The Value of Nothing. Was kostet die Welt?

Buch The Value of Nothing. Was kostet die Welt?

Riemann,


Rezension

Nach einer Finanz- und Wirtschaft­skrise erscheinen zuhauf Ab­hand­lun­gen, die die fol­gen­schw­eren Ereignisse analysieren. Plötzlich will es jeder schon immer gewusst haben. In diese Kategorie ist unter dem Strich auch das Buch von Raj Patel einzuordnen – allerdings mit dem Unterschied, dass er tatsächlich schon vor der Katastrophe zu den Mahnern gehört hat. Die Wirtschaft­skrise, die zugleich ein komplettes Sys­temver­sagen darstellt, ist für Patel der Aufhänger, einer nach­haltigeren Denkweise Gehör zu verschaffen. Das gelingt ihm her­vor­ra­gend, nicht zuletzt dank seiner lockeren Schreib­weise. Auch wenn er teilweise weit ausholt und konkrete Vorschläge eher versteckt sind – im Wesentlichen setzt er auf mehr demokratis­che Beteiligung und auf lokale Gegen­be­we­gun­gen, die es schaffen, jenseits der zerstörerischen Markt- und Profitlogik zu wirtschaften –, empfiehlt BooksInShort das Buch allen, die sich für die Zusammenhänge zwischen Mark­twirtschaft, Gesellschaft und Ökosystem in­ter­essieren.

Take-aways

  • Die jüngste Finanzkrise hat gezeigt, dass bisherige Risiko­man­age­ment- und Mark­t­mod­elle nicht funk­tion­ieren.
  • Der Markt versagt regelmäßig dabei, den Dingen ihren wahren Wert zuzuweisen.
  • Die Arbeiten von Wirtschaft­sno­bel­preisträger Gary Becker haben maßgeblich dazu beigetragen, das Marktmodell des Homo oeconomicus zu etablieren.
  • Empirische Studien zeigen jedoch immer wieder, dass der Mensch weniger an Prof­it­max­imierung orientiert ist, als die Theorie behauptet.
  • Viele Konzerne legen Ver­hal­tensweisen an den Tag, die man Psy­chopa­then zuschreibt.
  • Bestehende Spielräume werden hemmungslos ausgenutzt, auch wenn das eine oder andere als unethisch gelten mag.
  • Wo Menschen und Konzerne gemäß der Marktlogik handeln und Schaden anrichten, muss der Staat die Ve­r­ant­wor­tung übernehmen.
  • Eine nachhaltige Nutzung von Allgemeingütern kann unsere niederen Antriebe in Schach halten.
  • Der Schlüssel liegt in einer lebendigen Mit­mach-Poli­tik und einer Mitsprache bei lokalen Entschei­dung­sprozessen.
  • Der Markt ist kein sich selbst reg­ulieren­des System. Er ist in eine menschliche Gesellschaft eingebettet und diese wiederum in das Ökosystem der Erde.
 

Zusammenfassung

Sys­tem­fehler – gemacht von Menschen

Sein Gesicht war eingefallen und gezeichnet von den Ereignissen der jüngsten Ver­gan­gen­heit. Als Alan Greenspan, der langjährige Präsident der amerikanis­chen Notenbank, 2008 vor einem Un­ter­suchungsauss­chuss des US-Repräsen­tan­ten­hauses aussagte, schien nichts mehr, wie es einmal war: Er, Verfechter freier Märkte und Anhänger einer radikal mark­tlib­eralen Denkrich­tung, gestand ein, dass sein Weltbild zusam­menge­brochen war. Als obersten Notenbanker hatte man ihn noch durchweg mit Lob überschüttet. Nun aber wollten Abgeordnete wissen, wie das weltweite Fi­nanzsys­tem so nah an den Kollaps geraten konnte. Greenspans bittere Erkenntnis: Die Risiko­man­age­ment­mod­elle waren nur mit den Daten weniger Jahrzehnte gefüttert worden – historische Krisen­zeiten hatte man le­ichtsin­nig außen vor gelassen. Doch nicht nur das: Der Ruheständler musste auch einräumen, 40 Jahre lang einer Ideologie angehangen zu haben, von der er angenommen hatte, „dass sie bestens funk­tion­iert“. Auf einen Schlag tat sie es nicht mehr. Einen größeren Of­fen­barung­seid hätte es kaum geben können.

