März 2008
Richard S. Fuld, CEO von Lehman Brothers, saß gerade in seinem Gulfstream-Jet, als er von Finanzminister Hank Paulson einen Anruf mit einer schockierenden Nachricht erhielt: Bear Stearns, die fünftgrößte Investmentbank, stand kurz vor dem Bankrott und sollte für nur 2 $ pro Aktie an den Konkurrenten JP Morgan Chase verkauft werden. Fuld wusste: An Lehman würde dieses Finanz-Erdbeben nicht spurlos vorübergehen. Und tatsächlich eröffnete die Aktie 35 % im Minus. Die Agentur Moody’s blieb zwar bei ihrem Rating A1 für Lehmans langfristige Schuldverschreibungen, ging beim Ausblick aber von „positiv“ auf „stabil“ zurück. Große Marktteilnehmer wiesen ihre Händler an, vorerst keine neuen Geschäfte mit Lehman einzugehen. Der stets finster dreinblickende Fuld beteuerte, die Bank habe genügend Liquidität und es bestehe kein Grund zur Sorge. Wenige Tage später, am 17. März 2008, gab Lehman Brothers die Quartalszahlen bekannt; sie schienen Fulds Aussagen zu bestätigen und übertrafen die Erwartungen der Analysten. Während bei Lehman noch eitel Freude herrschte, wurden erste kritische Stimmen laut. Die Verbindlichkeiten seien falsch bewertet, die Gewinne daher mehr Schein als Sein, ließ ein Investor verlautbaren. Hedgefondsmanager hatten bereits begonnen, auf Lehmans Untergang zu spekulieren.
„Letzten Endes handelt dieses Drama von Menschen, von der Fehlbarkeit von Personen, die glaubten, sie wären zu groß, um scheitern zu können.“
Hank Paulson, der ehemalige CEO von Goldman Sachs, war an den Verhandlungen zum Verkauf von Bear Stearns beteiligt und telefonierte am Ostersonntag 2008 mit JP Morgans CEO, Jamie Dimon. Dimon wollte angesichts erzürnter Bear-Stearns-Aktionäre 10 $ je Aktie für die Bank bezahlen. Paulson goutierte dies überhaupt nicht: Immerhin wäre Bear Stearns bereits pleite gewesen, wenn die Regierung nicht mit einem 30-Milliarden-Dollar-Kredit für die Schulden der Bank geradegestanden wäre.
April 2008
Timothy F. Geithner, der schmächtige Präsident der New Yorker Notenbank, sorgte sich. Seiner Meinung nach durfte man den Fall Bear Stearns nicht isoliert betrachten. Wenn der Markt für Kreditversicherungen zusammenbräche, würde es zu einem Dominoeffekt kommen, da jeder an der Wall Street der Geschäftspartner jedes anderen zu sein schien. Am 3. April sollten Geithner und andere vor dem Bankenausschuss aussagen. Die Senatoren wollten wissen: Wenn sich die Banker jederzeit auf die Hilfe der Regierung verlassen könnten, würden sie dann nicht allzu riskante Wetten eingehen?
„Dimon hatte eine klare Linie, wie er die Übernahme von Bear Stearns kurz und knapp erklären wollte: ,Ein Haus zu kaufen ist nicht dasselbe wie ein brennendes Haus zu kaufen.‘“
Bei einem Abendessen im Finanzministerium tauschten sich Paulson und Fuld aus. Paulson machte sich Sorgen über einen Bericht des Internationalen Währungsfonds, wonach die Wertberichtigungen bei Hypotheken und Immobilien in den kommenden zwei Jahren knapp 1 Billion Dollar erreichen könnten. Fulds Gedanken kreisten dagegen um die Leerverkäufe, die Geschäfte jener Anleger, die auf den fallenden Kurs der Lehman-Aktie spekulierten und ihn dadurch immer weiter nach unten trieben.
