Eine Expertenbetrachtung
Egal ob in medizinischer oder naturwissenschaftlicher Forschung, in Branchenverbänden oder im Sport – Experten begegnen uns in nahezu allen Lebensbereichen. Als Klienten suchen wir Rat bei lokalen Experten wie Ärzten, Anwälten oder Eheberatern. Aus dem Denken und den Meinungen all dieser Spezialisten bildet sich ein brisanter, weil oft widersprüchlicher Expertenmix, der häufig in die Irre führt. Warum ist das so? Wenn wir das, was jemand sagt, gerne hören, sind wir eher bereit, es zu glauben. Menschen lieben positive Aussagen und einfache, umsetzbare Ratschläge. Werden diese in eine schöne Geschichte verpackt und sind universell anwendbar, lässt man sich mit großer Wahrscheinlichkeit überzeugen. Ganz egal, wie hoch der Wahrheitsgehalt tatsächlich sein mag. Sind gleich mehrere Experten einer Meinung, schließen sich Laien vorbehaltlos an. Doch es ist ein Irrglaube, dass viele gemeinsam die bessere Lösung für ein Problem finden. In Wahrheit verstärkt das Ergebnis einer Gruppe lediglich einen Effekt in eine Richtung. Und die kann genauso gut richtig wie falsch sein, wie schon der Philosoph Marquis de Condorcet bewies.
Warum Wissenschaftler Schiffbruch erleiden
Während informelle Experten wie Sportprofis meist nicht auf gesichertes Datenmaterial zugreifen können oder Daten, die von ihren persönlichen Eindrücken abweichen, nicht berücksichtigen, haben Wissenschaftler mit anderen Problemen zu kämpfen: Selbst Studien, die nach glaubwürdigen Kriterien verfasst wurden, fußen nicht selten auf fehlerhaftem Datenmaterial. Mögen die Messergebnisse noch so eindrucksvoll sein, letztlich sind die daraus gezogenen Schlüsse falsch. Betrachtet man die Messgröße, die einer Aussage zugrunde liegt, lässt sich mitunter feststellen, dass sie für das Ergebnis gar nicht relevant ist. Werden zudem so genannte Surrogatparameter verwendet, die das Gemessene ersetzen (z. B. soll eine Tumorverkleinerung anzeigen, wie gut eine Krebsbehandlung wirkt), sind irreführende Ergebnisse vorprogrammiert. Untersuchungen über menschliches Verhalten mittels Surrogatparametern sind besonders anfällig für Falschaussagen. Doch weil in bestimmte Theorien zuhauf Forschungsgelder investiert werden (Beispiel: Ein einzelnes Gen verursacht eine bestimmte Krankheit), halten Wissenschaftler weiterhin daran fest. Durch Fehlmessungen, falsche Analysemethoden, arglose Übertragungen von in Tierversuchen gefundenen Effekten auf den Menschen und durch das Aussortieren unpassender Daten lassen sich Forschungsergebnisse manipulieren. Hinzu kommt das Schubladenproblem: Passen die Daten einer Studie nicht ins Konzept, bleiben sie unveröffentlicht. Oder man ändert im Nachhinein einfach den Forschungsgegenstand. Eine weitere Problematik stellt die Korrelation vieler einzelner Faktoren dar: Welcher ist der entscheidende Faktor und worin genau besteht sein Einfluss? Häufig genug werden bei der Dateninterpretation Ursache und Wirkung vertauscht.
Die Unzuverlässigkeit von Studien
Wie glaubwürdig eine wissenschaftliche Studie ist, wird in der Regel von deren Form abhängig gemacht. So gelten Beobachtungsstudien, die an einer kleinen Gruppe durchgeführt werden, als unzuverlässig. Breit angelegte epidemiologische Studien dagegen genießen ein höheres Vertrauen, weil sie eine hohe Anzahl an Stichproben untersuchen, teilweise über einen langen Zeitraum. Doch die Ergebnisse sind meist bescheiden und schließen falsche Schlussfolgerungen nicht aus. Mathematische Untersuchungen haben gezeigt, dass Metaanalysen über viele Einzelstudien zwar zuverlässiger sind, doch auch sie fallen im Ergebnis nicht selten falsch aus. Randomisierte kontrollierte Studien (RCT oder Doppel-Blind-Studien), bei denen eine von zwei Gruppen ein Placebo erhält und weder Versuchspersonen noch Durchführende wissen, welche, gelten in der Forschung als höchster Standard. Doch auch sie können falsche Ergebnisse liefern. Manchmal weisen RCT zudem nur geringe Effekte nach, weil Durchschnittswerte aus höchst unterschiedlichen Einzelwerten entstehen. Ein weiterer Verzerrungsfaktor sind Finanzierungen durch die Industrie. Es ist erwiesen, dass solcherlei erzeugte Forschungsergebnisse deutlich positiver ausfallen als unabhängig erarbeitete. Zudem ist es üblich, dass Firmen im Nachhinein einen Wissenschaftler als Gastautor einkaufen, um die Tendenz ihrer Studie zu verschleiern.
