Das sogenannte Böse

Buch Das sogenannte Böse

Zur Naturgeschichte der Aggression

Wien, 1963
Diese Ausgabe: dtv,


Worum es geht

Eine Sache der Natur und eine Frage der Moral

Ein Natur­wis­senschaftler, der in einem Sachbuch Goethe zitiert, dürfte von manchen Fachkol­le­gen mit Stirn­run­zeln betrachtet werden. So viel In­ter­diszi­pli­narität ist nicht unbedingt üblich und manchmal sogar Grund zur Skepsis. Konrad Lorenz hingegen wird für die Breite seines geistigen Spektrums geschätzt, ebenso für seine Fähigkeit, sich einem großen Publikum zuzuwenden und Ergebnisse seiner Forschung allgemein verständlich zu formulieren. In Das sogenannte Böse untersucht Lorenz das natürliche Phänomen Aggression, das unter ethischen Gesicht­spunk­ten als „böse“ konnotiert ist. Als Zoologe zeigt er aus der nicht wertenden, neutralen Perspektive des Natur­wis­senschaftlers viele Facetten dieses Phänomens auf. Lorenz geht es aber vor allem um menschliche Fragen, um Fragen des Zusam­men­lebens und der Moral. Darum verlässt er in seinem Buch dann doch den neutralen Standpunkt der Natur­wis­senschaft und nimmt Wertungen vor. Auch heute noch ist die Universalität der Bildung, wie Konrad Lorenz sie besaß, keineswegs die Regel – sie macht den Rang des No­bel­preisträgers und Mitbegründers der ver­gle­ichen­den Ver­hal­tens­forschung aus.

Take-aways

  • Das sogenannte Böse ist das be­deu­tend­ste und meist­disku­tierte Werk des öster­re­ichis­chen Medi­zin-No­bel­preisträgers Konrad Lorenz.
  • Inhalt: Die Aggression ist bei Mensch und Tier ein Ur-Instinkt mit arter­hal­tender Funktion. Sie richtet sich nur gegen Artgenossen. Tiere sind jedoch evolutionär durch ver­schiedene Mechanismen der Ag­gres­sion­shem­mung davor gefeit, Artgenossen zu vernichten. Diese Hemmungen fehlen dem Menschen, der in Kriegen und Verbrechen zu der wirklich bösen Tat fähig ist, Artgenossen umzubringen.
  • Das sogenannte Böse ist eine Art Lehrwerk für Laien, um diese auf den damals aktuellen Ken­nt­nis­stand der Wis­senschaft zu heben.
  • Lorenz schreibt anschaulich und konkret, sogar un­ter­hal­tend; seine Anteilnahme und sein Respekt Tieren gegenüber ist stets spürbar.
  • Er gehörte zu den Mitbegründern der jungen Wis­senschaft der Ver­hal­tens­bi­olo­gie und war durch seine Schriften auch in­ter­na­tional ihr bekan­ntester Vertreter.
  • Lorenz hatte schon seit Beginn seiner eigenständigen Forschungen Anfang der 30er-Jahre am Thema Tier, Mensch und Aggression gearbeitet.
  • Wegen seiner Men­sch-Tier-Analo­gien wurde Lorenz von ver­schiede­nen Seiten kritisiert.
  • Lorenz machte auch Vorschläge, wie man die mangelnde Balance zwischen Aggression und Ag­gres­sion­shem­mung beim Menschen ausgleichen könnte.
  • Die welt­poli­tis­che Lage bei Erscheinen des Buches 1963 und die unbewältigten Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ver­schafften dem Buch ein gewaltiges Interesse.
  • Zitat: „Das lang gesuchte Zwis­chenglied zwischen dem Tier und dem wahrhaft humanen Menschen – sind wir!
 

