Titan

Buch Titan

Berlin, 1800–1803
Diese Ausgabe: Insel,


Worum es geht

Liebe, Intrigen und die Macht der Bildung

Wenn man das Buch erst einmal in die Hand genommen habe, könne man es nicht mehr zur Seite legen; und doch sei man 1000 Mal versucht, es fortzuw­er­fen – so beurteilte ein zeitgenössischer Kritiker Jean Pauls Titan. Damit dürfte er auch noch so manchem modernen Leser aus dem Herzen sprechen. Zahlreiche „Achs“ und „Ohs“, fulminante Son­nenun­tergänge, schwülstige Herzensergüsse sowie tränenreiche Fre­und­schaftss­chwüre und Liebes­bekun­dun­gen sind gewiss nicht jedermanns Sache. Außerdem fällt es mitunter schwer, sich in der labyrinthis­chen Handlung zurechtzufinden; die verschnörkelte, meta­phern­re­iche Sprache ist gewöhnungsbedürftig. Und doch lohnt sich die Mühe: Viele ansprechende Gedanken über Ehe und Erziehung, Kindheit und Jugend hat Jean Paul in seinem „Kardinal- und Kap­i­tal­ro­man“ versteckt. Anders als die Weimarer Klassiker flieht er nicht in eine ide­al­isierte Ver­gan­gen­heit, sondern setzt sich mit seiner Gegenwart auseinander: mit der verhassten Kle­in­staaterei, mit Adel­sar­ro­ganz und fürstlicher Allmacht. Die Mischung aus klassischem Geist, ro­man­tis­cher Fantastik und politischer Kritik macht den Reiz dieses wahrhaft titanischen Bil­dungsro­mans aus.

Take-aways

  • Jean Paul hielt seinen fast 1000-seit­i­gen Bil­dungsro­man Titan für sein Meisterstück.
  • Inhalt: Der junge Albano, der auf dem Land aufgewach­sen ist, wird am Hof eines Fürsten in Intrigen und Liebesgeschichten verwickelt. Aufgrund seiner Bildung und Charakterstärke zeigt sich der Jüngling jedoch immun gegen alle Pläne und feindlichen Machen­schaften. Er lernt, sich zu beherrschen, und wird schließlich zum rechtmäßigen Fürsten.
  • Jean Paul setzt sich in seinem Roman kritisch mit der Weimarer Klassik auseinander.
  • Als Anhänger der Französischen Revolution erweiterte er das klassische Bil­dungsideal um politische Forderungen.
  • Fast alle Figuren im Roman wider­spiegeln extreme zeitgenössische Haltungen.
  • Titan verbindet klassisches Formstreben mit ro­man­tis­cher Ver­spieltheit und Fantastik.
  • Der Stil des Romans ist von Ab­schwei­fun­gen, An­spielun­gen und Wortneuschöpfungen gekennze­ich­net.
  • Die zeitgenössischen Reaktionen auf das sperrige, schwer lesbare Werk waren eher verhalten.
  • Titan inspirierte Gustav Mahler zur Komposition seiner ersten Symphonie.
  • Zitat: „Nur durch Menschen besiegt und übersteigt man Menschen, nicht durch Bücher und Vorzüge.“
 

Zusammenfassung

Eine rätselhafte Prophezeiung

Graf Albano von Cesara befindet sich in höchster Aufregung. Begleitet von seinen Lehrern, dem Bib­lio­thekar Schoppe und dem Baumeister Dian, kommt er auf der Isola Bella im Lago Maggiore an, wo er seinen Vater, Gaspard de Cesara, besucht. Hier hat er zusammen mit seiner Schwester, über die er so gut wie gar nichts weiß, weil sie bald nach Spanien geschickt wurde, die ersten drei Jahre seines Lebens verbracht. Nach dem frühen Tod der Mutter wurde Albano vom Vater zu Pflegeel­tern nach Deutschland gegeben: nach Blumenbühl im Fürstentum Hohenfließ. Nicht nur die lang ersehnte Begegnung mit dem angebeteten Vater, der sich allerdings recht abweisend verhält, sondern auch das ital­ienis­che Klima versetzt den Jüngling in eine überreizte, erhabene Stimmung. In der Nacht begegnet er einem Mönch, der eine rätselhafte Prophezeiung ausspricht: Am nächsten Him­melfahrt­stag, seinem Geburtstag, werde er von einer Stimme aus dem Himmel den Namen seiner Braut hören.

