Griechenland: der Gipfel des Eisbergs
„Ein richtiger Staat geht nicht pleite“: Dieser Meinung waren Anfang 2010 nicht nur Historiker und Politiker, sondern auch der einfache Mann auf der Straße. Dann jedoch trat unversehens der Ernstfall ein und die Europäische Union musste ein Rettungspaket in dreistelliger Milliardenhöhe auflegen, um Griechenland vor dem Bankrott zu bewahren und eine Erosion des Euros zu verhindern. Angefangen hatte die Eurokrise Ende Oktober 2009, als der neue Finanzminister Griechenlands ein Lamento über die finanzielle Lage des Landes anstimmte. Griechische Staatsanleihen traten den Sinkflug an und rissen andere europäische Staatspapiere mit. Der Euro wankte. Eine Mischung aus Ignoranz, Schattenwirtschaft und Korruption, gepaart mit Verschleierungstaktik und Beschönigung der finanziellen Lage, führte mutmaßlich dazu, dass Griechenland immer tiefer im Schuldensumpf versunken war.
„Die weltweite Verschuldung der Staaten ist in den vergangenen Jahren geradezu explodiert.“
Die neue Regierung machte 2009 reinen Tisch, und das ursprünglich für dieses Jahr gemeldete Haushaltsdefizit von 3,7 % des Bruttoinlandsprodukts verwandelte sich schlagartig in ein Defizit von 13 %. Ob Griechenland diesen Schuldenberg in den kommenden Jahren abtragen kann, steht in den Sternen. Auch schon vor der Finanzkrise war die weltweite Verschuldung alles andere als gering. Zwischen 2001 und 2010 kletterten die weltweiten Staatsschulden von 20,4 auf rund 48 Billionen (in Ziffern 48 000 000 000 000) Dollar.
Deutschlands Finanzverfassung
In Deutschland beträgt die Schuldenlast Ende 2010 stattliche 1,8 Billionen Euro. Jeder Deutsche ist also sozusagen mit rund 22 500 € in den Miesen. Die Staatsquote liegt 2010 bei fast 50 %, d. h. jeder zweite in Deutschland erwirtschaftete Euro geht durch die Hände des Staates. Gleichzeitig stellen Abgaben und Steuern einen Nachkriegsrekord dar. Vom Steuerzahler kann der Finanzminister also kaum noch etwas erwarten. Ein Blick zurück: In der Nachkriegsgeschichte Deutschlands ragt vor allem die Währungsreform von 1948 heraus. Auf einen Schlag war das Land über 90 % seiner Schulden los. Mit der Einführung der D-Mark kam es zu einer drastischen Geldentwertung, die den heute noch lebenden Deutschen der Kriegsgeneration immer noch in den Knochen stecken dürfte. Das Grundgesetz schränkte die Gründe, die eine Schuldenaufnahme rechtfertigten, stark ein. Nur „außerordentlicher Bedarf“ wurde als Grund für eine Verschuldung des Staates anerkannt.
Vom Wirtschaftswunder bis zum Euro
In den Jahren zwischen 1950 und 1965 war eine hohe Verschuldung auch nicht nötig: Das Wirtschaftswunder ließ die Steuern sprudeln, und aufgrund der hohen Geburtenrate gab es kaum Probleme mit der Sozialversicherung und dem demografischen Wandel. In den 60er Jahren machte sich Politikoptimismus breit. Die Lenkung der Wirtschaft durch den Staat wurde außerordentlich populär. Mit den Gedanken von John Maynard Keynes, der die Nachfragebelebung durch den Staat befürwortete, verbreitete sich auch unter deutschen Ökonomen das Prinzip des Deficit-Spending. In den 70er und 80er Jahren wurden immer mehr Schulden aufgenommen. Die neue SPD-geführte Regierung verfünffachte den Schuldenberg in nur 13 Jahren von umgerechnet 31 auf 160 Milliarden Euro. Angeheizt wurde diese Entwicklung durch Ölkrise und Rezession. In den 80er Jahren kam es dann wieder zur Gegenbewegung, mit Politikern, die weniger Staat und mehr Markt forderten: Margaret Thatcher in Großbritannien, Ronald Reagan in den USA, Helmut Kohl in Deutschland.
„Staatsverschuldung kann die Kosten öffentlicher Investitionen auf die Personen verlagern, die auch die wirtschaftlichen Vorteile aus der Investition haben.“
Das Großereignis zu Beginn des 21. Jahrhunderts war die Einführung des Euro, der sich in den ersten Jahren als äußerst stabil entpuppte. Die Krise von 2007 allerdings knabberte an seiner Glaubwürdigkeit. Die Gefahr eines so genannten asymmetrischen Schocks, also einer Rezession in einem der Staaten der Eurozone, der alle anderen mit in den Abgrund zieht, ist nach wie vor groß – wie das Beispiel Griechenland nachdrücklich belegt.
Staatsschulden – warum eigentlich?