Zusammenfassung

Sinn und Nutzen von Aggression

Mit Aggression ist derjenige Kampftrieb gemeint, der beim Menschen wie beim Tier gegen den Artgenossen gerichtet ist. Es geht also nicht um den Angriff auf ein Beutetier, sondern um Wettbewerb und Konkurrenz, um Reviere und Weibchen. Revier ist in erster Linie gle­ichbe­deu­tend mit Nahrungsres­sourcen. Aggressives Verhalten gegen Artgenossen ist demnach ein selbstverständlicher Teil der Naturwelt. Ganz im Sinn der Darwin’schen Lehre ist Aggression ein zur Erhaltung der Art un­ent­behrlicher Instinkt, aus mehreren Gründen:

  • Durch in­ner­artliche Aggression wird der Lebensraum so verteilt, dass nach Möglichkeit jedes Individuum sein Auskommen findet. Das ist typisch bei einzelgängerisch lebenden Tieren, die relativ ortsfest sind und für die das Revier die Nahrungsver­sorgung sichert. Vom Ko­ral­len­fisch bis zum Wolf vertreiben Tiere Rivalen durch aggressives Verhalten. Bei no­ma­disieren­den Her­den­tieren hingegen, vom Fis­chschwarm bis zur Bisonherde, für die Nahrung in Hülle und Fülle vorhanden ist, und die sie auf ihren langen Wanderungen einfach abgrasen, spielt diese Art der Re­vier­ag­gres­sion kaum eine Rolle. Sie ist also auch eine Reaktion auf die Umwelt.
  • Im Sinn der bestmöglichen Erhaltung der Art kommen bei der Zeugung der Nachkom­men­schaft nur die besten, sprich die stärksten Männchen zum Zuge; manchmal ebenfalls nur die geeignet­sten Weibchen. Aggression dient hier der Auswahl der Besten. Das gibt es auch bei den Her­den­tieren.
  • Die Nachkom­men­schaft wird äußerstenfalls aggressiv beschützt, was natürlich ebenfalls der Erhaltung der Art dient.
„Das Buch handelt von der Aggression, das heißt von dem auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Mensch und Tier.“ (S. 7)

All diese Ag­gres­sionsvari­anten richten sich niemals auf die Vernichtung der Artgenossen, sondern auf deren Vertreibung oder auf die Einordnung in eine Rangfolge, die Hackordnung. Diese Ag­gres­sio­nen sind system- und lebenser­hal­tend, nicht vernichtend. Sie sind nicht böse.

Die Umori­en­tierung des Angriffs – der Weg zum Ritual

Der Ag­gres­sion­strieb ist primär und spontan vorhanden und nicht etwa nur eine Reaktion auf eine Bedrohung. Diese Spontaneität macht ihn so gefährlich. Wenn der Ag­gres­sion­sim­puls kein Gegenüber findet, entsteht eine Stauung. Diese kann sich in Er­satzhand­lun­gen entladen. Stammes­geschichtlich wurden diese Impulse als sogenannte „redirected activities“ um- und abgeleitet. Diese evolutionäre Umformung führte zu den rituellen Ver­hal­tensweisen, die bei vielen Tieren zu beobachten sind. Zur Rit­u­al­isierung gehören etwa mimische Übertreibung und rhythmische Wieder­hol­ung, aber auch die Entstehung von optischen Akzenten, Farben, Strukturen, Mustern: vergrößerte Flossen, Federn, auffallende Körperteile – daher etwa die vielfältigen und für uns oft auch auffallend schönen Farben von Fischen.

„Die schreiend bunten Farben der Ko­ral­len­fis­che schreien nach einer Erklärung. Welche arter­hal­tende Leistung hat sie herausgezüchtet?“ (S. 22)

Rituelle Ver­hal­tens­muster ahmen natürliche Be­we­gungsweisen nach, deuten sie aber um. So entsteht ein neuer, autonomer Instinkt, der anderen Instinkten wie Hunger oder Flucht völlig gle­ichrangig ist. Diese Riten haben eine wichtige Kom­mu­nika­tions­funk­tio­nen: Sie lenken die Aggression in unschädliche Bahnen, und sie stiften zwischen manchen Tieren ein festes, eheähnliches Band.

Die Wech­sel­wirkun­gen der Triebe und Instinkte

Die vier großen Haupttriebe Hunger, Begattung, Furcht und Aggression sowie eine Anzahl kleinerer Di­ener­triebe wie Laufen, Schwimmen, Graben, Picken, Nagen stehen in einer ständigen Wech­sel­wirkung. Nur aus­nahm­sweise herrscht einer dermaßen vor, dass er die anderen sozusagen ausschaltet: etwa panische Flucht. Eine entschei­dende Rolle spielen dabei sit­u­a­tions­be­d­ingt jeweils auslösende Reize.