Aufbruch in neue Welten

Zurück in Hohenfließ bei seiner geliebten Pflege­fam­i­lie – dem Herrn von Wehrfritz, dessen Frau Albine und der Tochter Rabette – streift Albano wie so oft allein in der Natur umher. Um seine Bildung kümmern sich Magister Wehmeier und der Wiener Tanz-, Musik- und Fechtlehrer Falterle. Mit seinen 16 Jahren sieht sich Albano nicht mehr als Kind, und er möchte auch nicht wie eines behandelt werden. Die Liebe hat er allerdings noch nicht entdeckt, er sehnt sich nur nach Fre­und­schaft. Falterle will sich selbst in ein gutes Licht rücken und erzählt deshalb von den Lern­er­fol­gen, die einer seiner Schüler, ein Junge namens Roquairol, erzielt; dieser ist der in der Res­i­den­zs­tadt Pestitz lebende Sohn des Ministers Froulay. Die Berichte wecken in Albano den Wunsch, Roquairol kennen zu lernen. Er beginnt ihm Briefe zu schreiben. Diese werden allerdings vom eitlen Falterle, der seinen Schüler um vieles beneidet, nicht abgeliefert. Auch die Schwärmereien des Lehrers von der Schönheit und dem Talent der Min­is­ter­tochter Liane hin­ter­lassen bei Albano Spuren. Wie groß ist daher seine Erwartung, als er auf Wunsch seines Vaters mit Schoppe und dem Lektor Augusti nach Pestitz fahren darf. An der dortigen Akademie soll er Jura studieren.

„Nur durch Menschen besiegt und übersteigt man Menschen, nicht durch Bücher und Vorzüge.“ (Gaspard, S. 42)

In Pestitz herrscht Trauer, der alte Fürst ist gestorben. Die freundliche Prinzessin Julienne und ihr Bruder, der eiskalte Thron­nach­fol­ger Luigi, empfangen Albano. Dieser ist vom vornehmen Leben am Hof angeekelt. Die Manieren und die Künstlichkeit sind dem auf dem Dorf und in der freien Natur aufgewach­se­nen Jungen, der nicht lügen kann, fremd. Als Albano nachts im Garten des Min­is­ter­palastes umher­streift, erblickt er im Mondlicht die ange­him­melte Liane, die wegen einer schweren Ner­venkrankheit fast erblindet ist. Es erschüttert ihn tief, der Schönen so nahe zu sein. Dennoch stürzt er sich mit Eifer in seine ju­ris­tis­chen Studien. Bei einem Abendessen im Haus des Ministers wird ihm Liane endlich vorgestellt, worauf er ihr ganz verfällt. Von Sehnsucht erfüllt reist Albano der inzwischen von ihrem Augenleiden Geheilten nach Lilar nach, wo sie wie jedes Jahr mit ihrer Mutter, der Ministerin, den Frühling verbringt. Gemeinsam besichtigen sie den herrschaftlichen arkadischen Garten. Albanos anfängliches Sehnen weicht einer tiefen Liebe.

