Sprechen wir über Macht
Spätestens seit der Finanzkrise teilen viele wirtschaftlich interessierte Zeitgenossen ein Unbehagen: Geschäfte, das zeigt gerade die jüngste Erfahrung, sind in der Praxis längst nicht immer die Win-win-Situationen, von denen die Theorie spricht. Statt vollkommener Märkte mit gut informierten Marktteilnehmern gibt es Menschen, die Informationsvorteile ausnutzen, Regeln zu ihren Gunsten abändern oder sich gegenseitig überzogene Gehälter zuschanzen. Nach klassischer ökonomischer Theorie ist das unmöglich – es ist aber die Realität. Der blinde Fleck im Auge orthodoxer Ökonomen ist Macht. Mit diesem Begriff assoziieren sie automatisch den Staat, der Zwang ausübt. Der Markt dagegen sei geprägt von freiwilligem Tausch. So steht es in den Lehrbüchern. Doch auch auf dem Markt gibt es Akteure, die anderen schaden können, ohne Nachteile fürchten zu müssen, die also Macht haben. Von der anderen Seite her betrachtet zeigt sich diese Macht darin, dass man jemandem ausgeliefert ist. Allerdings ist nicht jede Macht schlecht: Auch um ein Unternehmen zu führen, braucht man Macht.
Wissen ist Macht
Es ist paradox: Obwohl längst nachgewiesen ist, dass Betrug und Desinformation in der Finanzbranche häufig vorkommen und sich Verbraucher keineswegs immer rational verhalten, werden Finanzmärkte in den Lehrbüchern als effizient bezeichnet. In Wirklichkeit haben diejenigen Marktteilnehmer am meisten Macht, die über die größten Geldsummen verfügen können: die Finanzinstitute. Sie setzen nicht nur ihr eigenes Geld und das ihrer Kunden ein, sondern können auch Geld schöpfen. Bei der Kreditvergabe zeigt sich diese Macht besonders deutlich: Banken bestimmen, wer Kredit erhält und wer nicht. Das Angebot ist immer knapp.
„Kaum jemand ist noch bereit zu glauben, dass alles, was in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten passiert, mit Marktkräften zu tun hat und nichts mit Macht und Machtmissbrauch.“
Auf anderen Feldern haben sie Informationsvorsprünge – Insiderinformationen genannt – und nutzen diese gezielt aus. Sitzt ein Banker im Aufsichtsrat eines Unternehmens, wird es für dieses teuer: Studien zufolge sinken die Erträge und der Börsenwert, weil die Bank die Informationen aus der Firma und der Branche in lukrative Deals ummünzt. Sie bringt das Unternehmen beispielsweise zu billig an die Börse, um durch die Aktienzuteilung ihre Kundschaft glücklich zu machen – darunter auch die Manager des Unternehmens. Die schlecht informierten Kleinanleger werden dabei regelmäßig übervorteilt. Ihnen drehen Bankanalysten Verliererpapiere an, die sie institutionellen Anlegern nicht empfehlen.
„Für den ökonomischen Mainstream ist die Essenz der Marktwirtschaft der freiwillige Austausch, also die Abwesenheit von Zwang und Macht.“
Es genügt nicht, dass Interessenkonflikte bei der Beratung offengelegt werden. Sie sind zu beseitigen. Wegen des beschränkten Marktzugangs, der Größenvorteile und des Vertrauens der Kunden schaffen es Banken, ihre Leistungen viel teurer zu verkaufen, als es ein Wettbewerbsmodell zuließe. Auf vielen Märkten ist Marktmanipulation Alltag. Es gibt sogar Hinweise, dass der schwache Euro des Jahres 2010 auf ein Spekulationskartell zurückzuführen ist. Mit dem so genannten Frontrunning nutzen Insider Informationen über andere Marktteilnehmer, bevor diese tätig werden. Hedgefonds, die diese meist illegale Methode nutzen, erzielen hohe Renditen. Weil sie ihren Kunden aber dank Intransparenz horrende Gebühren in Rechnung stellen können, haben diese nicht viel davon.