„Wo immer wir extreme Ausbildung bunter Federn, bizarrer Formen usw. beim Männchen finden, liegt der Verdacht nahe, dass die Männer nicht mehr kämpfen, sondern dass das letzte Wort in der Gattenwahl vom Weibchen gesprochen wird (...).“ (S. 46)

Man gelangt nur zu richtigen Ver­hal­tens­deu­tun­gen, wenn man diese Vorgänge sehr dif­feren­ziert betrachtet. Der sogenannte Selb­ster­hal­tungstrieb ist eine pseudowis­senschaftliche Be­griff­schimäre – damit ver­gle­ich­bar, als ob man Au­to­mo­bilkraft als Erklärung für den Antrieb eines Wagens postulieren würde. Wie dieser Trieb exakt zustande kommt, muss jeweils aus einer Vielzahl de­tail­lierter Beobach­tun­gen genau erklärt werden.

Ag­gres­sion­shem­mung unter Artgenossen

Die evolutionäre Lösung, die arter­hal­tende Aggression ohne negative Auswirkung auf die eigenen Artgenossen in der Balance zu halten, ist die Ag­gres­sion­shem­mung, die durch bestimmte Reize ausgelöst wird. Die Entstehung dieser Reize entspricht der der Rituale. Die Ag­gres­sion­shem­mung läuft oft wie ein Kräftemessen in Turnieren oder im sportlichen Wettkampf ab. Bei diesen sogenannten Kommentkämpfen wird zunächst eine Drohgebärde aufgebaut. Drohgebärden halten eine Balance zwischen Angriffs- und Fluchtver­hal­ten. Entstanden sind sie vermutlich zunächst durch Verlängerung des Zeitraums zwischen Drohen und tatsächlicher Ausführung etwa eines Rammstoßes. Sie haben sich durch Rit­u­al­isierung verselbstständigt. Selbst Fische kennen Drohgebärden: Beim Bre­it­seit-Dro­hen präsentieren die Knochen­fis­che ihrem Widersacher die größtmöglichen Körperumrisse.

„Gerade die Einsicht, dass der Ag­gres­sion­strieb ein echter, primär arter­hal­tender Instinkt ist, lässt uns seine volle Gefährlichkeit erkennen: Die Spontaneität des Instinktes ist es, die ihn so gefährlich macht.“ (S. 55)

Ins­beson­dere bei höheren Wirbeltieren spielen phys­i­ol­o­gis­che Hemmungen eine entschei­dende Rolle: So werden sie dazu gebracht, an einem bestimmten Punkt zu stoppen, wie etwa Hirsche beim Geweihkampf. Hierzu gehört auch die Hemmung, gegen den eigenen Nachwuchs aggressiv zu werden. Der die Hemmung auslösende Reiz ist zum Beispiel bei Puten eine bestimmte an Weinen erinnernde Lautäußerung des Kükens. Hört die Pute diesen Laut nicht, hackt sie die Küken tot. Das schonende Verhalten gegenüber der eigenen Brut ist also nicht angeboren, sondern wird als Ag­gres­sion­shem­mung ausgelöst.

„Was es hier zu zeigen galt, ist die unabschätzbar wichtige Tatsache, dass durch den Vorgang der stammes­geschichtlichen Rit­u­al­isierung jeweils ein neuer und völlig autonomer Instinkt entsteht, der grundsätzlich ebenso selbstständig ist wie nur irgendeiner der sogenannten ‚großen‘ Triebe, wie der zur Ernährung, Begattung, Flucht oder Aggression.“ (S. 71)

Unter warmblütigen Wirbeltieren gibt es nor­maler­weise keinen Kan­ni­bal­is­mus. Die dafür ve­r­ant­wortlichen Hem­mungsmech­a­nis­men sind noch wenig erforscht. Weit verbreitet scheint aber infantiles Verhalten zu sein (zum Beispiel Betteln um Nahrung), mit dem sich auch halb erwachsene Tiere gegen Ag­gres­sio­nen erwachsener Tiere schützen. Bei Hunden gibt es gegenüber den Junghunden des eigenen Rudels die sprichwörtliche Beißhemmung. Sie wird bei erwachsenen Hunden auch durch eine De­mut­shal­tung des Gegenübers ausgelöst.

