Szenarioanalysen und Stresstests in der Bank- und Versicherungspraxis

Buch Szenarioanalysen und Stresstests in der Bank- und Versicherungspraxis

Regulatorische Anforderungen, Umsetzung, Steuerung

Schäffer-Poeschel,


Rezension

Der ominöse Begriff „Stresstest“ tauchte während der Finanzkrise in den Medien häufig auf. Banken und Ver­sicherun­gen prüfen anhand dieser Tests, ob sie für eine schwere Krise stark genug sind. Auf­sichts­behörden reagierten auf die Krise mit verschärften Vorschriften und machten sich für ein ef­fizien­teres Risiko­man­age­ment stark. Das Buch gibt einen umfassenden Einblick, wie Stresstests aufgebaut sind und wie Fi­nanz­di­en­stleis­ter sie durchführen. Der Sammelband spannt den Bogen von den auf­sicht­srechtlichen An­forderun­gen über die Möglichkeiten und Grenzen der Stresstests bis hin zur Umsetzung. 25 Experten steuern Beiträge bei, wobei sich einzelne Inhalte allerdings wiederholen. BooksInShort empfiehlt die Lektüre allen Fach- und Führungskräften aus dem Fi­nanz­di­en­stleis­tungssek­tor, speziell jenen, die mit Risiko­man­age­ment betraut sind.

Take-aways

  • Seit der Finanzkrise hat die Bedeutung von Stresstests stark zugenommen.
  • Sie haben die Funktion, festzustellen, wie ein Unternehmen in Ex­trem­si­t­u­a­tio­nen reagiert und ob es eine Krise überleben kann.
  • Szenar­io­analy­sen untersuchen die Entwicklung eines Portfolios bei bestimmten geänderten Rah­menbe­din­gun­gen.
  • Fi­nanz­di­en­stleis­ter, die Stresstests zu einem integralen Bestandteil ihrer Politik gemacht haben, haben in der Ver­gan­gen­heit Krisen ver­gle­ich­sweise gut überstanden.
  • Ver­sicherun­gen sind komplexer als Banken, darum haben Stresstest bei ihnen nicht die gleiche Bedeutung gewonnen.
  • Bei Ver­sicherun­gen zahlt die Gemein­schaft der Ver­sicherten, also das Kollektiv, während bei der Bank jeder einzelne Sparer auf sich gestellt ist.
  • Eine der Ker­nan­forderun­gen ist, dass das Leitbild und die Un­ternehmen­sphiloso­phie den Mi­tar­beit­ern eine Risikokul­tur vermittelt.
  • Spielen Sie sowohl hy­po­thetis­che als auch historische Szenarien durch.
  • Für eine Bank ist das größte Risiko das Kred­itrisiko, sei es durch Ausfall des Kred­it­nehmers oder durch Ausfall eines Kon­tra­hen­ten (Verlust eines Derivats).
  • Bei der Liquiditätssicherung geht es nicht nur darum, kurzfristig alle Zahlungsansprüche erfüllen zu können, sondern auch um die langfristige Liquidität.
 

Zusammenfassung

An­forderun­gen an Stresstests für Kred­itin­sti­tute

Seit der Finanzkrise wächst die Bedeutung von Stresstests; die Auf­sichts­behörden sind insgesamt strikter geworden. Banken und Ver­sicherun­gen setzen Stresstests zur Steuerung ihrer Risiken ein. Grundsätzlich hängt die Umsetzung der Tests von der Größe und Komplexität des jeweiligen Un­ternehmens ab. Kred­itin­sti­tute in Deutschland müssen sich trotz gewisser Spielräume und Auslegungsmöglichkeiten den Min­destanforderun­gen an das Risiko­man­age­ment (MaRisk) anpassen, die auf Paragraf 25a des Kred­itwe­sen­ge­set­zes basieren. Im Kern geht es bei einem Stresstest darum, zu untersuchen, wie ein Unternehmen bei extremen Marktveränderungen reagiert und ob es eine Krise überleben könnte. Es gibt hierfür diverse Möglichkeiten, etwa Szenar­io­analy­sen, die die Entwicklung eines Portfolios unter bestimmten Umständen untersuchen, oder Sensitivitätsanalysen, die einen einzigen Risiko­fak­tor bei Marktveränderungen betrachten. Entwickler von Stresstests können sowohl auf historische als auch auf hy­po­thetis­che Szenarien zurückgreifen. Das Ziel ist stets, die Kap­i­ta­lausstat­tung für den Krisenfall ausreichend zu gestalten, also den reg­u­la­torischen und wirtschaftlichen Min­destanforderun­gen zu entsprechen. Mithilfe von Stresstests lassen sich auch Risiken entdecken, die vorher unbekannt waren, und fortan überwacht werden können.