Frisierte Daten, positive Ergebnisse und hohe Wahrscheinlichkeiten
Schummeln, täuschen, verschleiern – Wissenschaftler legen im Umgang mit den erhobenen Daten eine erstaunliche Kreativität an den Tag. Warum betrügen sogar angesehene Forscher die Öffentlichkeit und legen falsche Tatsachen vor? Eine Erklärung liegt im enormen Konkurrenzdruck, der im Wissenschaftsbetrieb herrscht. Dieser fängt schon beim Gerangel um eine feste Stelle an und setzt sich beim Wettbewerb um Forschungsgelder fort. Dabei gewinnt, wer die meisten Veröffentlichungen in renommierten Fachzeitschriften hat und am häufigsten zitiert wird. Wie aber erreichen Wissenschaftler einen karrierefördernden Abdruck? Die Chancen stehen gut, wenn ein Artikel Neuland erschließt, nutzbringend ist und positive Ergebnisse vorweist. Der letztgenannte Faktor, die so genannte Publikationsbias, führt dazu, dass Studien mit negativen Ergebnissen gar nicht erst angeboten werden.
„Als griffige kurze Formulierung für Expertenrat würde ich Irrtum mit Lücken vorschlagen: Meist ist Expertenrat irreführend, aber es ist auch immer wieder mal etwas Nützliches dabei.“
Je neuer eine Idee, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie korrekt ist. Forscher sind jedoch auf Publikationen angewiesen, weshalb sie bewusst oder unbewusst eher auf ein erwartetes Ergebnis hinarbeiten, anstatt vorurteilsfrei nach der Wahrheit zu suchen. Die Herausgeber wissenschaftlicher Publikationen scheinen mehr am Newswert einer Arbeit interessiert zu sein als an deren fachlicher Qualität. Zwar gibt es das Peer-Review-Verfahren, bei dem Gutachter eingereichte Artikel überprüfen, doch oft sind sie befangen und decken die Fehler nicht auf. Kaum jemand macht sich die Mühe, eine Studie zu wiederholen. Gewöhnlich erhält man dafür auch keine Gelder. Deshalb liegt die Überprüfungsquote medizinischer Studien bei unter 5 %. Das hat zur Folge, dass sich unwahre Ergebnisse über Jahre hinweg durchsetzen. Statistische Berechnungen hinsichtlich der Signifikanz von Studien zeigen, dass jede dritte veröffentlichte Studie, die mit positiven Ergebnissen glänzt, falsch sein muss. Zieht man weitere Fehlerquellen in Betracht, muss man annehmen, dass sogar zwei Drittel aller veröffentlichten Artikel, die eine neue Theorie überprüfen, zu Unrecht deren Richtigkeit bestätigen.
Sinn und Unsinn von Businessberatern
Gestern Six Sigma, heute Prozessoptimierung, morgen Lean-Management: Ganze Heerscharen von Beratern fallen alljährlich über die Unternehmen her, um ihre neuesten Weisheiten an den Mann zu bringen. Flankiert werden die Methoden, mit denen man augenscheinlich marode Firmen zu Goldeseln umkrempeln will, von unzähligen Regalmetern an Businessliteratur. Klar: Mit einer Buchveröffentlichung verschafft sich jeder Experte ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit. Doch im besten Fall hat der Leser davon eine anregende Lektüre. So sind z. B. die Erfolgsfaktoren eines Unternehmens wie Toyota zu vielschichtig, um sie mit allgemeingültigen Rezepten auf ein beliebiges anderes Unternehmen zu übertragen.
Massenmedien im Umgang mit Experten
Wir lassen unser Leben erheblich von Bestenlisten beeinflussen, die wir in den Medien finden, z. B. beim Autokauf, bei der Auswahl der Schule oder des passenden Wohnortes. Doch Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen interessiert der Wahrheitsgehalt einer fachlichen Erkenntnis nur wenig. Stattdessen muss ein Bericht einfach, streitbar und unterhaltsam sein, und er muss vor allem klare Antworten liefern. Über die Massenmedien verbreitetes Expertenwissen führt deshalb oft zu irreführenden Aussagen. Schlechte Ratschläge sind die Folge, auch wenn sie von qualifizierten Experten stammen. Zudem führen Urteilsschwäche bei der Präsentation von Studien und die Idealisierung von Wissenschaftlern dazu, dass Ergebnisse eher aufgemotzt als infrage gestellt werden. Würden Journalisten gegenüber Wissenschaftlern das gleiche Misstrauen an den Tag legen wie gegenüber Politikern, wäre das ein großer Fortschritt. Studien, egal welcher Form, liefern niemals endgültige Beweise, und Forschung beinhaltet immer Unsicherheiten.