Kampfge­mein­schaften sind die Ausnahme

Sehr verbreitet sind Tierge­sellschaften ohne eine persönliche Bindung der Tierindi­viduen un­tere­inan­der. Die einfachste Form ist die anonyme Schar, beispiel­sweise Heringsschwärme oder Bisonherden. Da sie wandern, haben sie keine Re­vier­prob­leme. Der arter­hal­tende Vorteil ihrer relativ geringen Distanz zueinander besteht darin, dass ihre Masse Beutegreifer verwirrt.

„Da jede Abweichung von den grup­pen­charak­ter­is­tis­chen Um­gangs­for­men Aggression hervorruft, werden auf diese Weise alle Mitglieder einer Gruppe zur genauen Einhaltung dieser Normen des Sozialver­hal­tens gezwungen.“ (S. 83)

Etliche Vögel, die in großen Kolonien brüten, bilden reine Nach­barschaften oder, wie die Störche im Hinblick auf die Brut, reine Geschäftspart­ner­schaften: Außerhalb der Brutzeit haben sie keinerlei Verbindung zueinander.

Eine besondere Form sind die kollektiven Kampfge­mein­schaften der Wan­der­rat­ten. Ratten bilden Sippen gemeinsamer Abstammung, die aber schnell so groß werden, dass sich die einzelnen Mitglieder un­tere­inan­der nicht kennen können. Wie bei staaten­bilden­den Insekten, die auch eine gemeinsame Abstammung von der Königin haben und die sich unmöglich individuell kennen können, ist es ein spez­i­fis­cher Geruch, der die Sippenzugehörigkeit für alle erkennbar macht. Un­tere­inan­der sind Ratten vollkommen friedlich und ag­gres­sion­s­ge­hemmt; sie kennen im Unterschied zum Wolfsrudel nicht einmal eine Rangordnung beim Fressen. Aber sie wenden sich mit grausamer Konsequenz gegen jeden sip­pen­frem­den Artgenossen. Die fehlende Ag­gres­sion­shem­mung gegenüber sip­pen­frem­den Artgenossen dient demnach nicht mehr der Erhaltung der Art, sondern nur der der Sippe.

Gänse sind auch nur Menschen

Ganz anders als bei den anonymen Scharen, Nach­barschaften oder dem Sonderfall der Ratten bilden Tiere aber auch echte Gruppen, in denen sich die Tierindi­viduen in der Tat persönlich kennen und Bindungen un­tere­inan­der entwickeln. Selbstverständlich muss dieses individuell erlernt werden, es kann schon de­f­i­n­i­tion­s­gemäß nicht instinktiv vorhanden sein. Damit Tiere sich ken­nen­ler­nen können, sind im Lauf der Evolution bei ver­schiede­nen Arten An­griff­shand­lun­gen und Drohgebärden umori­en­tiert worden (redirected activity). Sie wurden rit­u­al­isiert und zu einem neuen, eigenständigen Instinkt. So wurden aus Drohgebärden Begrüßungen und Be­friedun­gen, wie etwa der Tanz der Kraniche oder das Tri­umphgeschrei der Gänse. Diese Rituale werden häufig wiederholt und das Band verfestigt sich bis hin zur eheähnlichen, lebenslan­gen Gemein­schaft mancher Tiere, wie etwa bei den Graugänsen. Diese Bindung ist also aus umori­en­tierter Aggression entstanden. Innerhalb einer fest gefügten Gruppe gibt es dann keine in­ner­artliche Aggression mehr, wohl aber nach außen. Es sind gerade Tiere mit hoch en­twick­el­ter in­ner­artlicher Aggression, bei denen dies zu beobachten ist.

Und was ist mit dem Menschen?

Die als Wis­senschaft noch junge ver­gle­ichende Ver­hal­tens­forschung wirft mit ihren Erken­nt­nis­sen zur Aggression bei Tieren die Frage auf, ob und was davon zur Verhütung von Gefahren des men­schlichen Ag­gres­sion­striebs anwendbar wäre. Allein schon gegen diese Fragestel­lung haben sich von vornherein Stimmen erhoben. Kritiker wollten den men­schlichen freien Willen unter keinen Umständen von Überlegungen oder Erken­nt­nis­sen angetastet sehen, die men­schliches Verhalten auf Reiz-Re­flex-Kausalitäten zurückführen. Ähnliche grundsätzliche Einwände gab es schon gegen die Erken­nt­nisse von Charles Darwin und Sigmund Freud. Doch die Gegner verkennen das Wesen wis­senschaftlicher Erken­nt­nisse einerseits und des freien Willens an­der­er­seits – aus folgenden Gründen:

