Entwicklung und Struktur der Europäischen Union
1951/52 schlossen sich sechs Staaten – Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande – zur Montanunion zusammen, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Daraus entstand 1957/58 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), 1965/67 die Europäische Gemeinschaft (EG) und 1992/93 die Europäische Union (EU). Mit den Jahren kamen immer weitere Mitglieder hinzu, zurzeit sind es 27. Inzwischen werden mehr als 80 % des deutschen Rechts von EU-Recht bestimmt – vom Antidiskriminierungsgesetz bis zur Kennzeichnungspflicht für Hühnereier. Wer in Deutschland und Europa erfolgreich wirtschaften will, muss diese rechtlichen Grundlagen kennen.
„Über 80 % der in Deutschland geltenden Rechtsakte stammen von der EU.“
Die EU ist in mehrere Organe gegliedert. Der Europäische Rat ist die Zusammenkunft aller Staats- und Regierungschefs der EU. Der Rat der Europäischen Union, auch Ministerrat genannt, besteht dagegen aus Fachministern der Mitgliedsländer. Sie entscheiden jeweils über ihren eigenen Politikbereich. Das Europäische Parlament wird von allen Bürgern der EU direkt gewählt. Seine Befugnisse sind begrenzt, es besitzt jedoch in vielen Bereichen ein Vetorecht. Die Europäische Kommission besteht aus dem Präsidenten und 26 weiteren Kommissaren, die quasi die Aufgaben von EU-Ministern erfüllen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) ist für das EU-Recht zuständig. Da EU-Recht über nationalem Recht steht, kommt ihm eine enorme Bedeutung zu. Daneben gibt es noch weitere Institutionen, wie die Europäische Zentralbank oder den Europäischen Rechnungshof.
Der EU-Binnenmarkt
Seit 1993 gibt es den EU-Binnenmarkt, der Freizügigkeit für Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der Europäischen Union gewährleistet. Die Produkte und Regeln der einzelnen Länder werden EU-weit anerkannt und einander angeglichen; EU-Gesetze regeln die Details. Der Binnenmarkt hat auch die politische Annäherung der europäischen Staaten vorangetrieben, etwa bei der Währungsunion oder bei der Anpassung nationaler Gesetze. Rund zwei Drittel ihres Außenhandels wickeln die EU-Länder inzwischen innerhalb des Binnenmarktes ab. Innerhalb der EU gibt es mittlerweile keine Zölle mehr und nur noch wenige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen. Auch Maßnahmen zum Verbraucherschutz werden EU-weit geregelt. So ist z. B. die EG-Öko-Verordnung, die über das Bio-Siegel für Lebensmittel entscheidet, für alle Mitgliedstaaten einheitlich. Für den Verbraucher in Deutschland bedeutet das nicht immer eine Verbesserung: Eine EU-Richtlinie hat etwa die deutschen Vorschriften für einheitliche Verpackungsgrößen gekippt.
In der EU mobil
Seit dem Schengener Abkommen von 1985 können sich EU-Bürger in Europa frei bewegen. Das Hochschulsystem wird mit der Umstellung auf Bachelor- und Masterabschlüsse harmonisiert. Arbeitnehmer und Selbstständige können ihre Abschlüsse in anderen Ländern anerkennen lassen und dürfen grundsätzlich in allen Mitgliedstaaten arbeiten. Deshalb musste Deutschland auch den Meisterzwang lockern; hier dürfen ausländische Handwerker nach EU-Recht ohne Meistertitel arbeiten. Allerdings ist der Markt noch nicht völlig liberalisiert, im Gesundheitsbereich z. B. gelten noch starke Einschränkungen. Um Ungerechtigkeiten zu vermeiden, herrscht bei den Dienstleistungen das Bestimmungslandprinzip: Der Dienstleister muss sich an die Vorschriften des Landes halten, in dem er arbeitet. So gilt für den polnischen Handwerker in Deutschland das deutsche Sozialrecht.