Preis und Wert

Die Theorie effizienter Märkte besagt, dass der Preis eines bestimmten Gutes die Summe seines aktuellen und zukünftigen Potenzials wider­spiegelt. Aber kann man das wirklich noch ernst nehmen? Tatsächlich handeln doch viele Investoren irrational, treiben Preise in spekulative Höhen oder ziehen anderen den Boden unter den Füßen weg. Ein wesentliches Problem liegt in der Un­ter­schei­dung zwischen Preis und Wert. Offenkundig müssen diese beiden Aspekte nicht übere­in­stim­men. Was wäre beispiel­sweise der Preis – oder Wert – eines Men­schen­lebens? Laut US-Ver­sicherungs­math­e­matik­ern rund 7 Millionen Dollar. Doch einen Markt für Men­schen­leben gibt es nicht. Nicht einmal sich selbst darf man im Handel anbieten: Es ist z. B. nicht erlaubt, seine eigenen Organe zu verkaufen – verschenken hingegen darf man sie. Der Wirtschaftswis­senschaftler Karl Polanyi vertrat daher die Ansicht, dass die Gesellschaft erst eine Genehmigung erteilen müsse, bevor etwas als Ware erworben bzw. verkauft werden könne – ganz im Gegensatz zu Alan Greenspans Mark­tide­olo­gie, die freie Märkte einfach vo­raus­set­zte, sodass er ihr lange Zeit ungestört nachhängen konnte. Greenspan litt unter einer Art An­ton-Syn­drom: Das ist eine seltene Krankheit, bei der die Patienten erblinden, ihre Blindheit aber nicht erkennen – sie sind weiterhin überzeugt, sehen zu können. Das Nichterken­nen der Krankheit führt aber nicht nur zu einem verzerrten Selbst- und Weltbild, sondern auch dazu, dass man die gleiche Wahrnehmung bei seinen Mitmenschen voraussetzt, ohne die Verzerrung zu durch­schauen.

Der Homo oeconomicus

Der Homo oeconomicus – der wirtschaftlich denkende Mensch – geht auf keinen Geringeren als John Stuart Mill zurück, einen der be­deu­tend­sten Ökonomen des 19. Jahrhun­derts. Durch die Arbeit Gary Beckers, der einer von Mills prominenten Nachfolger im 20. Jahrhundert war, nahm der Homo oeconomicus jedoch ein gewisses Eigenleben an. Dass Becker 1992 den Wirtschaft­sno­bel­preis und später von George W. Bush die Medal of Freedom erhielt, unterstützte zweifellos die massenweise Verbreitung seiner Wirtschaft­s­the­o­rie. Heute ist praktisch kein sozial­wis­senschaftliches Forschungs­ge­biet mehr unberührt von Beckers Denken. Alles ist demnach ökonomisch erklärbar: Menschen, Staaten und In­sti­tu­tio­nen streben mithilfe der verfügbaren Ressourcen nach maximalem Gewinn, das Wirtschaftssub­jekt bewegt sich immer in irgendeiner Form von Markt, und die Präferenzen des Homo oeconomicus sind stets und überall gleich. So erklärt Becker z. B. auch das Funk­tion­ieren eines Heirats­markts oder einer Demokratie. Im Sinne des Gemeinwohls verstieg sich der frei­heit­sliebende Ökonom gar zur Forderung, den Organhandel freizugeben – damit Reiche nötigenfalls die Organe von Armen kaufen können.

„Die zunehmende Un­gle­ich­heit macht die meisten Menschen unglücklicher, weil die Zahl der so genannten Statusgüter inflationär ansteigt.“

Dummerweise zeigen empirische Studien immer wieder, dass der in Gemein­schaft lebende Mensch weitaus weniger prof­it­max­imierend durch die Gegend trampelt, als es die Theorie behauptet. Vielmehr spielen Großzügigkeit und Selb­st­losigkeit für ihn eine wichtige Rolle – was geradewegs zum East­er­lin-Para­dox (nach einem Ökonomen benannt) führt: Ab einem bestimmten Punkt macht mehr Geld nicht automatisch glücklicher.

Kranke Konzerne

Was aber für die Kle­in­stein­heit – den einzelnen Menschen – gilt, sieht bei der Großpackung – dem Konzern – ganz anders aus: Nüchtern analysiert, legen viele Konzerne Ver­hal­tensweisen an den Tag, die man gemeinhin Psy­chopa­then zuschreibt. Ob das nun das Nichtein­hal­ten geschäftlicher Normen, Un­ehrlichkeit, Missachtung der eigenen Sicherheit, Ve­r­ant­wor­tungslosigkeit oder mangelnde Reue sind: Aus Sicht eines Konzerns sind diese Ver­hal­tensweisen oft absolut rational. Vieles ist nicht mal unge­set­zlich, sondern bewegt sich in dem Rahmen, in dem ein prof­i­to­ri­en­tierter Konzern unterwegs ist. Würde man etwa alle externen Kosten (also alle Kosten, die dem Kunden im Endprodukt nicht berechnet werden, sondern die die Gesellschaft als Ganzes tragen muss) in Rechnung stellen, so müsste man z. B. für einen Hamburger mit Rindfleisch rund 200 $ hinblättern.