Juni 2008
Die Lehman-Aktie fiel stetig weiter, nachdem ein einflussreicher Hedgefondsmanager die Bewertungen der Immobilienanlagen und Kreditverbriefungen öffentlich infrage gestellt hatte. Am 9. Juni gab Lehman schließlich einen Quartalsverlust von 2,8 Milliarden Dollar bekannt. Fuld versuchte verzweifelt, Kapital zu beschaffen, und es mussten auch einige Köpfe rollen.
„In Krisenzeiten – wenn möglichst sofort ein großer Scheck ausgestellt werden musste – war Buffett der bevorzugte Ansprechpartner.“
Der Verwaltungsrat des Versicherungsgiganten American International Group (AIG), ein Unternehmen mit einem Börsenwert von knapp 80 Milliarden Dollar, hatte seinem Vorsitzenden Robert Willumstad gerade den Job des CEO angeboten; er sagte zu. Und er trat ein schweres Erbe an: Nachdem AIG Subprime-Hypotheken in Höhe von mehr als 500 Milliarden Dollar versichert hatte, musste das Unternehmen horrende Aufwendungen fürchten, sollten die Ausfälle weiter so stark zunehmen. Im Mai hatte AIG bereits 9,1 Milliarden Dollar abschreiben müssen, was zu einem Verlust von 7,8 Milliarden Dollar geführt hatte.
„Die AIG-Abteilung AIG Financial Products Corp., kurz FP, wurde zum Ground Zero für die Finanzschwindler, die beinahe das gesamte Unternehmen zerstörten.“
Kein Käufer interessierte sich für Lehman, und die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac, denen man die Schuld an der Immobilienblase gab, standen vor dem Aus. Ein Analyst rechnete vor, die beiden Hypothekenfinanzierer bräuchten 75 Milliarden an Kapital – während die Führung der beiden Institute noch von ausreichend Eigenkapital sprach und den Markt zu beruhigen versuchte.
„Die Spitzenunternehmen der Wall Street versammelten sich zum Feilschen auf einer Art türkischem Basar, den die Regierung für sie organisiert hatte.“
Bislang kam für Fuld ein Verkauf seiner Bank nur über seine Leiche infrage, und selbst dann „steige ich aus dem Grab und verhindere es“, tönte er noch 2007. Doch nun brauchte Lehman Geld, und zwar rasch. Gespräche mit seinem Freund John Mack, CEO der Investmentbank Morgan Stanley, verliefen ergebnislos. Von einer Umwandlung Lehmans in eine Bank-Holding, mit dem Ziel, so Geld von der Notenbank leihen zu können, riet Tim Geithner ab. Und ein von Paulson eingefädelter Deal mit der Bank of America scheiterte an Fulds überrissenen Preisvorstellungen.
August 2008
Das Finanzministerium war nun offiziell befugt, Fannie Mae und Freddie Mac zu helfen. Die beiden Institute gaben horrende Verluste öffentlich bekannt, und Moody’s stufte deren Vorzugsaktien als Ramsch ein. Von Morgan Stanley hinzugezogene Berater gingen von einem Kapitalbedarf von mindestens 50 Milliarden Dollar aus, nachdem 40 Angestellte wochenlang Tag und Nacht Kreditposten überprüft hatten. Das Finanzministerium entschied sich dafür, die beiden Institute unter Zwangsverwaltung zu stellen und jeweils 79,9 % der Aktien zu übernehmen. Schlimmstenfalls würden so bis zu 200 Milliarden Dollar Steuergelder in die beiden Unternehmen fließen.