  • Die Erkenntnis kausaler Naturzusam­menhänge ist immer hilfreich. Sie kann den freien Willen nicht „entwerten“. Die Natur wird durch Wis­senschaft nicht entgöttert.
  • Wir können keine Grenze der Na­tur­erken­nt­nis ziehen, weil niemand diese Grenze kennt. Das Einzige, was wir definitiv wissen, ist, dass gerade in der Natur sich alles ständig im Fluss, in Veränderung und Evolution befindet. Es wäre anmaßend anzunehmen, unser gegenwärtiges Menschsein sei die Krone der Schöpfung.
  • Freier Wille ist keineswegs gle­ichbe­deu­tend mit Amoral oder Willkür. Vermehrtes Ur­sachen­wis­sen kann dem Willen in jeder Hinsicht dienstbar gemacht werden, es kann ihn aber nicht vermindern. Verbesserte Heilungschan­cen durch bessere medi­zinis­che Kenntnisse sind das beste Beispiel.

Ecce Homo

Der Mensch ist kein Raubtier. Für ein mit schwachen Zähnen und Fingernägeln nur kläglich bewaffnetes Wesen bestand kein Se­lek­tions­druck, instinktive Ag­gres­sion­shem­mungen zu entwickeln. Grundlegend geändert wurde die Situation durch die Erfindung von Waffen. Wegen des be­grif­flichen Denkens, zu dem der Mensch fähig ist, ist deren Verbreitung ohne langsame evolutionäre Prozesse sofort möglich. Für gegenläufige An­pas­sungsvorgänge fehlt die Zeit. Die menschliche Fähigkeit zur gegen­seit­i­gen Vernichtung wird durch ve­r­ant­wortliche Moral dahingehend kompensiert, dass aggressive Lei­den­schaften gezügelt werden: Es findet verstandesmäßiger Trieb­verzicht statt. Zur vernünftigen Einsicht muss eine gefühlsmäßige Wertempfind­ung hinzutreten, damit daraus ein Gebot, etwa zu rettendem Handeln, oder ein Verbot entsteht („Du sollst nicht töten“). Dieser Gefühlsfaktor hat seinerseits instinktive Wurzeln. Sehr deutlich zeigt die Begeis­terungsfähigkeit, wie stark men­schliches Verhalten in­stink­t­geleitet ist. Genau beobachtet, ist sie eine Form von Aggression. Begeis­terung kann zu großen Taten beflügeln, aber – demagogisch aufges­tachelt – auch zerstörerisch sein, selbst gegen Artgenossen.

Wege der Ag­gres­sionsver­hin­derung zwischen Menschen

Aggression lässt sich nicht einfach wegzüchten. Es wäre auch fatal, diesen Urtrieb auszuschal­ten, weil er als Antrieb hinter vielen men­schlichen Tätigkeiten steht – vom täglichen Rasieren bis zum Streben nach bedeutenden wis­senschaftlichen und künst­lerischen Leistungen. Denkbare Wege, um mit der Aggression umzugehen, sind:

  • abreagieren und umlenken durch Er­satzhand­lun­gen,
  • rit­u­al­isierte Formen des Kampfes wie etwa im Sport, sei es im Mannschaftss­port oder im Ausloten von Grenzen beim Bergsteigen oder Tauchen,
  • persönliche Einzel­bekan­ntschaften und in­ter­na­tionale Fre­und­schaften, die den Aufbau von Has­s­beziehun­gen zwischen Völkern verhindern,
  • Begeis­terung für Wis­senschaft und Kunst,
  • Lachen und Humor, denn: Wer lacht, schießt nicht.