Erfolge durch or­gan­isatorische Integration der Stresstests

Im Jahr 2006 definierten die Basler Rah­men­vere­in­barun­gen (Basel II) die An­forderun­gen an Stresstests. Nach Auswertung der Wirtschaft­skrise in den Folgejahren zog das Basler Komitee dann ein er­muti­gen­des Fazit: All jene Institute, die Stresstests zu einem integralen Bestandteil ihrer Un­ternehmen­spoli­tik gemacht hatten, überstanden die Rezession ver­gle­ich­sweise gut. Ein Problem war indes, dass die Banken die Tests oftmals stan­dar­d­isiert umgesetzt hatten, anstatt alle wichtigen Or­gan­i­sa­tion­sein­heiten mit einzubinden; die Akzeptanz innerhalb der Unternehmen war entsprechend gering. Auch war die IT-In­fra­struk­tur oft nicht flexibel genug, um die Tests durch­spie­len zu können. Ein weiterer Schwach­punkt war, dass ihnen lediglich empirische Daten zugrunde gelegt wurden. Ex­perten­wis­sen wurde nicht ausreichend berücksichtigt. Hinzu kam, dass die Ve­r­ant­wortlichen ihr Unternehmen oft in einem insgesamt zu op­ti­mistis­chen Umfeld be­tra­chteten.

„Vor dem Hintergrund der Schwere und Länge der Finanzkrise wurden von den Banken und Auf­sichts­behörden auch Stresstests kritisch hinterfragt.“

Daraus lassen sich folgende Lehren ziehen: Die Geschäftsführung sollte Stresstests zu einem integralen Bestandteil des Un­ternehmens machen und die Umsetzung überwachen. Alle Annahmen müssen transparent sein. Ver­schiedene Modelle sind durchzus­pie­len, mehrere Blickwinkel zu betrachten. Experten und IT müssen eingebunden werden.

An­forderun­gen an Stresstests für Ver­sicherun­gen

In den Jahren 2000–2010 gerieten die Kapitalmärkte ständig in Turbulenzen. Aufgrund der hohen Volatilitäten wurden auch in Ver­sicherun­gen vermehrt Stresstests durchgeführt. Gleichwohl gewannen die Tests dort nicht die Bedeutung, die sie bei den Banken haben, denn die Komplexität ist bei den Ver­sicherun­gen weitaus größer. So umfasst deren Risiko allerlei zusätzliche Aspekte, angefangen von gut prog­nos­tizier­baren Lan­glebigkeit­srisiken in der Lebensver­sicherung bis hin zu schwer kalkulier­baren Naturkatas­tro­phen wie Erdbeben, Hurrikans oder Überschwem­mungen in den Sachver­sicherun­gen. Die Auf­sichts­behörden verlangen von den Ver­sicherun­gen zwei Formen der Überwachung: Zum einen sind Stresstests nach den Szenar­i­ovor­gaben der Auf­sichts­behörde durchzus­pie­len. Zum anderen müssen die Unternehmen interne Beobach­tungsmod­elle entwickeln; hier können die Ver­sicherun­gen ihre eigenen Szenarien bestimmen.

Modell der Ver­sicherung als Kollek­tivpro­dukt

Bei kap­i­tal­bilden­den Lebensver­sicherun­gen zahlt der Ver­sicherungsnehmer in der Regel monatlich einen festen Beitrag. Die Laufzeit, beispiel­sweise 30 Jahre, wird vorab festgelegt. Im Erlebens- oder Todesfall erfolgt eine Leistung. Rech­nungs­grund­la­gen sind die Sterbetafel und der garantierte Rech­nungszins. Alle Beiträge werden entsprechend dem vorab bestimmten Rech­nungszins verzinst. Die Ver­sicherung muss diesen Rech­nungszins vorsichtig taxieren, schließlich wird er von ihr auf Jahrzehnte hinaus garantiert. In Deutschland muss die Bun­de­sanstalt für Fi­nanz­di­en­stleis­tungsauf­sicht (BaFin) diesen Zinssatz genehmigen; er darf 60 % des Durch­schnitts zehnjähriger Staat­san­lei­hen nicht übersteigen. Der wesentliche Unterschied zu Bankpro­duk­ten macht die ungewisse Lebenser­wartung der Kunden aus. Ferner zahlt die Gemein­schaft der Ver­sicherten, also das Kollektiv, während bei der Bank jeder einzelne Sparer auf sich gestellt ist. Ein anhaltendes Problem in der Branche ist die unterschätzte Lebenser­wartung.