Nachrichten aus dem Geis­ter­re­ich

Auf der Trauerfeier für den ver­stor­be­nen Fürsten sieht Albano erstmals Roquairol, auch Karl genannt, und bittet ihn anschließend in einem glühenden Brief um seine Fre­und­schaft. Der antwortet, dass er ihn an seinem Geburtstag an Himmelfahrt aufsuchen wolle. In der Nacht von Albanos Geburtstag nennt ihm auf einem Friedhof eine Geis­ter­stimme tatsächlich den Namen seiner künftigen Braut: Linda de Romeiro, eine Tochter des Fürsten. Danach taucht, wie versprochen, Roquairol auf. Die beiden erkennen sich als See­len­ver­wandte und fallen sich in die Arme. Nach der Liebe hat Albano nun auch die tiefe, innige Fre­und­schaft kennen gelernt. Die beiden jungen Männer lehnen ein Dasein als brave Staatsbürger, die sich von Posten zu Posten hochdienen, um am Ende doch im Sarg zu landen, ab. Stattdessen schwebt ihnen etwas Großes vor. Doch der schwärmerische, wilde und fan­tasievolle Karl, der sich schon früh am Theater hervorgetan hat, spielt nur mit den Gefühlen, während der reine, gesunde Albano sie tief empfindet. Nachdem Karl Albano gestanden hat, dass er Linda de Romeiro liebt, die ja durch die Geis­ter­stimme Albano versprochen wurde, beruhigt dieser seinen Freund: Er werde ihm Linda nicht wegnehmen, denn sein Herz gehöre Liane. Erfreut sorgt Karl dafür, dass die beiden häufiger zusam­men­tr­e­f­fen. Liane ist Albano ebenso zugeneigt. Doch ihr despo­tis­cher Vater möchte sie gerne mit dem wesentlich älteren Herrn von Bouverot verloben, dem er Geld schuldet – sehr zum Unwillen der Ministerin, die eine Zwang­sheirat ablehnt. Um Liane dem Zugriff des auf­dringlichen Bouverot zu entziehen und ihre Gesundheit zu stärken, wird sie aufs Land geschickt, aus­gerech­net zu Wehrfritz. In Blumenbühl freundet sie sich mit Rabette an. Diese wiederum verliebt sich in Karl, der allerdings nur mit dem un­ver­dor­be­nen und naiven Landmädchen spielt und zu tiefer Liebe nicht fähig ist. Mehr als Rabette selbst liebt er die Empfindung, die sie in ihm auslöst.

„Ach wenn du einmal geliebt wirst, glühender Jüngling, wie wirst du lieben!“ (der Erzähler zu Albano, S. 54)

Albano geht in der Stadt seinen Studien nach und besucht Liane regelmäßig auf dem Land. Im Gefühlsrausch gesteht er ihr auf einem Spaziergang seine Liebe, und als Liane ihm mitteilt, dass ein Engel ihr den nahen Tod prophezeit habe, will er mit ihr sterben. Sie aber spricht von seiner Zukunft mit Linda, die er nach ihrem Tod heiraten werde. Zu seiner Scham zweifelt Albano an Lianes Liebe: Sie begegnet zwar den Menschen im Allgemeinen mit viel Zuneigung, liebt aber wohl nicht ihn allein. Liane gelingt es, seine Zweifel zu zerstreuen. Doch bald erreicht Albano eine erschütternde Nachricht: Seine Angebetete soll Hofdame bei der neuen Fürstin werden, deren Tochter, Prinzessin Idoine, eine verblüffende Ähnlichkeit mit Liane aufweist. Inzwischen verloben sich Karl und Rabette.

Das Ende der Liebe

Der Minister und seine Frau wissen von der Liebe zwischen ihrer Tochter und Albano und stellen sich ihr gemeinsam in den Weg. Die Gründe sind vielfältig: Gaspard de Cesara lässt die un­standes­gemäße Verbindung seines Sohnes nicht zu, der Herr von Bouverot wartet auf die Einlösung des Ver­lobungsver­sprechens, und zudem mag die Ministerin Albano nicht. Schließlich werden sich die sonst zer­strit­te­nen Eltern einig, Liane mithilfe des Hofamtes aus dem Haus von Wehrfritz zu entfernen und die Liebenden so zu trennen. Als Liane von ihrer bevorste­hen­den Vermählung mit Bouverot erfährt, pocht sie auf die Einhaltung des Treueschwurs, den sie Albano geleistet hat. Erst als ihr Beichtvater, der alte Spener, mit ihr spricht, willigt sie ein, dem Geliebten auf ewig zu entsagen. Bei einem letzten Treffen gibt sie ihm seine Briefe zurück; er tobt – und sie wird vor Schmerz wieder blind.