Geldschöpfung als Machthebel der Banken
Im Zuge der Finanzkrise wurde deutlich, dass in den USA der Bock zum Gärtner gemacht worden war: An Schlüsselpositionen saßen Vertreter der Investmentbank Goldman Sachs – und zwar nicht nur in der Finanzbranche, sondern auch in der Regierung. Kein Wunder, dass die Rettungsaktionen zugunsten der Bank ausfielen. Seit den Kriegsfinanzierungen der Medici, Fugger und Rothschilds sind enge Verflechtungen von Finanzwelt und Politik bekannt und berüchtigt. Im 17. Jahrhundert fingen die Geldverwahrer an, das Gold ihrer Kunden gegen Zinsen zu verleihen, wobei sie aber nicht das Gold selbst, sondern Quittungen aushändigten. In der Folge gehörten die Goldbestände im Tresor mehreren Leuten, die Papiere in der Hand hielten: Die Geldschöpfung war geboren. Kredite sind Guthaben, die Banken beliebig einräumen können – damit schöpfen sie Geld. Dieses Privileg hat sich bis heute erhalten und ist einer der Gründe für systemische Bankenkrisen. Eine Alternative wäre das 100%-Geld: Die Banken müssten so viel Geld vorrätig halten oder bei der Zentralbank einlegen, wie nötig wäre, um sämtliche Sichtguthaben sofort zu begleichen. Dann könnten sie nur so viel Guthaben schaffen, wie ihnen Einlagen anvertraut wurden. Das hätte den Vorteil, dass die Zentralbank und damit der Staat die Zinsen erhielte, die mit der Geldschöpfung verbunden sind und die heute die Banken einstreichen. So oder so müssen die Notenbanken unabhängiger werden – von den Banken. Die Zentralinstitute vertreten zu häufig deren Interessen. In den USA gehören die zwölf regionalen Reserve-Banken denen, die sie überwachen sollen: den Banken. Die Fed ist keine öffentliche Einrichtung, obwohl sie Billionen öffentlicher Mittel steuert.
Den aufgeblähten Sektor anstechen
Die Finanzkrise der letzten Jahre ist nicht vom Himmel gefallen, sondern war geradezu vorprogrammiert. Schon 2004 warnte das FBI öffentlich vor betrügerischen Subprime-Kreditgeschäften. Ein wesentlicher Grund für die Krise war der Unwille von Politik und Finanzaufsicht, den Derivatehandel zu regulieren. Kein Wunder: Die Finanzbranche ist eine sprudelnde Quelle von Wahlkampfspenden. Und dass die mächtigen Ratingagenturen trotz ihrer systematischen Fehlbewertungen nicht strenger reguliert werden, liegt an einem Interessenkonflikt der USA: Das Land profitiert von der günstigen Einstufung seiner Staatsanleihen. Aber eine erfolgreiche Finanzbranche sollte für eine Volkswirtschaft nur Mittel zum Zweck und nicht der Zweck an sich sein. Wie aufgebläht der Sektor ist, zeigt sich darin, welch hohen Anteil des Bruttoinlandsprodukts und der totalen Unternehmensgewinne er ausmacht. Die überbordende Kreditvergabe durch Regulierung zu drosseln, ist unpopulär. Es ist zu befürchten, dass gerade den Armen der Zugang zu Krediten abgeschnitten würde, was ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaftsschichten zur Folge hätte. Eine Lösung des Dilemmas wäre die Aufspaltung der heutigen Riesenbanken in viele kleine und mittlere Institute. Dann würde der Wettbewerb bei den Instituten mehr Disziplin und bessere Chancen für die Kunden nach sich ziehen. Nationale Finanzaufsichten sollten für die Kontrolle sorgen, nicht internationale Behörden, denn diese sind demokratisch kaum rechenschaftspflichtig.
Manager außer Kontrolle
In den 80er Jahren popularisierten Ökonomen ein neues Bezahlmodell für Manager: die leistungsabhängige Bezahlung. Umgesetzt wurde es häufig durch Aktienoptionen. Die Folge: Die Chefgehälter explodierten. 80 % aller Einkommenssteigerungen in den USA zwischen 1980 und 2005 erzielten die Bürger, die zum reichsten Prozent der Steuerzahler gehörten. Dahinter steckt nicht Leistung, sondern ein Fehlanreiz. Die Manager taten alles, um den Aktienkurs ihres Unternehmens in die Höhe zu treiben. Und die Vergütungsmodelle sind so gestrickt, dass man praktisch nur gewinnen kann.
„Da ein Mindestlohn immer dazu führt, dass der Anteil der Arbeitnehmer an den Gewinnen der Unternehmen steigt, werden die meisten Unternehmen dagegen sein.“
Es ist eine Illusion zu glauben, dass die Aufsichtsräte den Vorstand im Sinn der Aktionäre kontrollieren: Die elitären und soziokulturellen Gemeinsamkeiten der Manager und ihrer Aufseher – die meistens selbst Manager sind oder waren – verhindern eine scharfe Kontrolle. Um die Empörung der Öffentlichkeit nicht anzuheizen, verdunkelt die Managerelite ihre Bezüge. Das geht beispielsweise über versteckte Gehaltsbestandteile wie Pensionszusagen und die private Nutzung des Dienstwagens oder des Firmenjets, auch nach dem Abgang aus dem Unternehmen. Ein Mittel, die Manager zu zügeln und gleichzeitig Umsatz und Investitionsfreude zu steigern, sind stärkere Eingriffsrechte für langfristig orientierte Aktionäre. Auch die Kontrolle durch Arbeitnehmervertreter kann in die gleiche Richtung wirken.