„Ein sehr wichtiger Punkt beim Reporting der Ergebnisse ist das Einführen einer Grenze, die der potenzielle Verlust nach Möglichkeit nicht überschre­iten darf.“

Ende 2012 tritt die von der Europäischen Union ve­r­ab­schiedete Richtlinie Solvency II in Kraft. Die Umsetzung findet ähnlich wie bei Basel II in einem dreistu­fi­gen Prozess statt. Ziel ist, dass die Ver­sicherun­gen ihre Eigenkap­i­ta­lan­forderun­gen angemessen ermitteln. Hierunter fällt in erster Linie die richtige Bewertung der Aktiva und Passiva in der Bilanz. Grundsätzlich sollen die Unternehmen ihre Risikokul­tur stärken.

Entwicklung von Stresstests

Es gibt risikoarten­spez­i­fis­che und risikoartenübergreifende Stresstests. Erstere beschränken sich auf eine Risikoart, etwa makroökonomische Risiken (Zinsen), Kred­itrisiken (Änderung des Konkursrechts) und finanzielle Risiken (Mark­tvolatilität). Letztere umfassen im Idealfall alle relevanten Risiken eines Un­ternehmens. Um jedes re­al­is­tis­che Szenario iden­ti­fizieren zu können, ist zunächst eine um­fan­gre­iche Quel­lenar­beit nötig – schließlich wollen Sie keine gefährliche Situation übersehen. Binden Sie alle wichtigen internen Risikoein­heiten in den Prozess der Iden­ti­fizierung von Szenarien ein – eine fort­dauernde Aufgabe, die niemals endet. Außerdem müssen Sie die Zusammenhänge der Risiken erkennen und die Größenordnungen ihrer Auswirkun­gen beziffern. Hierbei sind folgende Methoden möglich: Ad-hoc- oder Expertenschätzung, historische Erfahrungen, Sensitivitäten aus Makro­fak­torzeitrei­hen und die Mod­i­fika­tion bestehender Modelle. In einem weiteren Schritt sind Maßnahmen im Betrieb zu treffen, um die iden­ti­fizierten Risiken zu vermeiden. Das Leitbild und die Un­ternehmen­sphiloso­phie sollten den Mi­tar­beit­ern eine Risikokul­tur vermitteln, d. h. die Mitarbeiter sollten die Risiken stets im Auge behalten. Interne On­linepor­tale können hierbei hilfreich sein. Klare Strukturen mit definierten Ve­r­ant­wortlichkeiten und Prozessen sind ratsam. Schaffen Sie eine Geschäftseinheit „Stresstests“.

Entwicklung von Szenarien

Für Stresstests müssen Sie plausible und relevante Szenarien finden. Eine besondere Her­aus­forderung ist es, bei der Auswahl der Szenarien die Vorgaben der Auf­sichts­gremien wie des Commitee of European Banking Supervisors zu befolgen. Es sind hy­po­thetis­che, historische und inverse Stresstests mit entsprechen­den Szenarien denkbar.

  • Bei den hy­po­thetis­chen Szenarien verändern Sie bestimmte Risiko­fak­toren, um zu erkennen, was passiert, wenn sich Mark­t­pa­ra­me­ter ändern. Sie wollen ins­beson­dere feststellen, wo hohe Ver­lust­ge­fahren drohen und wo Ihr Geschäft besonders sensitiv reagiert. Eine Schwach­stelle der hy­po­thetis­chen Betrachtung besteht darin, dass Sie ihr möglicher­weise nicht die richtigen Ko­r­re­la­tio­nen zugrunde legen und so ein falsches Bild erzeugen. Ein Vorteil ist, dass Sie etwa für Pro­duk­tin­no­va­tio­nen oder illiquide Wertpapiere prüfen können, was im Ernstfall passieren könnte.
  • Bei den his­torischen Stressszenar­ien können Sie Schlussfol­gerun­gen aus der Ver­gan­gen­heit auf die Gegenwart übertragen. Beispiele sind Ak­tien­crashs, Währungsab­w­er­tun­gen, Ter­ro­ran­schläge oder Staatskrisen. Hohe Glaubwürdigkeit und einfache Verständlichkeit sind die Vorzüge dieser Methode. Es stellt sich allerdings die Frage, ob sich historische Vorfälle in der gleichen Form wiederholen.
  • Bei inversen Stresstests schließlich gehen Sie genau auf jene Mark­tkon­stel­la­tio­nen ein, von denen Sie wissen, dass Ihr Portfolio empfindlich reagiert.

