Systemfehler – gemacht von Menschen
Sein Gesicht war eingefallen und gezeichnet von den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit. Als Alan Greenspan, der langjährige Präsident der amerikanischen Notenbank, 2008 vor einem Untersuchungsausschuss des US-Repräsentantenhauses aussagte, schien nichts mehr, wie es einmal war: Er, Verfechter freier Märkte und Anhänger einer radikal marktliberalen Denkrichtung, gestand ein, dass sein Weltbild zusammengebrochen war. Als obersten Notenbanker hatte man ihn noch durchweg mit Lob überschüttet. Nun aber wollten Abgeordnete wissen, wie das weltweite Finanzsystem so nah an den Kollaps geraten konnte. Greenspans bittere Erkenntnis: Die Risikomanagementmodelle waren nur mit den Daten weniger Jahrzehnte gefüttert worden – historische Krisenzeiten hatte man leichtsinnig außen vor gelassen. Doch nicht nur das: Der Ruheständler musste auch einräumen, 40 Jahre lang einer Ideologie angehangen zu haben, von der er angenommen hatte, „dass sie bestens funktioniert“. Auf einen Schlag tat sie es nicht mehr. Einen größeren Offenbarungseid hätte es kaum geben können.
Preis und Wert
Die Theorie effizienter Märkte besagt, dass der Preis eines bestimmten Gutes die Summe seines aktuellen und zukünftigen Potenzials widerspiegelt. Aber kann man das wirklich noch ernst nehmen? Tatsächlich handeln doch viele Investoren irrational, treiben Preise in spekulative Höhen oder ziehen anderen den Boden unter den Füßen weg. Ein wesentliches Problem liegt in der Unterscheidung zwischen Preis und Wert. Offenkundig müssen diese beiden Aspekte nicht übereinstimmen. Was wäre beispielsweise der Preis – oder Wert – eines Menschenlebens? Laut US-Versicherungsmathematikern rund 7 Millionen Dollar. Doch einen Markt für Menschenleben gibt es nicht. Nicht einmal sich selbst darf man im Handel anbieten: Es ist z. B. nicht erlaubt, seine eigenen Organe zu verkaufen – verschenken hingegen darf man sie. Der Wirtschaftswissenschaftler Karl Polanyi vertrat daher die Ansicht, dass die Gesellschaft erst eine Genehmigung erteilen müsse, bevor etwas als Ware erworben bzw. verkauft werden könne – ganz im Gegensatz zu Alan Greenspans Marktideologie, die freie Märkte einfach voraussetzte, sodass er ihr lange Zeit ungestört nachhängen konnte. Greenspan litt unter einer Art Anton-Syndrom: Das ist eine seltene Krankheit, bei der die Patienten erblinden, ihre Blindheit aber nicht erkennen – sie sind weiterhin überzeugt, sehen zu können. Das Nichterkennen der Krankheit führt aber nicht nur zu einem verzerrten Selbst- und Weltbild, sondern auch dazu, dass man die gleiche Wahrnehmung bei seinen Mitmenschen voraussetzt, ohne die Verzerrung zu durchschauen.
Der Homo oeconomicus
Der Homo oeconomicus – der wirtschaftlich denkende Mensch – geht auf keinen Geringeren als John Stuart Mill zurück, einen der bedeutendsten Ökonomen des 19. Jahrhunderts. Durch die Arbeit Gary Beckers, der einer von Mills prominenten Nachfolger im 20. Jahrhundert war, nahm der Homo oeconomicus jedoch ein gewisses Eigenleben an. Dass Becker 1992 den Wirtschaftsnobelpreis und später von George W. Bush die Medal of Freedom erhielt, unterstützte zweifellos die massenweise Verbreitung seiner Wirtschaftstheorie. Heute ist praktisch kein sozialwissenschaftliches Forschungsgebiet mehr unberührt von Beckers Denken. Alles ist demnach ökonomisch erklärbar: Menschen, Staaten und Institutionen streben mithilfe der verfügbaren Ressourcen nach maximalem Gewinn, das Wirtschaftssubjekt bewegt sich immer in irgendeiner Form von Markt, und die Präferenzen des Homo oeconomicus sind stets und überall gleich. So erklärt Becker z. B. auch das Funktionieren eines Heiratsmarkts oder einer Demokratie. Im Sinne des Gemeinwohls verstieg sich der freiheitsliebende Ökonom gar zur Forderung, den Organhandel freizugeben – damit Reiche nötigenfalls die Organe von Armen kaufen können.
„Die zunehmende Ungleichheit macht die meisten Menschen unglücklicher, weil die Zahl der so genannten Statusgüter inflationär ansteigt.“
Dummerweise zeigen empirische Studien immer wieder, dass der in Gemeinschaft lebende Mensch weitaus weniger profitmaximierend durch die Gegend trampelt, als es die Theorie behauptet. Vielmehr spielen Großzügigkeit und Selbstlosigkeit für ihn eine wichtige Rolle – was geradewegs zum Easterlin-Paradox (nach einem Ökonomen benannt) führt: Ab einem bestimmten Punkt macht mehr Geld nicht automatisch glücklicher.