„In den modernen Wirtschaftswis­senschaften spricht man von ‚externen Kosten‘. Das sind die Kosten, die bei der Preis­bil­dung irgendwie durch die Maschen schlüpfen.“

Derlei ökologische Schulden sind kein Hirnge­spinst ir­gendwelcher Umwelt- oder Öko-Ak­tivis­ten: Einer Schätzung der Weltbank zufolge summieren sich die ökologischen Kosten in China heute auf rund 8 % des Brut­toin­land­spro­dukts. Das Reich der Mitte wächst rasant, mit der Neben­wirkung allerdings, dass die übermäßige – und vor allem gewohn­heitsmäßige – Inanspruch­nahme von Wasser, Land und Luft enorme ökologische Kosten nach sich zieht. Und die Geringschätzung natürlicher Ressourcen ist keineswegs auf China oder chinesische Konzerne beschränkt. Der amerikanis­che Chemiekonz­ern Monsanto gilt in dieser Beziehung bereits als Serientäter: In Alabama vergiftete Monsanto durch seine Abwässer eine ganze Stadt, doch von Reue keine Spur. Als die Machen­schaften 2002 aufflogen, zeigte ein ver­trauliches Memo, dass der Konzern einfach „keinen Dollar verlieren“ wollte.

Diamanten und Wasser

Diamanten sind teuer, Wasser ist billig – Erstere sind praktisch überflüssig, Letzteres leben­snotwendig. Wie kann eine so of­fenkundige Falschbe­w­er­tung zweier Dinge zustande kommen? Hintergrund ist die Un­ter­schei­dung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, die Adam Smith einführte: Da die beiden Werte au­seinan­der­fallen, kann man einen Diamanten gegen enorm viel Wasser eintauschen. Von dieser Erkenntnis Smiths war es ein langer und von vielen Missverständnissen übersäter Weg bis hin zu John Maynard Keynes, dem britischen Ökonomen. Von ihm stammt die berühmt gewordene Empfehlung, dass der Staat, um die Wirtschaft anzukurbeln, nur Flaschen verbuddeln müsse, in denen Geld enthalten sei. Es würden sich dann schon Un­ternehmungen finden, die die versteckten Flaschen im ganzen Land suchten, sie müssten dazu Mitarbeiter einstellen, diese bräuchten Unterkünfte, Verpflegung usw. Auch wenn das nicht ganz ernst gemeint war: Mithilfe des Mul­ti­p­lika­tor­ef­fekts kann der Staat zusätzliche In­vesti­tio­nen der Pri­vatwirtschaft forcieren. Das Streben nach Gewinn ist eine starke Motivation – das wollte Keynes ursprünglich zum Ausdruck bringen. Doch häufig führt das Prof­it­streben zu ir­ra­tionalem Handeln, das noch verstärkt wird, wenn Fi­nanzkap­i­tal im Spiel ist. Wo einzelne Menschen und Konzerne irrational handeln und kollektiv Fehlentschei­dun­gen treffen, da soll gemäß Keynes der Staat die Ve­r­ant­wor­tung übernehmen und ko­r­rigierend eingreifen.

Staatsmis­strauen

Das Pa­rade­beispiel der Angst vor einem zu starken Staat bieten aus­gerech­net die USA, die noch heute eine aus Rev­o­lu­tion­szeiten herrührende Regierungs­form pflegen. Für viele Amerikaner gibt es eine direkte Verbindung zwischen einem starken Staat und dem To­tal­i­taris­mus. Gle­ichzeitig aber erwarten die Bürger mehrheitlich, selbst in den USA, dass sich der Staat um Hungernde kümmert, die medi­zinis­che Grund­ver­sorgung sich­er­stellt oder ein Bil­dungssys­tem etabliert. Für In­ter­ven­tio­nen von oben gibt es viele gute Gründe. Immer dann, wenn der gesellschaftliche Nutzen viel größer ist als der des Einzelnen(z. B. bei Impf­pro­gram­men), sind sie gerecht­fer­tigt. Bei der Lan­desvertei­di­gung besteht auch der Konsens, dass hier der Staat gefragt ist – doch aus­gerech­net bei den unpopulären Kriegen in Afghanistan und im Irak lief die Pri­vatisierung der amerikanis­chen Kriegsführung aus dem Ruder. Es war das klassische Prin­ci­pal-Agent-Prob­lem: Diejenigen, die Aufträge vergeben, sind nicht diejenigen, die die Zeche zahlen. Im US-Senat sind übrigens die Hälfte der Ab­ge­ord­neten Millionäre, im Repräsen­tan­ten­haus ein Viertel. Darf man von denen Reformen erwarten?