„Harte Tränen wurden wie Funken aus der stolzen verletzten Seele geschlagen, und den Kometenkern seiner innern Welt zertrieb die Glut in einen schwülen Nebel.“ (über Albano, S. 100)

Verzweifelt und von Schuldgefühlen geplagt zieht sich Albano in die Welt der Bücher zurück. Die Ankündigung seines Vaters, ihn im Herbst auf eine große Reise durch Italien mitzunehmen, an der neben der Fürstin auch Liane teilnehmen soll, richtet ihn wieder auf. Allerdings beunruhigt ihn die Neuigkeit, dass Linda de Romeiro demnächst in Pestitz eintreffen werde – nicht nur, weil die junge Frau von der Prophezeiung gehört hat, sondern auch, weil er sich um seine Pflegeschwester sorgt: Was, wenn der inzwischen recht kühle Karl vor seiner Heirat mit Rabette seine alte Jugendliebe wiedersieht? Albanos Befürchtungen be­wahrheiten sich: Nachdem er Karl von Lindas bevorste­hen­dem Besuch erzählt hat, zeigt dieser sein wahres Gesicht. Er könne – so schreibt er in einem Brief – die gute, aber schlichte Rabette, der er die Unschuld geraubt habe, nicht lieben, und vor der Enge des Ehelebens graust es dem lei­den­schaftlichen Freigeist. Ein Schw­ert­du­ell, das von Schoppe un­ter­brochen wird, besiegelt das Ende von Albanos und Karls Fre­und­schaft.

„Es gibt ja nichts Reineres und Wärmeres als unsere erste Fre­und­schaft, unsere erste Liebe, unser erstes Streben nach Wahrheiten, unser erstes Gefühl für die Natur.“ (S. 114)

Eines Nachts hat Albano in einem Keller, in dem er sich zusammen mit Schoppe befindet, eine Erscheinung: Ein geis­ter­hafter Kahlkopf sagt dem Bib­lio­thekar Wahnsinn und Albano selbst die Bekan­ntschaft mit seiner leiblichen Schwester voraus. Kurz darauf verlangt die sterbende Liane, Albano noch einmal zu sehen, und teilt ihrem Geliebten ihren letzten Wunsch mit: Er möge Linda heiraten. Nach Lianes Tod fällt Albano in ein wahnhaftes Fieber und bittet immerfort, sie möge ihm den Frieden geben. Schoppes Idee, die der Ver­stor­be­nen wie aus dem Gesicht geschnit­tene Prinzessin Idoine zu dem Kranken zu schicken, damit sie ihm seinen Frieden gebe und ihn so von seinem Irrsinn heile, wird in die Tat umgesetzt – mit Erfolg. Zusammen mit dem Vater reist der genesene Albano nach Italien.

Enthüllungen

Nur langsam erholt sich Albano von seinem tiefen Schmerz und nähert sich dem kalten, abweisenden Vater an. Gemeinsam mit der Fürstin und Herrn von Bouverot, die sie unterwegs treffen, reisen sie nach Rom – für Albano ein überwältigendes Erlebnis. Überall entdeckt er die Spuren großer Geschichte. Als sein Vater erkrankt und sich auch einmal schwach und zärtlich zeigt, liebt Albano ihn umso inniger – ähnlich ergeht es ihm mit der Fürstin, der er in tiefer Fre­und­schaft verbunden ist. Seine Hoffnung, sie könne sich nach dem bevorste­hen­den Tod des schwer kranken Fürsten Luigi mit seinem Vater verbinden und ihm eine Art Mut­ter­ersatz bieten, wird indes enttäuscht. Die Fürstin nämlich begehrt Albano selbst, nicht den Vater. Über seine Zurückweisung ist sie sehr gekränkt. Auf dem Weg nach Neapel, wohin Albano mit Dian reist, erscheint ihm abermals der Mönch und prophezeit ihm, er werde auf Ischia seine Schwester treffen. Nachts bei einem Fest auf der Insel sieht er, wie sich vom Vesuv her im Schein einer Fackel ein Boot nähert, dem – so glaubt er – eine stolze Göttin entsteigt. Als sie den Schleier hebt, erkennt er Linda. Sein ganzes bisheriges Leben erscheint ihm nichtig; das Einzige, was zählt, ist die schöne Linda, die von Albano ebenso angetan ist. Und noch eine Nachricht erschüttert sein Herz: Prinzessin Julienne, die zusammen mit Linda angereist ist, gesteht ihm, was er schon lange vermutet hat: Sie ist seine Schwester. Vor der prächtigen Naturkulisse des Vesuvs umarmen sich die drei glücklich.