Zum Text

Aufbau und Stil

Lorenz’ populäres Hauptwerk zeichnet sich durch einen sehr durch­dachten Aufbau aus. Der Autor betont selbst, dass er für den Leser den Weg nachze­ich­nen will, auf dem er selbst zu seinen Erken­nt­nis­sen gelangt ist. Insofern ist die Erzählung his­torisch-chro­nol­o­gisch aufgebaut. Gleichwohl ist das Buch sinnvoll gegliedert, ähnlich wie ein Lehrbuch, und schreitet Schritt für Schritt vom Einfachen zum Komplexen fort. In den letzten drei Kapiteln widmet sich Lorenz den ethischen Fragen, die aus seiner Sicht aus den Erken­nt­nis­sen der ver­gle­ichen­den Ver­hal­tens­forschung erwachsen.

Lorenz ist immer ganz bei den Tieren. Er vermag das Tierleben konkret und anschaulich zu schildern, oft mit einer Prise Humor und ohne Fachjargon. Man spürt seine intensive Ver­trautheit und Anteilnahme am Tierleben. Er behandelt die Tiere mit Respekt, aber ohne schmusige Tierliebe und ohne Ver­men­schlichung. Stil und Wortwahl wirken heute bisweilen ein wenig altmodisch; so verwendet Lorenz häufig das Dativ-e, das wir nur noch in fest­ste­hen­den Wendungen wie „im Dienste“ oder „zum Wohle“ kennen. Lorenz verliert sich nie in beiläufigen Anekdoten, daher ist das ganze Buch sehr kompakt und un­ter­halt­sam zu lesen.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Für Lorenz ist die Aggression ein natürlich vorhandener und notwendiger Trieb, der art­spez­i­fisch in un­ter­schiedlicher Weise ausgeprägt und über kom­plizierte Wech­sel­wirkun­gen gegen „böse“ Auswirkun­gen instinktiv gefeit ist. Lorenz’ Forschungen hatten ergeben, dass gerade als gefährlich bekannte Tiere dank selektiver, natürlicher Zuchtwahl über instinktive Ag­gres­sion­shem­mungen verfügen. Dies verhindert bei ihnen die Vernichtung der eigenen Art.
  • Als das ultimative Böse bezeichnet Lorenz die Vernichtung von Artgenossen. Sein Buch, erschienen 1963, entstand in der Zeit des Kalten Krieges, des schärfsten Gegensatzes zwischen dem kap­i­tal­is­tis­chen Westen und dem kom­mu­nis­tis­chem Ostblock. Die gegen­seit­ige atomare Bedrohung der Supermächte USA und UdSSR löste bei Lorenz größte Sorge in Bezug auf menschliche Aggression und fehlende Ag­gres­sion­shem­mung aus. Er befürchtete, dass die menschliche Ag­gres­sion­skon­trolle durch moralisches Verhalten nicht wirkungsvoll genug sein könnte.
  • Lorenz’ Thesen wurden von Anfang an teilweise heftig bestritten. So weitgehende Ausprägungen tierischen Verhaltens aufgrund stammes­geschichtlicher Ver­wandtschaft, wie Lorenz sie kon­sta­tierte, wollten viele nicht wahrhaben. So hielt man schon prinzipiell den Vergleich zwischen Mensch und Tier und alle weiteren Schlussfol­gerun­gen für unzulässig. Andere Kritiker bewerteten den freien Willen des Menschen und die Fähigkeit zu moralischem Handeln höher als Lorenz. In den letzten Kapiteln macht Lorenz ansatzweise Vorschläge, „natürliche“ Ag­gres­sion­shem­mungen ins gesellschaftliche Leben der Menschen einzubauen.
  • Einiges von Lorenz’ Gedankengängen wirkt heute zeitbedingt und überholt – allein schon weil die politische Entwicklung weit­erge­gan­gen ist. An­der­er­seits war er in seinem Bewusstsein vom Einge­bet­tet­sein des Menschen in den Gesamtzusam­men­hang der Natur seiner Zeit voraus. Das gilt nicht nur für sein Bewusstsein für Ökologie, sondern auch im Hinblick auf die Forschungsergeb­nisse der modernen Genetik.