Kranke Konzerne
Was aber für die Kleinsteinheit – den einzelnen Menschen – gilt, sieht bei der Großpackung – dem Konzern – ganz anders aus: Nüchtern analysiert, legen viele Konzerne Verhaltensweisen an den Tag, die man gemeinhin Psychopathen zuschreibt. Ob das nun das Nichteinhalten geschäftlicher Normen, Unehrlichkeit, Missachtung der eigenen Sicherheit, Verantwortungslosigkeit oder mangelnde Reue sind: Aus Sicht eines Konzerns sind diese Verhaltensweisen oft absolut rational. Vieles ist nicht mal ungesetzlich, sondern bewegt sich in dem Rahmen, in dem ein profitorientierter Konzern unterwegs ist. Würde man etwa alle externen Kosten (also alle Kosten, die dem Kunden im Endprodukt nicht berechnet werden, sondern die die Gesellschaft als Ganzes tragen muss) in Rechnung stellen, so müsste man z. B. für einen Hamburger mit Rindfleisch rund 200 $ hinblättern.
„In den modernen Wirtschaftswissenschaften spricht man von ‚externen Kosten‘. Das sind die Kosten, die bei der Preisbildung irgendwie durch die Maschen schlüpfen.“
Derlei ökologische Schulden sind kein Hirngespinst irgendwelcher Umwelt- oder Öko-Aktivisten: Einer Schätzung der Weltbank zufolge summieren sich die ökologischen Kosten in China heute auf rund 8 % des Bruttoinlandsprodukts. Das Reich der Mitte wächst rasant, mit der Nebenwirkung allerdings, dass die übermäßige – und vor allem gewohnheitsmäßige – Inanspruchnahme von Wasser, Land und Luft enorme ökologische Kosten nach sich zieht. Und die Geringschätzung natürlicher Ressourcen ist keineswegs auf China oder chinesische Konzerne beschränkt. Der amerikanische Chemiekonzern Monsanto gilt in dieser Beziehung bereits als Serientäter: In Alabama vergiftete Monsanto durch seine Abwässer eine ganze Stadt, doch von Reue keine Spur. Als die Machenschaften 2002 aufflogen, zeigte ein vertrauliches Memo, dass der Konzern einfach „keinen Dollar verlieren“ wollte.
Diamanten und Wasser
Diamanten sind teuer, Wasser ist billig – Erstere sind praktisch überflüssig, Letzteres lebensnotwendig. Wie kann eine so offenkundige Falschbewertung zweier Dinge zustande kommen? Hintergrund ist die Unterscheidung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, die Adam Smith einführte: Da die beiden Werte auseinanderfallen, kann man einen Diamanten gegen enorm viel Wasser eintauschen. Von dieser Erkenntnis Smiths war es ein langer und von vielen Missverständnissen übersäter Weg bis hin zu John Maynard Keynes, dem britischen Ökonomen. Von ihm stammt die berühmt gewordene Empfehlung, dass der Staat, um die Wirtschaft anzukurbeln, nur Flaschen verbuddeln müsse, in denen Geld enthalten sei. Es würden sich dann schon Unternehmungen finden, die die versteckten Flaschen im ganzen Land suchten, sie müssten dazu Mitarbeiter einstellen, diese bräuchten Unterkünfte, Verpflegung usw. Auch wenn das nicht ganz ernst gemeint war: Mithilfe des Multiplikatoreffekts kann der Staat zusätzliche Investitionen der Privatwirtschaft forcieren. Das Streben nach Gewinn ist eine starke Motivation – das wollte Keynes ursprünglich zum Ausdruck bringen. Doch häufig führt das Profitstreben zu irrationalem Handeln, das noch verstärkt wird, wenn Finanzkapital im Spiel ist. Wo einzelne Menschen und Konzerne irrational handeln und kollektiv Fehlentscheidungen treffen, da soll gemäß Keynes der Staat die Verantwortung übernehmen und korrigierend eingreifen.