Intrige und Entsagung

In einem Brief an Albano, der inzwischen wieder nach Pestitz zurückgekehrt ist, macht Schoppe seltsame Andeutungen über die Ver­wandtschaftsverhältnisse des Grafen. Albano ist verun­sichert und zieht sich zurück. Ist Linda womöglich seine Schwester? Sein Vater versichert ihm, dass dies nicht der Fall sei. Linda hat ihrerseits Vorbehalte gegen eine Ehe. Die stolze junge Frau, die von Kindheit an viel reiste und las, fürchtet um ihre Freiheit und auch um die Liebe, die weder Logik noch moralischer Pflicht gehorche. Zudem glaubt sie, dass Albano beim Anblick Idoines, die ebenfalls etwas für ihn empfindet und ihren Eltern das Versprechen gegeben hat, nur einen Fürsten zu heiraten, an seine große Liebe Liane erinnert werden könnte. Doch Julienne kann Linda schließlich überzeugen, Albano das Jawort zu geben. Der allerdings plant, zunächst nach Frankreich zu gehen, wo er die Revolutionäre im Frei­heit­skampf unterstützen will. Daraufhin verlässt ihn Linda beleidigt.

„Das Alter ist nicht trübe, weil darin unsre Freuden, sondern weil unsre Hoffnungen aufhören.“ (S. 178)

Karl, der Linda nach wie vor begehrt, schmiedet zusammen mit der Fürstin, die wegen Albanos Zurückweisung immer noch gekränkt ist, einen bösen Plan. Mit einem gefälschten Brief lockt er Linda nachts zu einem Treffpunkt und imitiert Albanos Stimme. Die nachtblinde junge Frau fällt auf den Betrug herein, und unter stürmischen Küssen versichert sie ihrem Gegenüber ihre Liebe. Karl aber kann den Schmerz darüber, dass sich Lindas Bekundungen in Wirk­lichkeit an Albano richten, nicht verwinden. Bei einer Theateraufführung, bei der er mitspielt, erschießt er sich vor aller Augen auf der Bühne. Da erkennt Linda ihren Irrtum: Albano war in jener Nacht verreist, und der Mann, dem sie sich hingab, war Karl. Nun erwartet sie ein Kind von ihm und muss ihrer großen Liebe entsagen.

Die Wahrheit kommt ans Licht

Die Aussicht, in den Krieg zu ziehen, schenkt Albano Trost. Schon ist er bereit, nach Frankreich aufzubrechen, da versetzt ihn ein Gespräch mit Schoppe erneut in Aufruhr. Der alte Lehrer hat Fam­i­lien­forschung betrieben und weiß nun, dass Linda Gaspards Tochter ist. Zudem wird klar, wer der Urheber der Prophezeiun­gen ist: Der Bruder von Gaspard hat in dessen Auftrag mithilfe von Bauchred­nerei und Wachs­fig­uren den Kahlkopf und den Mönch dargestellt. Inzwischen zeigt Schoppe Anzeichen des Wahnsinns. Er begegnet seinem früheren Freund Siebenkäs, der ihm aufs Verwechseln ähnlich sieht und mit dem er vor Jahren die Identität getauscht hat, erkennt ihn jedoch nicht mehr wieder und stirbt vor Schreck. In der Folge erfährt Albano endlich die ganze Wahrheit: Er ist nicht Gaspards Sohn, sondern Erbprinz des kleinen Fürstentums Hohenfließ. Um ihn, den Thronfolger, vor einem geplanten Mord zu schützen, wurde er nach seiner Geburt im Hause Wehrfritz aufgezogen. Im Gegenzug willigte Gaspard ein, seine eigene Tochter Linda als Tochter des Fürstenhauses aufziehen zu lassen. Nach dem Tod Luigis ist Albano nun also der rechtmäßige Nachfolger des Fürsten. Er verzichtet auf seine Kriegspläne und heiratet Idoine, die ihm nach all den Herzensverir­run­gen als die wahre Liebe erscheint.

