terminiert) entsprechen.
- Prozesse: Es geht nicht darum, alle Prozesse zu verändern, sondern nur solche zu behandeln, die ins Burnout geführt haben oder künftig wieder hineinführen könnten. Bei Prozessänderungen ist Partizipation das Gebot der Stunde: Das Management bestimmt das Ob, aber die Betroffenen können das Wie mitgestalten.
- Organisation: Veränderungen der Aufbauorganisation sind nicht zielführend. Wichtiger ist es, für Kontinuität zu sorgen, bei Zentraleinheiten und Stabsstellen anzusetzen und Verantwortung zu dezentralisieren.
- Kultur: In einer von Burnout befallenen Organisation fehlt es an Teamgeist, und den gilt es wiederherzustellen. Das geschieht am besten über Erfolge. Falls diese ausbleiben, reichen oft Erfolgsgeschichten, die zur Not auch erfunden sein können. Die Führungskräfte müssen im Unternehmen unterwegs sein und mit ihren Leuten sprechen, aber sie dürfen sich dabei nicht überhasten. Kultur verändert sich nicht über Nacht.