Eingezäuntes All­ge­meingut

Gehen wir zurück zu den An­fangs­for­men des Kap­i­tal­is­mus: Die Einhegung von All­ge­meingut (z. B. Felder, Wald, Wasser) brachte zwei neue Transak­tion­sarten hervor: die Pacht und den Lohn. Die Folgen waren der Raubbau an den Feldern und Wäldern und die Überfischung der Ozeane durch Wirtschaft­sun­ternehmen, die auf Prof­it­max­imierung aus waren – die Allmende wurde „feindlich übernommen“. Besonders gut erkennt man das etwa an den schnurg­er­aden Ländergrenzen in Afrika: Die Kolonialmächte teilten den Kontinent unter sich auf, um seine Bodenschätze auszubeuten; das All­ge­meingut wurde eingezäunt und schließlich pri­vatisiert. Dabei kann eine nachhaltige Nutzung von Allmendegütern unsere niederen Antriebe in Schach halten. Wie es geht, zeigt ein Beispiel aus Chile. Den dortigen Fischern wurden kollektiv geografisch begrenzte Rechte an Fanggründen (Territorial Use Rights in Fisheries, TURF) zugestanden, in­dus­trielle Fis­chfangschiffe großer Konzerne wurden verboten – und siehe da, das System funk­tion­iert, die Fischbestände erholten sich. Doch solchen lokalen Gegen­be­we­gun­gen zum Trotz hat in der Gesellschaft noch kein richtiger Selb­s­theilung­sprozess eingesetzt, der der Zerstörungskraft prof­i­to­ri­en­tierter Märkte beikommen kann.

Mitwirkungssou­veränität

Nun könnte man meinen, den Armen gehe es besser, wenn man ihnen etwas Eigentum gäbe. Auch das wurde schon probiert: Man überließ armen Menschen in En­twick­lungsländern Lan­deigen­tum, das sie be­wirtschaften konnten. Doch in einem System, in dem die wirtschaftliche Macht höchst ungleich verteilt ist, reicht diese Maßnahme allein nicht aus: Auf kurz oder lang landete der Grundbesitz doch in den Händen weniger Wohlhaben­der – die Armen hatten ihren Besitz beliehen oder verkauft. Der Schlüssel scheint vielmehr in einer lebendigen Mit­mach-Poli­tik und einer Mitsprache in Entschei­dung­sprozessen zu liegen. So gibt es beispiel­sweise im brasil­ian­is­chen Porto Alegre den so genannten Bürg­er­haushalt: Die Bürger entscheiden in ihrem Viertel selbst, wofür und mit welchen Prioritäten das verfügbare Geld ausgegeben wird. Jeder kann in the­ma­tis­chen Foren mitwirken. Im indischen Bundesstaat Kerala hat nach Anwendung einer ganz ähnlichen Variante der Bürg­er­beteili­gung die Zufrieden­heit mit öffentlichen Di­en­stleis­tun­gen erheblich zugenommen. Die Menschen sind nicht mehr vom Markt und seiner teils grausamen Logik abhängig, sondern nehmen ihre Geschicke selbst in die Hand. Auch die Weltbank lobt das Modell von Porto Alegre wegen seiner Auswirkun­gen auf das In­vesti­tion­sklima.

„Weiter so“ reicht nicht mehr

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Wenn im Jahr 2050 rund 9 Milliarden Menschen die Erde bevölkern, ist die Be­las­tungs­grenze einer in­dus­triellen Land­wirtschaft, die den natürlichen Ressourcen keinen angemesse­nen Wert zuschreibt, längst überschrit­ten. Oder der erwähnte Hamburger müsste tatsächlich 200 $ kosten – sein wahrer Preis in dieser Welt.

„Wahrhaft glücklich werden wir nicht, indem wir unserem persönlichen Glück nachjagen, sondern indem wir uns gemeinsam für Freiheit und Demokratie engagieren.“

Die Marktlogik schreibt unserer Umwelt den Wert Null zu. Dies zeigt: Das Versagen des Marktes, den Dingen ihren angemesse­nen Wert zuzuweisen, ist vollkommen. Zudem ist der Markt kein sich selbst reg­ulieren­des System, sondern er ist in eine menschliche Gesellschaft eingebettet und diese wiederum in das Ökosystem dieses Planeten. Das muss in Zukunft der Grundgedanke allen Wirtschaftens sein.

Über den Autor

Raj Patel studierte Philosophie, Politik und Ökonomie und arbeitete für die Weltbank und die Welthandel­sor­gan­i­sa­tion, zu deren schärfsten Kritikern er heute zählt. Er un­ter­richtet an den Universitäten von Berkeley, Kalifornien, und KwaZulu-Na­tal, Südafrika.