Zum Text

Aufbau und Stil

Jean Pauls Titan ist in vier einzeln erschienene Bücher unterteilt, die sich ihrerseits in so genannte „Jo­belpe­ri­o­den“ und „Zykeln“ gliedern. Der auktoriale, allwissende Erzähler, der selb­stiro­nisch auch gern über seine eigene Rolle spricht, überblickt als Einziger die labyrinthisch ver­schlun­gene Handlung. Oft spricht er seine Figuren unmittelbar an, belehrt oder tröstet sie, nimmt sie an die Hand und führt sie zusammen. Der erhabene Grundton, der vor allem in überbor­den­den Beschrei­bun­gen von Land­schaften und Seelenzuständen seiner Pro­tag­o­nis­ten vorherrscht, kon­trastiert mit hu­moris­tis­chen und satirischen Auss­chwei­fun­gen, die stilistisch nicht von ungefähr an Laurence Sterne erinnern. Immer wieder unterbricht der Erzähler den Fortgang der Geschichte, indem er etwa seine Poetik darlegt, Überlegungen zu Fre­und­schaft, Ehe und Erziehung anstellt oder anderweitig abschweift. Dadurch gewinnt der Stil oftmals etwas Reflexives, Sen­ten­zhaftes und Apho­ris­tis­ches. Zugleich ist die Sprache reich an Metaphern und Gle­ich­nis­sen, Wortspielen und As­sozi­a­tio­nen. Manche der Figuren haben Doppelnamen (z. B. wird Roquairol auch Karl genannt), was verwirren mag.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Der Titan, nach Jean Pauls eigenen Worten sein „Kardinal- und Kap­i­tal­ro­man“, ist ein Muster­beispiel ro­man­tis­cher Ironie, die Hu­moris­tis­ches und Erhabenes, Satire und Tragödie, klassische For­men­strenge und wildes Fabulieren verbindet.
  • Nahezu alle Figuren spiegeln extreme zeitgenössische Haltungen wider, die Jean Paul ablehnte. In der Figur Schoppes setzt sich Jean Paul mit dem Idealismus Johann Gottlieb Fichtes auseinander, Roquairol verkörpert übersteigerten ro­man­tis­chen Ästhetizis­mus und Geniekult, Liane frommen Pietismus und Linda die Auswüchse der weiblichen Emanzi­pa­tions­be­we­gung. Damit sind sie größtenteils dem so genannten Titanismus verfallen: dem in­di­vidu­ellen, trotzigen Widerstand gegen eine höhere Macht.
  • Allein Albano repräsentiert die klassische Harmonie zwischen Verstand und Gefühl, zwischen Körper und Geist. Seine in der Au­seinan­der­set­zung gereifte Persönlichkeit macht ihn immun gegen alle Intrigen und Ränkespiele.
  • Mit dem Auftauchen von Schoppes Doppelgänger am Ende des Romans wird die Handlung von Jean Pauls Roman Siebenkäs fortgesetzt und die Thematik einer Ges­pal­tenheit des Subjekts aufge­grif­fen.
  • Albano wird Fürst – nicht nur aufgrund des Geburt­srechts, sondern auch weil er sich selbst zu beherrschen gelernt hat. So erfährt er von seiner fürstlichen Abstammung erst, als er durch Erziehung und Entwicklung zu dem Menschen geworden ist, der er für so eine wichtige Position sein sollte.
  • Das im Titan formulierte klassische Bil­dungsideal zielt – ähnlich wie bei Goethes Wilhelm Meister – auf die allseitig gebildete Persönlichkeit. Jean Pauls Bil­dungskonzept erweiterte das Goethe’sche um das Ideal eines politisch engagierten Menschen, der nicht nur sein Denken und Empfinden schult, sondern sich auch tatkräftig für die Demokratie einsetzt.
  • Wie Jean-Jacques Rousseau verfolgte Jean Paul das Ideal einer neuen Jugend, die fernab vom verderblichen Einfluss der Gesellschaft her­anwach­sen sollte. Tugend statt Gelehrsamkeit, Selb­stver­wirk­lichung statt gesellschaftliche Einordnung, so lautete das Ziel.