Geld in der EU
Auch der Kapitalverkehr in der EU ist weitgehend liberalisiert. Das bewegt viele westeuropäische Unternehmen dazu, ihre Produktion in EU-Länder mit extrem niedrigen Lohnkosten wie Rumänien oder Bulgarien zu verlagern. Doch dieser Schritt ist riskant: In den Niedriglohnländern sind die Löhne in den letzten Jahren vergleichsweise stark angestiegen. Zugleich zeigen Statistiken, dass in Ländern mit relativ hohen Löhnen schon vor der Wirtschaftskrise 2008 die Reallöhne leicht gesunken sind, in Belgien etwa um 1,1 % im Vergleich zu 2007. Der Zahlungsverkehr wird schrittweise harmonisiert; langfristig sollen Geldtransfers innerhalb der EU genauso schnell und günstig ablaufen wie Inlandsüberweisungen. Seit 2008 gibt es die kostengünstige EU-Standardüberweisung, die allerdings nur bis zu 50 000 € möglich ist. Bestrebungen, auch das Steuersystem der EU zu harmonisieren, waren bisher wenig erfolgreich, denn Steuern sind ein Standortmerkmal mit Einfluss auf den Wettbewerb. In einigen Bereichen schreibt die EU jedoch Mindest- oder Höchststeuersätze vor.
Die Unternehmen, der Arbeitsmarkt und die EU
In den Bereichen Arbeitsmarkt und Soziales hat die EU ihren Einfluss kontinuierlich erweitert. In vielen Punkten können die Mitgliedstaaten aber noch selbst entscheiden, z. B. was Sozialversicherungen, Kündigungsschutz, Arbeitsentgelt oder Streikrecht betrifft. Für EU-Bürger, die in mehreren europäischen Ländern arbeiten, regelt eine Rentenverordnung die Ansprüche auf Altersversorgung. Mittel aus diversen Fonds der EU unterstützen Arbeitnehmer bei Weiterbildung und Umschulung. Damit soll Arbeitslosigkeit vermieden werden. Kapitalgesellschaften, die in einem anderen EU-Land tätig werden wollen, können sich in eine Europäische Aktiengesellschaft umwandeln (Societas Europaea, kurz SE). Wie sich diese Gesellschaft organisiert, entscheidet die Geschäftsführung: Zur Wahl stehen das mitteleuropäische Modell mit Vorstand und Aufsichtsrat oder das angelsächsische mit einem Board of Directors. Die angelsächsische Variante schränkt die Mitbestimmung der Arbeitnehmer erheblich ein. Was die EU ebenfalls liberalisieren wollte, ist die Möglichkeit feindlicher Übernahmen; das Vorhaben scheiterte aber am Widerstand einiger Mitgliedsländer, weshalb die nationalen Regelungen vorerst in Kraft bleiben.
Wettbewerbspolitik
Die EU-Kommission sorgt für ungehinderten Wettbewerb und kontrolliert Fusionen sowie die Vergabe von Subventionen. Preisabsprachen oder Kartelle werden mit hohen Bußgeldern geahndet. So genannte Bagatellkartelle können sich vom Kartellverbot freistellen lassen, etwa wenn der gemeinsame Marktanteil unter 10 % bleibt. Weil Kartelle nicht leicht zu entlarven sind, hat die Kommission eine Kronzeugenregelung eingeführt: Wer einem Kartell angehört, dies anzeigt und bei der Beweissicherung hilft, kann straffrei bleiben. Allein in den Jahren 2005–2009 verhängte die EU-Kommission Kartellstrafen von insgesamt 9,76 Milliarden Euro.
„Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht liegen die wesentlichen Vorteile des Binnenmarktes in höherem Wachstum und damit verbunden mehr Beschäftigung, aber auch in intensiverem Wettbewerb und damit preisgünstigeren und vielfältigeren Waren für die Kunden.“
Spektakulär war der Rechtsstreit mit Microsoft: Das Unternehmen verdrängte mit seinem Internet Explorer andere Anbieter. Microsoft musste schließlich 1,7 Milliarden Euro Strafe zahlen. Nicht erlaubt sind staatliche Beihilfen für Branchen oder Unternehmen. Dazu zählen auch staatliche Garantien für Landesbanken und Sparkassen; allerdings gelten hier zahlreiche Ausnahmen. Staatliche Monopole gestattet die EU nur, wo sie zwingend scheinen. Deutschland hat das z. B. bei den Deregulierungen im Schienenverkehr und der Telekommunikation zu spüren bekommen.
Umwelt, Industrie und Forschung
Die EU-Länder betreiben eine gemeinsame Umweltpolitik. Europäische Richtlinien regeln dabei die Rücknahme alter Fahrzeuge und die Grenzen für Feinstaubemission. Auch der vereinte Kampf gegen den Klimawandel gehört dazu. 2005 wurde der Handel mit Emissionsrechten eingeführt, der den Kohlendioxidausstoß begrenzen soll. Mit ihrer Industriepolitik unterstützt die EU vor allem kleine und mittlere Unternehmen und stellt dafür Fördergelder bereit. Die Programme haben aktuell ein Volumen von rund 30 Milliarden Euro. Das aktuelle Rahmenprogramm zur Forschungsförderung ist mit 53 Milliarden Euro dotiert. Das Geld kann jeder abrufen, der Forschung betreibt – nicht nur staatliche Institutionen, sondern auch Unternehmen.