Ein weltweites Netz von Experten?
Das Internet bietet mit seinen sozialen Medien, Foren und Wikis und deren Bewertungs- und Kommentarfunktionen geradezu ideale Voraussetzungen dafür, Wissen transparent allzeit und überall für jeden verfügbar zu machen. Auf dieser Basis entstand die Theorie der Weisheit der Massen, die von einem Netz weltweit verstreuter Mikroexperten ausgeht. Die Praxis sieht leider anders aus. Dank Google können wir zwar zu nahezu jedem Thema eine unendliche Zahl von Suchergebnissen finden. Doch die meisten davon sind entweder unbedeutend oder falsch. Das liegt an Googles Suchalgorithmus und an den Tricks vieler Websitebetreiber. Wer sich nicht professionell mit Informationsrecherche beschäftigt oder nicht genug Ausdauer und Erfahrung mitbringt, ertrinkt in der schieren Informationsflut. Vorgebildete werden so immer gebildeter, während der Rest sich mit minderwertigen Auskünften abfinden muss, weil ihm die Suchfertigkeiten fehlen. Bewertungsmechanismen, mit denen Nutzer einen Rat oder eine Meinung kommentieren können, helfen anderen, die Glaubwürdigkeit einzuschätzen. Leider liefert aber nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der Beteiligten Beiträge zu einem sozialen Netzwerk. Die große Masse schweigt.
Entlarven Sie falschen Expertenrat
Auf welche Aussage ist überhaupt noch Verlass? Expertenmeinungen zu beurteilen ist ein schwieriges Unterfangen, über das kein Konsens herrscht. Unter vermeintlichen Experten gibt es genug, die zumindest den Eindruck erwecken, ausgewiesene Fachmänner zu sein. Doch die Beweisführung, die es braucht, um einen Dilettanten bloßzustellen, kann sehr schwierig sein. Wenn Sie eine vermeintliche Expertenmeinung anhand der folgenden Merkmale untersuchen, fällt es Ihnen leichter, die Spreu vom Weizen zu trennen.
„Keine Studie, auch keine Folge von Studien, wird und jemals klipp und klar etwas beweisen.“
So erkennen Sie unglaubwürdigen Expertenrat:
- Seien Sie wachsam, wenn eine Studie den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt.
- Werden Sie stutzig bei Schlagzeilen wie „Kaffeetrinken verlängert das Leben!“. Wir wünschen uns im Alltag umsetzbare Ratschläge. Diese lassen sich aber nur selten aus der Forschung ableiten, sondern sind meist von den Massenmedien inszeniert.
- Vorsicht ist auch geboten bei Studien, die lediglich durch Tierversuche belegt sind.
- Finger weg von bahnbrechenden Erkenntnissen: Neues muss sich erst noch beweisen.
- Fragen Sie sich, wer von den Ergebnissen profitiert. Mitunter hat die Industrie eine Studie beauftragt, die den eigenen Interessen dient. Doch auch staatlich finanzierte Forschung ist nicht immer frei.
- Provokante und eingängige Thesen sind schön und gut, aber noch lange kein Beweis.
- Denken Sie bei positiven Bewertungen und weitläufig übernommen Meinungen immer an Trittbrettfahrer und Korruption.
- Auch bei der Beweisführung mittels breiter und exakter Studie können Messfehler und Schlamperei vorliegen.
- Ist ein Experte noch so qualifiziert: Leistungsdruck kann zu Fälschungen verführen.
„Letzten Endes werden wir, glaube ich, keine definitive Punkteliste für Expertentum haben, jedenfalls keine allgemein anerkannte.“
So erkennen Sie vertrauenswürdigen Expertenrat:
- Negative Befunde sind oft unerwünscht und deshalb meist wahrhafter als positive.
- Alle Einschränkungen sowie abweichende Erkenntnisse werden genannt.
- Der durchgeführte Ansatz ist in eine nachvollziehbare Forschungshistorie eingebettet.
- Der Experte liefert eine praktische Bedeutung seiner Forschung und bewertet seine Ergebnisse selbst.
- Es bleibt genügend Raum für Zweifel und Skepsis.