His­torischer Hintergrund

Die Deutschen und die Französische Revolution

Beim Ausbruch der Französischen Revolution 1789 war die Begeis­terung unter deutschen In­tellek­tuellen groß. Die meisten Dichter und Philosophen in Deutschland begrüßten die Vorgänge im Nachbarland lei­den­schaftlich. Sie hofften, die Umwälzungen würden auf das zer­split­terte Deutsche Reich übergreifen, wo die Fürsten von Klein- und Zw­ergstaaten mit dem örtlichen Adel um die Macht konkur­ri­erten. Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte zählte zu den glühendsten Bewunderern der Revolution. Auch als in Deutschland unter dem Eindruck der jakobinis­chen Blutherrschaft ab 1793 die anfängliche Begeis­terung in blankes Entsetzen umschlug, hielt er an seinen demokratis­chen Ideen fest. Die öffentliche Meinung zeigte sich indes von der Revolution schwer enttäuscht: Statt auf gewaltsamen Umsturz richteten sich die Hoffnungen der aufgeklärten Geister nun auf langsamen „Wandel durch Vernunft“, auf Reformen von oben und auf Bildung.

Entstehung

Nach dem Terror der Jakobin­er­herrschaft war auch Jean Paul, der anfangs begeistert für die Ideale der Französischen Revolution eingetreten war, de­sil­lu­sion­iert. Anders als viele Zeitgenossen dis­tanzierte er sich jedoch nie öffentlich von der Revolution. Doch schon in seinem 1795 er­schiene­nen Roman Hesperus äußerte er moralische Bedenken hin­sichtlich des radikalen revolutionären Ansinnens, Krieg und Unterdrückung durch Krieg und Unterdrückung beseitigen zu wollen. Während Jean Paul im Hesperus am Ende die Möglichkeit von Reformen andeutete, setzte er im Titan ganz auf die Wirksamkeit von Bildung und Erziehung. Bevor sein Albano Fürst wird, hat er zumindest geistig, wenn auch nicht als aktiver Kämpfer, das Stadium des Revolutionärs erreicht und wird – so darf man annehmen – als Herrscher in seinem Land Reformen durchsetzen.

Auf Einladung Charlotte von Kalbs, die von seinem Hesperus angetan war, besuchte Jean Paul 1796 für drei Wochen Weimar. Naiv wie ein Kind, zugleich aber hochge­bildet und witzig, begeisterte der charmante Schrift­steller die Weimarer Gesellschaft. Mit Johann Gottfried Herder, dem lei­den­schaftlichen Verteidiger der Französischen Revolution, schloss Jean Paul eine innige Fre­und­schaft, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller hingegen blieben ihm gegenüber reserviert. Eine neue Heimat fand er in Weimar nicht, obwohl er sich dort für längere Zeit niederließ. Die deutsche Hauptstadt der Kultur stellte für den selb­st­be­wussten Prov­inzdichter, der stolz auf seine kleinbürgerliche Herkunft war, den Inbegriff dessen dar, was er ablehnte: die Abhängigkeit der Schrift­steller von Mäzenen, die kühle Arroganz des Dichterfürsten Goethe, der sich nur für die Kunst in­ter­essierte und politisch eher gleichgültig war, die klas­sizis­tisch-an­tike For­men­strenge und Griechen­verehrung, den übersteigerten Ästhetizis­mus und den Geniekult.

Die ersten Notizen und Skizzen für den Titan legte Jean Paul bereits 1792 an. Kaum hatte er den Hesperus beendet, begann er an dem neuen Werk zu schreiben, das nach eigener Einschätzung sein bestes sein sollte. Doch erst nach seiner Bekan­ntschaft mit der Weimarer Hofge­sellschaft, die ihn zu der Darstellung der Verhältnisse in Pestitz inspirierte, gewann der Roman Gestalt. Die eigentliche Arbeit am Titan zog sich von 1797 bis 1802 hin. Während dieser Zeit lebte der Schrift­steller abwechselnd in Leipzig, Weimar und Berlin. Der erste Band erschien 1800, danach folgte bis 1803 jährlich ein Band.