Staatsmisstrauen
Das Paradebeispiel der Angst vor einem zu starken Staat bieten ausgerechnet die USA, die noch heute eine aus Revolutionszeiten herrührende Regierungsform pflegen. Für viele Amerikaner gibt es eine direkte Verbindung zwischen einem starken Staat und dem Totalitarismus. Gleichzeitig aber erwarten die Bürger mehrheitlich, selbst in den USA, dass sich der Staat um Hungernde kümmert, die medizinische Grundversorgung sicherstellt oder ein Bildungssystem etabliert. Für Interventionen von oben gibt es viele gute Gründe. Immer dann, wenn der gesellschaftliche Nutzen viel größer ist als der des Einzelnen(z. B. bei Impfprogrammen), sind sie gerechtfertigt. Bei der Landesverteidigung besteht auch der Konsens, dass hier der Staat gefragt ist – doch ausgerechnet bei den unpopulären Kriegen in Afghanistan und im Irak lief die Privatisierung der amerikanischen Kriegsführung aus dem Ruder. Es war das klassische Principal-Agent-Problem: Diejenigen, die Aufträge vergeben, sind nicht diejenigen, die die Zeche zahlen. Im US-Senat sind übrigens die Hälfte der Abgeordneten Millionäre, im Repräsentantenhaus ein Viertel. Darf man von denen Reformen erwarten?
Eingezäuntes Allgemeingut
Gehen wir zurück zu den Anfangsformen des Kapitalismus: Die Einhegung von Allgemeingut (z. B. Felder, Wald, Wasser) brachte zwei neue Transaktionsarten hervor: die Pacht und den Lohn. Die Folgen waren der Raubbau an den Feldern und Wäldern und die Überfischung der Ozeane durch Wirtschaftsunternehmen, die auf Profitmaximierung aus waren – die Allmende wurde „feindlich übernommen“. Besonders gut erkennt man das etwa an den schnurgeraden Ländergrenzen in Afrika: Die Kolonialmächte teilten den Kontinent unter sich auf, um seine Bodenschätze auszubeuten; das Allgemeingut wurde eingezäunt und schließlich privatisiert. Dabei kann eine nachhaltige Nutzung von Allmendegütern unsere niederen Antriebe in Schach halten. Wie es geht, zeigt ein Beispiel aus Chile. Den dortigen Fischern wurden kollektiv geografisch begrenzte Rechte an Fanggründen (Territorial Use Rights in Fisheries, TURF) zugestanden, industrielle Fischfangschiffe großer Konzerne wurden verboten – und siehe da, das System funktioniert, die Fischbestände erholten sich. Doch solchen lokalen Gegenbewegungen zum Trotz hat in der Gesellschaft noch kein richtiger Selbstheilungsprozess eingesetzt, der der Zerstörungskraft profitorientierter Märkte beikommen kann.
Mitwirkungssouveränität
Nun könnte man meinen, den Armen gehe es besser, wenn man ihnen etwas Eigentum gäbe. Auch das wurde schon probiert: Man überließ armen Menschen in Entwicklungsländern Landeigentum, das sie bewirtschaften konnten. Doch in einem System, in dem die wirtschaftliche Macht höchst ungleich verteilt ist, reicht diese Maßnahme allein nicht aus: Auf kurz oder lang landete der Grundbesitz doch in den Händen weniger Wohlhabender – die Armen hatten ihren Besitz beliehen oder verkauft. Der Schlüssel scheint vielmehr in einer lebendigen Mitmach-Politik und einer Mitsprache in Entscheidungsprozessen zu liegen. So gibt es beispielsweise im brasilianischen Porto Alegre den so genannten Bürgerhaushalt: Die Bürger entscheiden in ihrem Viertel selbst, wofür und mit welchen Prioritäten das verfügbare Geld ausgegeben wird. Jeder kann in thematischen Foren mitwirken. Im indischen Bundesstaat Kerala hat nach Anwendung einer ganz ähnlichen Variante der Bürgerbeteiligung die Zufriedenheit mit öffentlichen Dienstleistungen erheblich zugenommen. Die Menschen sind nicht mehr vom Markt und seiner teils grausamen Logik abhängig, sondern nehmen ihre Geschicke selbst in die Hand. Auch die Weltbank lobt das Modell von Porto Alegre wegen seiner Auswirkungen auf das Investitionsklima.
„Weiter so“ reicht nicht mehr
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Wenn im Jahr 2050 rund 9 Milliarden Menschen die Erde bevölkern, ist die Belastungsgrenze einer industriellen Landwirtschaft, die den natürlichen Ressourcen keinen angemessenen Wert zuschreibt, längst überschritten. Oder der erwähnte Hamburger müsste tatsächlich 200 $ kosten – sein wahrer Preis in dieser Welt.
„Wahrhaft glücklich werden wir nicht, indem wir unserem persönlichen Glück nachjagen, sondern indem wir uns gemeinsam für Freiheit und Demokratie engagieren.“
Die Marktlogik schreibt unserer Umwelt den Wert Null zu. Dies zeigt: Das Versagen des Marktes, den Dingen ihren angemessenen Wert zuzuweisen, ist vollkommen. Zudem ist der Markt kein sich selbst regulierendes System, sondern er ist in eine menschliche Gesellschaft eingebettet und diese wiederum in das Ökosystem dieses Planeten. Das muss in Zukunft der Grundgedanke allen Wirtschaftens sein.