Warum machen Staaten überhaupt Schulden? Dafür gibt es einige gute Gründe. Einer davon ist das „Pay-as-you-use-Prinzip“. Ausgaben für Investitionen, die auch späteren Generationen zugutekommen werden (z. B. Brücken oder Autobahnen), sollen über die gesamte Nutzungszeit verteilt werden und nicht vollständig am Anfang der Investition anfallen. Tilgung und Zinszahlung sind dann jeweils für die Nutzergeneration fällig. So weit die durchaus plausible Theorie. Der genaue Nutzeneffekt für zukünftige Generationen lässt sich allerdings nur schwer beziffern.
„Wenn Politiker mit harschen Worten mit Bankern ins Gericht gehen, müssen sie sich gelegentlich an die eigene Nase fassen.“
Ebenfalls gern als Grund fürs Schuldenmachen angeführt ist die Konsumglättung. Damit ist gemeint, dass der Staat über Schulden das Auf und Ab der Wirtschaft steuert, also beispielsweise in der Rezession Schulden aufnimmt, um die Wirtschaft zu beleben. Schulden müssen auch so genannte Großschadenereignisse, z. B. Kriege, abfedern, die fast sämtliche Ressourcen einer Gesellschaft verbrauchen. In Deutschland ist der Bundesfinanzminister Herr über die Schulden und Ausgaben des Staates. Die Politiker, die dieses Amt in den letzen Jahrzehnten bekleideten, sind allesamt mit dem Vorsatz angetreten, Deutschland aus der Schuldenfalle zu führen. Mittelfristig sahen ihre Pläne immer gut aus, doch letztlich machten ihnen Krisen oder politische Konjunkturzyklen – kurz vor den Wahlen wird gerne mehr ausgegeben, als man eigentlich hat – einen Strich durch die Staatshaushaltsrechnung. Politik ist die Kunst des Möglichen, und die finanzielle Vorsicht geht dabei gern mal den Bach runter.
Geschichte der Staatspleiten
Wer Staaten Geld leiht, indem er etwa Staatsanleihen kauft, rechnet fest damit, dass er sein Geld wiederbekommt. Streng genommen sind seine Chancen aber geringer als bei Unternehmen. Denn Staaten sind souverän und können den Verzicht auf die Kreditrückzahlung einfach beschließen – welcher Gerichtsvollzieher könnte da etwas ausrichten? In der Geschichte gab es schon viele Staatsbankrotte, die für die Schuldner unangenehm wurden. Der antike griechische Herrscher Dionysius beispielsweise wendete einen besonders dreisten Trick an, um seine Schuldscheine zurückzuzahlen: Er erließ bei Fälligkeit eine Anordnung, dass sämtliche Münzen vom Staat eingezogen wurden. Anschließend schmolz er die Ein-Drachmen-Geldstücke ein, ließ daraus Zwei-Drachmen-Stücke prägen und zahlte das Geld inkl. der Schulden zurück. Heute ist Dionysius von Syrakus als Vater der Geldentwertung und als mieser Tyrann bekannt. Bis ins 18. Jahrhundert war es ein beliebter Trick von Regierungen, ihre Schulden durch Geldentwertung abzutragen. Besonders häufig geschah das in Spanien und Frankreich. Spanien ist der europäische Spitzenreiter im Pleitemachen und brachte es allein im 19. Jahrhundert auf sieben Staatsbankrotte.
Die Lizenz zum Töten: Credit Default Swaps
Gibt es eine Versicherung gegen den Kreditausfall von Staatsanleihen? Tatsächlich: die so genannten Credit Default Swaps (CDS), eine Erfindung der Wall-Street-Bank JP Morgan. Angenommen, ein vorsichtiger Anleger kauft Staatsanleihen von Griechenland und erwartet eine jährliche Rendite von 7 %. Bei einem Kreditausfall erwirbt er außerdem CDS im passenden Volumen zu einer Gebühr von 4 % seiner Anleihe. Falls Griechenland immer pünktlich zahlt, macht der Anleger immerhin noch 3 % Gewinn. Falls das Land seine Schulden nicht zurückzahlt, springt die Kreditversicherung ein. CDS sind Indikatoren für das Risiko, das mit dem Erwerb von Staatsanleihen verbunden ist. Die Höhe der Versicherungsprämie gibt Aufschluss darüber, wie sicher eine Anlage ist. Wer CDS auf Kredite von Deutschland, den USA oder Japan kauft, wird erheblich weniger Prämien zahlen müssen als bei Ländern wie Argentinien, der Ukraine oder Pakistan. Wie alle Versicherungen können auch CDS falsche Anreize bieten. Anleger, die ihre Investitionen abgesichert haben, interessieren sich nicht mehr für das Wohlergehen des Unternehmens oder Staates, dessen Anleihen sie gekauft haben. Es gibt sogar Wetten gegen den Staat – dann nämlich, wenn CDS gekauft werden, ohne die entsprechenden Anleihen zu halten. Es ist wie der Kauf einer Vollkaskoversicherung für das Auto des fahruntüchtigen Nachbarn: Wenn der Totalschaden eintritt, regnet es Geld. Großinvestor George Soros bezeichnete Credit Default Swaps deshalb einmal als „Lizenz zum Töten“.