Wirkungs­geschichte

Die Reaktionen auf Titan waren eher verhalten. War nach dem er­fol­gre­ichen Hesperus das Interesse am ersten Band noch groß, so rief schon der zweite Teil Enttäuschung hervor. Die beiden letzten Bände fanden kaum mehr Beachtung. Die mit aktuellen Fragen überfrachtete Handlung, die einseitigen Figuren, die vielen als leblose ide­ol­o­gis­che Konstrukte erschienen, und das un­durch­schaubare In­tri­gen­spiel stießen auf allgemeine Ablehnung; zudem wirkte das Happy End in den Augen vieler zeitgenössischer Leser unglaubwürdig. Entsprechend sank im Laufe der Entste­hungszeit das öffentliche Interesse. Die erste Auflage von 3000 Stück konnte kaum verkauft werden. Goethe und Schiller ignorierten den Titan schlicht, während August Wilhelm Schlegel zu den schärfsten Kritikern des Mammutwerks zählte.

Ende des 19. Jahrhun­derts inspirierte Jean Pauls Roman Gustav Mahler zur Komposition seiner ersten Symphonie, die anfangs noch den Untertitel „Der Titan“ trug. Zu Beginn des 20. Jahrhun­derts unternahm Hermann Hesse, ebenso wie später Arno Schmidt ein großer Verehrer Jean Pauls, den Versuch, den Roman durch Kürzungen zu straffen, um ihn lesbarer zu machen – mehr Leser gewann das Buch dadurch jedoch nicht.

Über den Autor

Jean Paul (so der Künstlername von Johann Paul Friedrich Richter) wird am 21. März 1763 im fränkischen Wunsiedel als Sohn eines protes­tantis­chen Dorf­p­far­rers geboren. Mit 16 Jahren kommt der wiss­be­gierige Junge, der alles liest, was er in die Hände bekommt, auf das Gymnasium in Hof. Der Tod des Vaters im gleichen Jahr stürzt die Familie in schwere Not. Um Johann und seine vier jüngeren Brüder ernähren zu können, arbeitet die Mutter als Spinnerin. Das Studium der Theologie in Leipzig, das er 1781 aufnimmt, kann er kaum finanzieren. Der hochge­bildete Autodidakt, der nebenbei Vorlesungen der Philosophie und Mathematik besucht, wird auch von Heimweh bedrängt. Seine durch die Armut entstandene Außen­seit­er­rolle betont er selb­st­be­wusst mit auf­fal­l­en­der Kleidung und offenem Haar. Strebsam verfolgt er das Ziel, allein vom Schreiben leben zu können. Zunächst aber muss er sich sein Brot mit einer Anstellung als Hauslehrer verdienen, die er nach seiner Rückkehr zur Mutter 1786 antritt. In der bayerischen Provinz, wo er in beengten Verhältnissen lebt, entwickelt der begeisterte Pädagoge seine eigenen Lehrmeth­o­den. Nebenbei verfasst Jean Paul satirische Schriften und seinen ersten Roman Die unsichtbare Loge (1793), der seinen Ruhm als Schrift­steller begründet. Hier verwendet er auch zum ersten Mal seinen Künstlernamen, in Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau, für den er eine große Bewunderung hegt. Es folgt der Roman Hesperus (1795). Dieser wird begeistert aufgenommen und verkauft sich gut. Mit 38 Jahren heiratet Jean Paul – der sich zwar mehrmals verlobt hat und viele Liebes­briefwech­sel pflegt, aber wohl noch keusch ist – Karoline Mayer. Nach den Mis­ser­fol­gen mit Titan (1803) und Flegeljahre (1804/05) siedelt er mit seiner Frau und den zwei Kindern nach Bayreuth. Dort wird ein drittes Kind geboren. Er zieht sich von der Familie zurück, reist viel, arbeitet wie besessen und wirkt – aufgedunsen durch seinen maßlosen Bierkonsum – älter, als er eigentlich ist. Den Tod seines Sohnes Max, von dem er erwartete, er werde in seine Fußstapfen treten, verwindet er nicht. Vier Jahre später stirbt Jean Paul – inzwischen fast erblindet – am 14. November 1825 in Bayreuth.