Unterstützung wenig entwickelter Regionen
Die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den einzelnen EU-Staaten sind zum großen Teil enorm. Die Union versucht sie mit zahlreichen Hilfsprogrammen für rückständige Regionen auszugleichen. Als rückständig gilt eine Region dabei, wenn das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner weniger als zwei Drittel des EU-Durchschnitts beträgt. Dieses Kriterium trifft vor allem auf die osteuropäischen Staaten zu. Der Europäische Sozialfonds (ESF) fördert Maßnahmen wie Ausbildung und Umschulung. Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung hilft bei der strukturellen Weiterentwicklung. Der Kohäsionsfonds ist für Verkehrsprojekte und Umweltschutz zuständig. Agrarsubventionen gehörten von Anfang an zu den zentralen Maßnahmen der Europäischen Union. Sie sind allerdings auch höchst umstritten – Kritiker werfen ein, sie würden notwendige Strukturanpassungen verhindern.
Einfluss in Brüssel
Alles in allem hat die Europäische Union enormen Einfluss auf die deutsche Wirtschaft. Aus diesem Grund haben große Unternehmen und Verbände schon seit Langem ihre Vertreter in Brüssel, die dort Lobbyarbeit betreiben. Für kleinere Unternehmen ist das nicht möglich. Aber auch sie können über Verbände oder über das Internet Einfluss auf die Brüsseler Politik nehmen. Verbände allerdings vertreten nur den kleinsten gemeinsamen Nenner ihrer Mitglieder, nicht die Interessen eines einzelnen Unternehmens. Doch im Internetauftritt der Europäischen Union kann man seiner Meinung zu aktuellen Themen Ausdruck geben. Für Fragen gibt es eine Hotline. Außerdem besitzt die EU in allen Mitgliedsländern Vertretungen und Informationszentren, an die man sich wenden kann.
Ausblick in die Zukunft
Wie wird sich die EU entwickeln? Sie wird ihre Kompetenzen weiter ausbauen. Es gibt Forderungen nach eigenen Steuern der EU, damit sie ihre finanzielle Ausstattung verbessern kann. Dann dürfte sie auch Schulden machen, was jetzt noch nicht erlaubt ist. Vermutlich werden die Themen Umweltschutz und Islamismus eine noch größere Rolle spielen.
„Der Austritt auch nur eines ersten kleineren Landes aus der EU könnte einem Dammbruch gleichkommen.“
Wenn weitere Staaten der EU beitreten wollen, müssen sie drei Kriterien erfüllen: eine stabile demokratische Ordnung, eine gut funktionierende Marktwirtschaft und die Bereitschaft, die Regeln der Gemeinschaft zu übernehmen. In der Praxis wurden diese Grundsätze bisher nicht so streng gehandhabt. Normalerweise bevorzugt die EU reiche oder bevölkerungsarme Länder, weil sie keine Unterstützung brauchen und die EU-internen Machtverhältnisse nicht verschieben. Island z. B. hat gute Chancen, bald aufgenommen zu werden. Ein Beitritt der Türkei dagegen ist seit Jahrzehnten umstritten. Auch Länder außerhalb Europas, z. B. Marokko, versuchten bislang vergeblich, Mitglied zu werden.
Wie stabil ist die EU?
In der Bevölkerung hat die EU seit jeher mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen. Zahlreiche Volksabstimmungen zur Union sind gescheitert, und in Umfragen liegt die Zustimmung zur EU meist nur knapp über 50 %. Die Brüsseler Behörden gelten allgemein als unnötige Bürokraten ohne Kontakt zu den Bürgern. Zudem sind die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten groß. Das kann rasch zu Zerreißproben führen, vor allem, wenn die wirtschaftlich schwächeren Staaten Hilfe beanspruchen.
„Ohne die EU wäre der materielle Wohlstand niedriger.“
Dieses Problem wird sich verschärfen, falls sich die EU, wie von einigen Politikern gefordert, auch für eine gemeinsame Konjunkturpolitik entscheidet. Zugleich sind die Vorteile der Europäischen Union unübersehbar: Ohne Grenzkontrollen kann man ungehindert reisen, und einstige Luxusgüter werden bezahlbar. Überdies können sich die europäischen Länder gemeinsam besser gegen Wirtschaftsmächte wie die USA oder China behaupten.