Marktmacht
Die neoklassische Theorie führt in die Irre, weil sie in der Regel von steigenden Grenzkosten der Produktion ausgeht. Gäbe es diese Annahme nicht, würde gemäß der Theorie beispielsweise Burger King sämtliche McDonald’s-Marktanteile übernehmen, wenn das Unternehmen seine Produkte nur um einen Cent billiger als der Konkurrent verkaufte. Dass dies nicht passiert, liegt aber an einer Reihe von anderen Faktoren. In Wahrheit haben die meisten Unternehmen konstante oder sinkende Grenzkosten. Lokale Monopolstellungen verhindern, dass die Kunden woanders kaufen – in ihrem Umfeld gibt es einfach keine Alternative. Weil der Marktzutritt anders als in der Theorie nicht frei ist, haben es Newcomer sehr schwer. Nicht immer schaden Monopole den Verbrauchern: In Märkten, wo es kaum Innovationen gibt, kann der Ausschluss von Wettbewerb die Kosten für die Kunden senken. Das lässt sich beispielsweise bei Gebietsmonopolen für Hausratversicherungen in der Schweiz nachweisen.
Macht auf dem Arbeitsmarkt
Wenn Sie sich als Arbeitgeber so verhalten, wie es die neoklassische Theorie nahelegt, holen sie sich Probleme ins Haus. Es gibt gute Gründe, dass Sie nicht die Löhne drücken oder Leute feuern sollten, nur weil Ersatzarbeitskräfte den gleichen Job für weniger Geld erledigen würden. Arbeit ist kein homogenes Gut. Es gibt gute und schlechte Arbeit, passende und unpassende Jobs. Und es kommt auf die Motivation an. Der Arbeitsmarkt ist kein Markt wie jeder andere und der Mensch kein Homo oeconomicus. Er ist sowohl an einem hohen Gewinn für sich als auch an einem fairen Anteil für andere interessiert. Das belegen zahlreiche Laborexperimente.
„Die USA entlasten ihre Arbeitslosenzahlen dadurch, dass sie einen sehr hohen Anteil ihrer demotivierten und schlecht ausgebildeten Unterklasse im Gefängnis verwahren.“
Ihre Macht als Arbeitgeber sollten Sie daher dosieren: Eine zu strenge Kontrolle hat kontraproduktive Effekte, vor allem auf überdurchschnittlich leistungswillige Mitarbeiter. Viele Arbeiter fühlen sich heute ihrem Unternehmen nicht verbunden, was für die Wettbewerbsfähigkeit verheerend ist. Männer haben auf dem Arbeitsmarkt eine größere Verhandlungsmacht als Frauen – diejenige von Frauen mit Kind geht sogar gegen null. Die Arbeitslosenversicherung stärkt die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer. Einschränkungen der Vertragsfreiheit – beispielsweise Mindestlöhne, Kündigungsschutz und ein Urlaubsanspruch – können helfen, die Arbeitsmarkteffizienz zu verbessern.
Ökonomik als Machtmittel
Die ökonomische Wissenschaft hat sich im Lauf der Zeit immer mehr in den Dienst der Weltmacht USA stellen lassen. Im Kalten Krieg war es nützlich, einer Theorie zu huldigen, die die Effizienz für wichtig und Verteilungsfragen für unwichtig erklärte. Nach dem Zweiten Weltkrieg exportierte die USA ihre Ideologie durch Aufbauhilfe für ökonomische Fakultäten in Europa und Asien. Ökonomen, die von diesem Mainstream-Konsens abweichen, haben es bis heute sehr schwer, in den fünf tonangebenden Fachzeitschriften – drei davon aus den USA – veröffentlichen zu können. Nichtamerikaner werden ebenfalls ausgegrenzt. Da die ökonomische Zunft größtenteils einer egoistischen und keiner kollektiven Vorstellung von Rationalität anhängt, hat sie in ihrer Theorie die Vertreter von Gruppeninteressen, z. B. Gewerkschaften, diskreditiert.
Das Bruttoinlandsprodukt – die falsche Maßeinheit
Mit der neoklassischen Theorie hat sich die Annahme durchgesetzt, dass eine Geldeinheit für einen Armen den gleichen Wert besitzt wie für einen Reichen. Das ist wirklichkeitsfern: Geld hat für einen Armen, der seine Grundbedürfnisse befriedigen muss, eine höhere Bedeutung als für jemanden, der schon alles hat. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist darum als Wohlstandsmaß ungeeignet. Ob es vielen Armen oder wenigen Reichen besser geht als vorher, ist bei seiner Berechnung egal – beide Fälle können sich hinter der Angabe eines BIP-Wachstums von beispielsweise 5 % verbergen. Das BIP gibt also nicht an, welchen Nutzen das Wachstum tatsächlich stiftet. Nutzenmaße, die auch soziale Indikatoren umfassen, sind nicht so verbreitet wie das BIP. Wäre es anders, würden die USA auf einen Schlag nicht mehr als Vorbild dastehen: Dort sind die Einkommen viel ungleicher verteilt als in jedem anderen Industrieland. Die Arbeitslosenzahl der USA ist auch deshalb so niedrig, weil dort im Ländervergleich viel mehr Angehörige der Unterklasse im Gefängnis sitzen statt auf der Straße. Zudem helfen statistische Neuerungen den USA, ihre Wirtschaftsbilanz und Produktivität positiver darzustellen, als sie tatsächlich sind.