„Sollte bis Montag keine Lösung gefunden sein, bestand die Gefahr, dass die Anleger das wenige verbliebene Geld zurückforderten und die Bank nach Ertönen der Eröffnungsglocke sofort in die Zahlungsunfähigkeit schickten.“
Als bekannt wurde, dass auch die Korea Development Bank den Kauf von Lehman abgelehnt hatte, fielen die Lehman-Aktien ins Bodenlose. Viele fragten sich nun, ob die Regierung nach Bear Stearns und den Hypothekenfinanzierern auch Lehman retten würde? Jamie Dimon von JP Morgan bezweifelte dies. Um sich selbst zu schützen, bestand JP Morgan auf zusätzlichen Sicherheiten von Lehman in Höhe von 5 Milliarden Dollar. Lehman vertröstete JP Morgan und stimmte zu, dass die Bank ebenso wie Citigroup Einsicht in die Bücher nahm, um Lehman sodann bei der Kapitalbeschaffung zu unterstützen. Bald war jedoch klar: Hilfe konnte Lehman von niemandem erwarten.
September 2008
Nachdem auch die von Paulson erzwungenen Verhandlungen zwischen Lehman und Goldman Sachs gescheitert waren, machte Fuld einen erneuten Anlauf bei der Bank of America. Deren CEO, Kenneth Lewis, war das Risiko aber zu hoch. Um einen Bieterkampf anzufachen, brachte Geithner die britische Barclays Bank ins Spiel, indem er Fuld die Telefonnummer von deren Präsident Bob Diamond gab. Diamond bestätigte sein Interesse, sofern „der Preis wirklich verzweifelt“ sei. Doch nicht nur er, sondern auch die Bank of America erwartete sich finanzielle Unterstützung durch die US-Regierung. Das aber lehnte Paulson angesichts des drohenden PR-Desasters strikt ab.
„Nach langen Debatten einigte sich Paulsons Arbeitsgruppe auf die Zahl von 700 Milliarden Dollar. Bei einer Verabschiedung würde es sich um den größten Einzelposten aller Zeiten im US-Haushalt handeln.“
Gleichzeitig verunsicherten Gerüchte den Markt, Moody’s werde das Rating von AIG herabsetzen. Eine Herabsetzung um eine Stufe bedeutete für AIG, zusätzliche Sicherheiten in Höhe von 10,5 Milliarden Dollar beibringen zu müssen. AIG wandte sich an den prominenten Investor Warren Buffett, der ein Geschäft mit der Begründung ablehnte, er sei gerade nicht flüssig.
„Um sich zu retten, hatten die beiden größten Investmentbanken des Landes ihr Geschäftsmodell im Grunde für tot erklärt.“
Am Freitag, dem 12. September, verschickte Paulson Einladungen an die CEOs der Wall Street, mit der Bitte, sich um 18 Uhr in der New Yorker Notenbank einzufinden. Nur der dienstälteste CEO von allen war nicht eingeladen: Richard Fuld. Es sollte über Lehmans Schicksal entschieden werden. Paulson hoffte auf eine private Lösung ohne finanzielle Hilfe des Finanzministeriums. Sollte sich diese Hoffnung übers Wochenende nicht erfüllen, stünde der Wall Street eine Katastrophe bevor. Jamie Dimon warnte seine Mitarbeiter bereits per E-Mail, sie sollten sich auf den Bankrott von Lehman, Merrill Lynch, AIG, Morgan Stanley und Goldman Sachs einstellen. Unterdessen arbeitete Barclays an einer Vereinbarung, die eine Übernahme von Lehman ohne deren toxische Immobilienanlagen ermöglichen sollte. Paulson trat vor die CEOs, erläuterte das Kaufangebot der Barclays Bank für Lehman und bat die Anwesenden, ein Konsortium zu bilden, das die schlechten Anlagen Lehmans finanzieren sollte. Die Rettung Lehmans war in greifbarer Nähe – bis im letzten Moment die britische Bankenaufsicht Barclays die Genehmigung zum Kauf mit dem Hinweis auf das große Risiko verweigerte. Wenig später stimmte der Lehman-Verwaltungsrat dem Konkursantrag zu.