His­torischer Hintergrund

Ver­hal­tens­forschung im Aufbruch

Die ver­gle­ichende Ver­hal­tens­forschung ist aus der Zoologie her­vorge­gan­gen und hat sich erst mit Beginn des 20. Jahrhun­derts als eigenständiger Forschungszweig etabliert. Wie in anderen Forschungs­ge­bi­eten auch kann man in ihr durch ver­gle­ichende Beobachtung zu konkreten und genauen, nachprüfbaren Aussagen gelangen. Im 19. Jahrhundert hatten sich Zoologen hauptsächlich mit der Anatomie und der Taxonomie von Tieren beschäftigt, aber wenig Interesse für deren Verhalten aufgebracht. Es war der in Berlin tätige Zoologe und Ornithologe Oskar Heinroth, dem bestimmte Be­we­gungsweisen und Rufe vor allem bei Enten und Gänsen auffielen. Er untersuchte sie sys­tem­a­tisch und legte so die Grundlagen für die Ver­hal­tens­forschung, die er selbst Ethologie nannte. Das ist auch heute der akademische Begriff dieser Disziplin. Bereits Heinroth prägte inzwischen geläufige Ausdrücke wie Im­ponierge­habe, Tri­umphgeschrei, Prägung und Hetze als Fach­be­griffe zur Beschrei­bung bestimmter bi­ol­o­gis­cher Ver­hal­tenskom­plexe. In der An­fangsphase der Ver­hal­tens­forschung hatten auch andere her­aus­ra­gende Or­nitholo­gen wie in Deutschland Erwin Stresemann, ebenfalls am Berliner Zoo, wesentlichen Anteil an der Entwicklung der jungen Disziplin.

Im 20. Jahrhundert standen sich in der Ver­hal­tens­forschung die beiden Schulen der Evo­lu­tion­is­ten und der Be­hav­ior­is­ten gegenüber. Letztere hatte vor allem im angelsächsischen Raum ihre Hauptvertreter, etwa John B. Watson und B. F. Skinner. Der bekannteste Begriff aus diesem Umfeld ist der „Pawlow’sche Reflex“, benannt nach dem russischen Mediziner Iwan Pawlow: Dessen Hund sabberte schon nach kurzer Lehrzeit, wenn er die Nahrung nur sah oder einen bestimmten Klingelton hörte. Diese Lehre erklärt tierisches Verhalten aus sogenannten natürlichen (un­kon­di­tion­ierten) oder angelernten (kon­di­tion­ierten bzw. bedingten) Reflexen. Darauf baute Skinner dann eine ganze Theorie des men­schlichen Lernens auf, das sogenannte Pro­gram­mierte Lernen. Erich von Holst, ein weiterer bedeutender deutscher Ver­hal­tens­forscher und späterer Co-Direktor von Lorenz am Max-Planck-In­sti­tut, überzeugte Lorenz schon früh von der Unzulänglichkeit des Be­hav­ior­is­mus. Die stattdessen von ihnen vertretene In­stink­t­the­o­rie, die von konkret definier­baren inneren Antrieben ausging, bot trotz kom­plizierter Wech­sel­wirkun­gen viel um­fassendere Erklärungsmöglichkeiten. Das wurde durch den Nobelpreis 1973 honoriert. Aus method­is­chen Überlegungen heraus wie auch aufgrund moderner Hirn­forschung gilt inzwischen allerdings auch die In­stink­t­the­o­rie als überholt.

Entstehung

Wie es zu der Nieder­schrift von Das sogenannte Böse kam, schildert Lorenz selbst im Ein­gangskapi­tel des Buches. Der mit­tler­weile fast 60-jährige Leiter des Max-Planck-In­sti­tuts in Seewiesen hielt sich im Winter 1960/61 gemeinsam mit seiner Frau anlässlich einer seiner vielen Vor­tragsreisen in den USA auf. Bei einem anschließenden Urlaub­saufen­thalt in Florida beobachtete er schnorchelnd in den dortigen Ko­ral­len­rif­fen, wie ein Ko­ral­len­fisch sein Revier aus­ge­sprochen aggressiv gegen einen anderen bunten Ko­ral­len­fisch verteidigte. Dieses Ausmaß an Aggression hatte Lorenz so noch nie bei Tieren beobachtet.

Das Buch, das in den folgenden anderthalb Jahren entstand, ist eine Summe von Lorenz’ vielfältigen Forschungen an ganz un­ter­schiedlichen Tierarten, vor allem Fischen und Vögeln, mit Fokus auf das Phänomen der Aggression gegen Artgenossen. Die gedanklichen Grundlagen gehen aber, wie oft bei Lorenz, schon auf die 30er-Jahre zurück. 1935 etwa veröffentlichte er den Artikel Moral und Waffen der Tiere, in dem die wesentlichen Gedanken von Das sogenannte Böse bereits enthalten waren. Schon damals orakelte er, die Menschheit könne eines Tage in zwei gegnerische Lager gespalten sein und jedes verfüge über genügend Ver­nich­tungskraft, das andere vollkommen auszulöschen. Diese Situation sah er in der hochbrisan­ten politischen Weltlage auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs tatsächlich ver­wirk­licht.