Stresstests für das Kred­itrisiko

Das größte Risiko für eine Bank ist das Kred­itrisiko. Hierunter fallen das bilanzielle Kred­itrisiko, sprich: der Ausfall des Kred­it­nehmers, und das Kon­tra­hen­ten­risiko, worunter der Ausfall des Kon­tra­hen­ten und damit der Verlust eines Derivats zu verstehen ist. Das Kon­tra­hen­ten­risiko geriet etwa beim Niedergang der New Yorker In­vest­ment­bank Bear Stearns im Frühjahr 2008 ins Blickfeld. Zur Ermittlung des möglichen Ausfalls eines Kunden wird die Aus­fall­wahrschein­lichkeit berechnet, das heißt die Wahrschein­lichkeit, mit der ein Kunde binnen eines Jahres seinen Kredit nicht mehr zurückzahlen kann. Ver­schiedene Rat­ingver­fahren kommen dabei zur Anwendung. Diese vergleichen die Bonität der Kred­it­nehmer und weisen jedem Kunden eine Aus­fall­wahrschein­lichkeit für die nächste Periode zu.

Stresstests für das Liquiditäts­man­age­ment

Seit der weltweiten Wirtschaft­skrise wird dem Liquiditäts­man­age­ment größte Aufmerk­samkeit geschenkt. Nicht ohne Grund wird die Krise auch als Liquiditätskrise bezeichnet. Wer die Liquidität im Rahmen eines Stresstests unter die Lupe nimmt, muss extreme Situationen untersuchen, und hier sind historische Daten nicht unbedingt aussagekräftig. Für die Bank geht es darum, nicht nur kurzfristig alle Zahlungsansprüche erfüllen zu können, sondern auch langfristig in der Lage zu sein, sich genügend Re­fi­nanzierungsmit­tel beschaffen zu können. Ein Problem der Szenar­io­analy­sen und Stresstests ist jedoch, dass sie sich häufig lediglich mit der kurzfristi­gen Liquidität beschäftigen. Um langfristig gut mit Liquidität aus­ges­tat­tet zu sein, sind bilanzielle Maßnahmen notwendig.

Op­er­a­tionelle Risiken mit Stresstests aufspüren

Für die klassischen Risikoarten Kredit-, Markt- und Liquiditätsrisiko sind Stresstests seit vielen Jahren Usus. Bei der Überwachung op­er­a­tioneller Risiken ist das jedoch nicht der Fall; diese Risiken begannen die Banken erst sys­tem­a­tisch mit den Entschei­dun­gen von Basel II und der daraus abgeleit­eten Solvabilitätsverord­nung von 2006 ins Blickfeld zu nehmen. Weil es sich um eine noch junge Methode handelt, haben sich bislang keine Standards bei der Überwachung her­aus­ge­bildet. Zum Einsatz kommen Sensitivitäts- und Szenar­io­analy­sen. Im Kern geht es bei der op­er­a­tionellen Risikokon­trolle darum, die Solvabilität (Eigen­mit­te­lausstat­tung) der Bank selbst im Extremfall sicherzustellen. Um den Vorgaben der BaFin gerecht zu werden, müssen Sie bei der Ermittlung der Eigenkap­i­ta­lan­forderun­gen Folgendes beachten:

  • Berücksichtigen Sie potenziell schw­er­wiegende Verluste.
  • Beziehen Sie sowohl erwartete als auch unerwartete Verluste ein.
  • Addieren Sie die geschätzten op­er­a­tionellen Risiken.
  • Achten Sie beim Risikomesssys­tem auf eine de­tail­lierte Darstellung, um nicht Gefahr zu laufen, op­er­a­tionelle Risiken zu übersehen.
„Die Ver­gan­gen­heit hat gezeigt, dass ein gutes Stresstest­ing ein wichtiger und wesentlicher Beitrag im Rahmen des Risiko­man­age­ments sein muss und im Sinne einer modernen Banks­teuerung strategisch verankert sein sollte.“

Pflicht bei der Umsetzung ist die Ein­beziehung interner Daten, also eine Ver­lust­daten­samm­lung, die drei bis fünf Jahre zurückreichen muss. Ebenfalls sind externe Daten einzubeziehen, die potenziell gefährliche Verluste aufzeigen.

Über die Autoren

Walter Gruber ist geschäftsführender Partner der 1 Plus i GmbH. Zuvor arbeitete er für eine In­vest­ment­bank und war Direktor in der Banke­nauf­sicht bei der Deutschen Bundesbank. Marcus R. W. Martin ist Professor für Fi­nanz­math­e­matik, Statistik und Stochastik an der Hochschule Darmstadt. Carsten S. Wehn leitet bei der DekaBank in Frankfurt die Einheit Mark­trisiko-Con­trol­ling. Die drei Herausgeber haben für dieses Buch eine Vielzahl von Experten um Beiträge gebeten.