„Zu viele Amerikaner hatten bei den Sparplänen für ihre Altersvorsorge schwere Verluste erlitten und fanden schlicht und einfach, dass es die Wall Street nicht verdiente, gerettet zu werden.“
John Thain, der CEO von Merrill Lynch, wurde von seinen Mitarbeitern gedrängt, das Institut der Bank of America anzubieten. Innerhalb weniger Tage war der Deal unter Dach und Fach, die Bank in Sicherheit. AIG dagegen bescheinigte man eine Überlebensdauer von höchstens einer Woche. Erneut versammelten sich die Banker, um die Alternativen für AIG auszuloten. Letztendlich blieb nur eine Möglichkeit: Die Regierung sollte eingreifen, um das Finanzsystem zu retten. Tim Geithner von der Notenbank stellte die entscheidende Frage: „Wie wäre es, wenn die Fed die Sache in die Hand nähme?“ Nur einen Tag nach Lehmans Konkursantrag wurde bekannt, dass die Federal Reserve AIG einen Kredit in Höhe von 85 Milliarden Dollar gewährte und dafür einen Anteil von 79,9 % am Unternehmen sowie 11,5 % Zinsen erhielt.
„Die Banker saßen da wie betäubt. Wenn Paulson geplant hatte, sie zu schockieren, war ihm das hervorragend gelungen.“
Als eine interne Mitteilung, in der Morgan-Stanley-CEO John Mack Leerverkäufer verdammte, nach außen drang, zogen einige erzürnte Hedgefonds ihre Gelder von der Bank ab. Dummerweise gehörten nämlich genau die Leerverkäufer zu Morgan Stanleys Großkunden. Ein panischer Finanzchef informierte John Mack darüber, dass dem Unternehmen nur noch wenige Tage blieben. Chaos regierte die Märkte, immer mehr Unternehmen gerieten in eine finanzielle Schieflage. Für das Finanzministerium war es an der Zeit, zu handeln. Paulson gab sein Bankenrettungsprogramm „Troubled Asset Relief Program“ (TARP) bekannt. Zunächst lehnte der Kongress das 700-Milliarden-Dollar-Programm, das auf lediglich drei Seiten skizziert wurde, allerdings ab. Die Kurse sanken.
„Sie hatten gerade das Finanzsystem des Landes praktisch verstaatlicht, und trotzdem hatte niemand auf einer Bahre aus dem Raum getragen werden müssen.“
Goldman Sachs und Morgan Stanley beschlossen, das Geschäftsmodell der Investmentbank aufzugeben und jeweils Bank-Holdinggesellschaften mit Zugang zu Krediten der Notenbank zu werden. Außerdem überzeugte Goldman Sachs Warren Buffett, mit 5 Milliarden Dollar bei der Bank einzusteigen. Ein solches Investment würde ihm eine Dividende von jährlich 500 Millionen Dollar bringen. Morgan Stanleys neuer Großaktionär sollte ab Oktober die japanische Mitsubishi UFJ Financial Group sein, die für den Anteil 9 Milliarden Dollar bezahlte.
Oktober 2008
Erst im zweiten Anlauf genehmigte das Repräsentantenhaus TARP. Paulson wollte die Mittel dazu verwenden, direkt Anteile an Banken zu erwerben. Am 13. Oktober bat er die Wall-Street-CEOs zu einem Meeting im Finanzministerium, die Agenda war streng geheim. Als alle an dem 7 Meter langen Mahagonitisch Platz genommen hatten, drängte Paulson sowohl die gesunden als auch die weniger gesunden Banken, sein Geld anzunehmen. Im Gegenzug sollte der Staat Vorzugsaktien erhalten. Die Überraschung war gelungen, der Schock saß tief. Die CEOs wussten, dass sie keine Wahl hatten. Alle neun Geladenen unterschrieben und stimmten somit einer Quasi-Verstaatlichung ihrer Häuser zu.