Wirkungs­geschichte

Nicht zuletzt die welt­poli­tis­che Lage verschaffte Konrad Lorenz’ Buch den gewaltigen Res­o­nanz­bo­den, der es zum in­ter­na­tionalen Bestseller werden ließ. Davon abgesehen war Lorenz ein begabter Autor, der schon mit seinem ersten Buch Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen und populärwis­senschaftlichen Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften Erfolg hatte. Das sogenannte Böse war für das breite Publikum verständlich, kam es denn auch ohne Fußnoten und An­merkungsap­pa­rat aus. Es the­ma­tisierte nicht nur eher zufällig die damalige aktuelle Weltlage, sondern in gewisser Weise auch die jüngere Ver­gan­gen­heit der Deutschen und Österreicher, in der sie in zuvor un­vorstell­barer Aggressivität Millionen von Artgenossen vernichtet hatten. Ließ sich eine derartige Man­i­fes­ta­tion des Bösen biologisch erklären? Von Anfang an waren Lorenz’ Tier-Men­sch-Analo­gien, sein Schluss „von der Gans aufs Ganze“ (Der Spiegel) umstritten. In­ter­na­tional fand das Buch viel Zuspruch, auch und gerade in den USA, die bereits mit einem Bein im Viet­namkrieg standen.

Über den Autor

Konrad Lorenz wird am 7. November 1903 in Wien geboren. Er stammt aus einer wohlhaben­den Arztfamilie. Auf Wunsch seines Vaters beginnt er ein Medi­zin­studium in New York. Zurück in Wien pflegt er eine beinahe hals­brecherische Lei­den­schaft für Mo­tor­ra­dren­n­fahrten. Bei Abschluss des Studiums in Wien heiratet er 1927 seine Ju­gend­fre­undin Margarethe Gebhardt. Gretl, eine prak­tizierende Ärztin, mit der er drei Kinder haben wird, bestreitet lange den Leben­sun­ter­halt. In den späten 1920er-Jahren arbeitet Lorenz bei dem Anatomen Ferdinand Hochstetter, studiert Zoologie und beginnt mit Beobach­tun­gen von Tieren. Es folgen Lorenz’ pro­duk­tivste Jahre, in denen er die Grundlagen für die ver­gle­ichende Ver­hal­tens­forschung legt. Damals spricht man noch von „Tierpsy­cholo­gie“. Alle späteren Arbeiten basieren auf den grundle­gen­den Erken­nt­nis­sen jener Jahre. 1935 wird er zum „Vater“ der Graugans Martina, die er auf sich prägt. Beim „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 ist Lorenz 34 Jahre alt. Er tritt der NSDAP bei und beginnt 1940 seine akademische Karriere im ostpreußischen Königsberg. Lorenz präsentiert in Schriften dieser Zeit ein na­tion­al­sozial­is­tis­ches Gedankengut, das er nach 1945 zwar zu rel­a­tivieren versucht, das ihn jedoch immer als großer Makel begleiten wird. Während des Zweiten Weltkriegs wird er als Militärarzt eingezogen und gerät 1944 in russische Gefan­gen­schaft, aus der er 1948 heimkehrt. 1950 wird Lorenz Co-Leiter eines Max-Planck-In­sti­tuts in Buldern in Westfalen, das er aufbaut und das 1955 nach Seewiesen in Bayern verlegt wird. Lorenz reist regelmäßig zu Vorträgen in die USA und wird weltweit bekannt. Ab 1972 engagiert er sich politisch für den Umweltschutz. 1973 erhält er zusammen mit dem Österreicher Karl von Frisch und dem Niederländer Nikolaas Tinbergen den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Damit ehrt die Schwedische Akademie die Begründer der Ver­hal­tens­forschung. Bei der Verleihung des No­bel­preises ist Lorenz 70 Jahre alt. Er stirbt am 27. Februar 1989 in Wien.