Das Ratingparadox und die Umschuldung
Noch zwei Dinge sind im Zusammenhang mit Staatsschulden wichtig: Ratingagenturen und die Möglichkeit der Umschuldung. Ratingagenturen sind eigentlich private Finanzmarktakteure, die aber einen immensen Einfluss auf die Bonitätsbeurteilung von Unternehmen und auch Staaten haben. Zu den mächtigsten gehören Standard & Poor’s und Moody’s. Das Perfide an den Ratingagenturen: Obwohl sie z. T. von denjenigen bezahlt werden, die sie bewerten sollen, hat ihr Urteil Gewicht. So viel Gewicht, dass sich selbst die amerikanische Börsenaufsicht an die Beurteilungen der Ratingagenturen hält. Allerdings hat die Glaubwürdigkeit der Agenturen mit der Finanzkrise von 2007 einen herben Schlag erlitten: Papiere, die von den Agenturen teilweise mit Spitzenbewertungen versehen worden waren und sich entsprechend gut verkauften, entpuppten sich als Schrott.
„Kontrovers diskutiert wird, ob Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen das Wirtschaftswachstum des betroffenen Landes mehr in Mitleidenschaft ziehen.“
Das Thema Umschuldung ist nicht ganz so peinlich. Wenn ein Privatmann mit Schulden stirbt, können seine Nachkommen das Erbe ausschlagen, und die Gläubiger gehen leer aus. Kreditgeber verlangen entsprechende Sicherheiten, um den Totalausfall zu verhindern. Staaten sterben aber nicht, deshalb ist es in ihrem Fall durchaus möglich, dass die aktuellen Schulden durch später aufgenommene Kredite bezahlt werden, dass also eine permanente Umschuldung erfolgt. Genuss ohne Reue oder Schulden ohne Sühne? Nein, natürlich nicht. Ähnlich wie bei einem Schneeballsystem ist es u. U. auch für einen Staat irgendwann nicht mehr möglich, so viel Geld aufzutreiben, dass er seine alten Kredite vollständig zurückzahlen kann. In einem solchen Fall würde die Kaskade unweigerlich kollabieren. Das Heilmittel dagegen könnte ein Wirtschaftswachstum sein, das größer als die Zinsen der Staatsschulden ist, sodass der Staat langsam, aber sicher aus seinen Schulden herauswächst. Leider sind jedoch in der Realität die Zinsen langfristig höher als das Wirtschaftswachstum, sodass dieser Ausweg aus der Misere sich lediglich als Scheinlösung entpuppt.
Raus aus der Schuldenfalle, aber wie?
Was können Staaten tun, wenn ihnen das Geld ausgeht? Sie können z. B. einfach immer mehr davon drucken. Die Folge wäre allerdings Hyperinflation und damit eine massive Geldentwertung. Kann man den Staatshaushalt überhaupt nachhaltig konsolidieren? Oft hat man es nämlich mit einer Form der Scheinkonsolidierung zu tun, z. B. wenn staatliches Eigentum privatisiert wird. Das spült zwar erst mal Geld in die Kasse und hilft, den Schuldenberg zu reduzieren, es zerstört aber auch eine künftige Einnahmequelle. Ansonsten gilt die Devise: Einnahmen erhöhen (meist über Steuern) oder Ausgaben senken. Welche der beiden Methoden das Wirtschaftswachstum stärker dezimiert, ist noch nicht abschließend geklärt worden.
„Banken und Finanzinstitute haben im bestehenden System einen Anreiz, ihr Kreditpotenzial voll auszureizen und damit sehr hohe einseitige Investitionsrisiken einzugehen.“
Im so genannten „No-Bailout-Artikel“ des Lissabonvertrags der EU steht explizit, dass sich die EU-Staaten nicht gegenseitig helfen, wenn sie in finanzielle Not geraten. Dieser als Abschreckung geplante Artikel funktioniert aber offenbar in der Realität nicht. Die Staaten der EU sind, wie das Beispiel Griechenlands gezeigt hat, im Samariterdilemma gefangen: Geht ein Mitglied pleite, würde das – aufgrund der gemeinsamen Währung – alle anderen Staaten ebenfalls schädigen. Also wird geholfen. Dieser Automatismus ist brandgefährlich. Das zeigte sich schon beim Bankenrettungsschirm nach der Pleitewelle im Finanzsektor. Die Banken zocken ungehemmt mit dem Geld ihrer Kunden. Gewinnen sie, behalten sie die Gewinne. Verlieren sie, hoffen sie auf den rettenden Staat. Aber mit einer solchen Politik ist auf Dauer eben kein Staat zu machen.