Man kennt sich (nicht), man hilft sich
Welcher Kunde mag heute sein Geld Banken anvertrauen, die übertriebene Risiken eingehen und später nur dank Staatshilfe überleben? Am 15. September 2007 kam es in England zum ersten „Bank-Run“ (einem massiven, kurzfristigen Abzug von Kundengeldern) seit mehr als einem Jahrhundert – die Bank Northern Rock geriet in die Krise und musste von der britischen Notenbank gerettet werden. Gerade die Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit haben gezeigt, dass Finanzgeschäfte jenseits der herkömmlichen Bankentätigkeit an Bedeutung gewinnen. So helfen bei so genannten Peer-to-Peer-Geschäften natürliche Personen mit einem Liquiditätsüberschuss anderen, die auf der Suche nach einem Kredit sind. Die steigende Nutzerzahl des Social Lending bekommt Vorschub durch die neuen Möglichkeiten des Internets: Zwar gab es in der Geschichte schon immer Transfers nach dem Motto „Man kennt sich, man hilft sich“. Auf die neuen Kommunikationsformen des Web 2.0 umgemünzt müsste es eher heißen: Man kennt sich nicht, aber das macht nichts.
„Gruppenzugehörigkeit kann helfen, einen Kredit zu bekommen, da beispielsweise ein Autoliebhaber eher bereit sein wird, ein Oldtimer-Restaurationsprojekt zu finanzieren als ein sonstiges Projekt.“
Der eigentlich uralte Community-Gedanke wurde im letzten Jahrhundert durch das Aufkommen staatlicher Hilfsprogramme verdrängt. Die kollektive Selbsthilfe als Organisationsform überlebte trotzdem, wenn auch nur im Schatten. Erst das Internet institutionalisierte das Social Lending. Es funktioniert sehr einfach: Kreditnehmer und -geber registrieren sich auf einer der verfügbaren Plattformen, die Angaben zu einem Kreditgesuch werden validiert (etwa durch Vorlage bestimmter Dokumente des Kreditsuchenden), und fertig ist das Prozedere. Fortan geht es nur noch darum, im Rahmen einer Art Auktion die Kreditzinsen zwischen Kreditgebern und -nehmern auszupendeln. In sozialen Netzwerken kennen sich die Beteiligten häufig aus dem realen Leben – bei interessenbasierten Communitys werden sie erst durch die Mitgliedschaft miteinander bekannt. Und selbst das bleibt in aller Regel rein virtuell.
Der P2P-Kreditprozess
Dass ein solcher Peer-to-Peer-Service verfügbar ist, heißt nicht automatisch, dass Kunden ihn auch nutzen. Nicht zuletzt fehlt die persönliche Beratung komplett: Der Kreditgeber muss über die Vertrauenswürdigkeit des Antragstellers auf Basis der wenigen vorhandenen Informationen – die der Kreditsuchende selbst geliefert hat – entscheiden. Ein rational handelnder Anleger auf der Suche nach einer höheren Rendite gegenüber den spärlichen Sparbuchzinsen sollte genau abwägen, ob dieser Weg auch das höhere Risiko Wert ist. Hier hilft ihm die Community: Mitglieder leihen sich nicht nur gegenseitig Geld, sondern versorgen sich auch mit Informationen – der persönliche Berater wird quasi ersetzt durch die Community-Meinung. Dubiose Kreditsuchende erhalten kaum eine zweite Chance. Man unterscheidet die folgenden vier Phasen:
- Informationsphase: Anleger vergleichen die vorliegenden Kreditgesuche auf Basis der gebotenen Zinssätze, Bonitätsklassen usw.; Leistungsbezieher informieren sich ihrerseits über die Bedingungen, Angebote und Leistungsanbieter.
- Vereinbarungsphase: Bei den meisten Social-Lending-Plattformen wird der Zinssatz im Zuge einer umgekehrten Auktion versteigert: Der Kreditsuchende definiert einen maximalen Zinssatz, Kreditgebende können diesen dann unterbieten. Die Vergabe ist bindend, die beiden Parteien nehmen anschließend Kontakt auf.
- Abwicklungsphase: Leistung und Gegenleistung werden erbracht, in diesem Fall die Überweisung der Darlehenssumme sowie später die Amortisation und die Zinszahlungen.
- After-Sales-Phase: Diese Phase beinhaltet meist Routinen zur Konfliktbehebung und nötigenfalls – bei Ausfällen – auch zu Entschädigungszahlungen aus einem Ausgleichspool.
Marktübersicht
Seit der Gründung im Jahr 2007 ist Smava in Deutschland Marktführer und hat seither Kredite von rund 15 Millionen Euro (Stand Herbst 2009) vermittelt. Smava arbeitet mit einem Ausgleichspool, in den prozentuale Risikoaufschläge je nach Risikoklasse der Kredite einfließen. So wird verhindert, dass einzelne Kreditgebende einen Totalverlust ihres eingesetzten Kapitals erleiden. Abhängig von der Bonität des Leistungsnehmers und der Laufzeit des Kredits variiert der Risikozuschlag zwischen 0,4 und 9 %.
„Ein Kritikpunkt sind die fehlenden Informationen bezüglich der zu erwartenden Renditen sowie der Ausfallraten der jeweiligen Bonitätsklassen. Ohne diese grundlegenden Daten ähnelt die Kreditvergabe mehr einem Glücksspiel denn einer seriösen Investition.“
Zopa gilt als Pionier des Social Lending. Die Plattform ging 2005 in Großbritannien online. Anders als bei Smava verteilen sich Investitionen automatisch über verschiedene Kreditnehmer – der Anleger muss die Gesuche also nicht selbstständig prüfen. Der Kreditgeber legt lediglich Betrag, geforderte Rendite und Risikoklasse fest; der Kreditsuchende tut es umgekehrt. Anschließend bildet sich eine potenzielle Schnittmenge.
„Community-Unterstützung ist ein zentraler Aspekt von Social-Lending-Plattformen.“
Noch weiter entwickelt ist Social Lending in den USA: Virginmoney und Prosper haben schon Darlehen im Umfang von mehr als einer halben Milliarde US-Dollar vermittelt. Darüber hinaus existieren zielgruppenspezifische Modelle beispielsweise für Studentenkredite (GreenNote, Fynanz), Firmeninvestitionen (Valuna) oder Mikrokredite, die sich Finanzierungen in Entwicklungsländern widmen (DhanaX, Microplace, MyC4, Kiva).
Risiken und Nebenwirkungen
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – heißt es. Wie aber sich und sein Geld bei Social Lending schützen? Eine rechtliche Basis ist nur dann zuverlässig, wenn sie bei Vertragsbrüchen gesetzlich verankert und durchsetzbar und auch ökonomisch sinnvoll ist. Der Kreditgeber ist auf Social-Lending-Plattformen mehreren Risiken ausgesetzt:
- Opportunismus: Der Vertragspartner kann das Abkommen einseitig zu seinen Gunsten auslegen und in Kauf nehmen, dass der Gegenpartei (dem Investor) Mehrkosten entstehen.
- Begrenzte Rationalität: Der Vertragspartner kann den Erfolg einer Transaktion durch unvorhergesehene (da nicht rationale) Handlungen gefährden.
- Unsicherheit: Der Plattformanbieter kann Konkurs machen und seine Dienstleistungen einstellen – vor allem dem Kreditgeber wäre dadurch geschadet.
„Für eine funktionierende Zusammenarbeit ist Vertrauen die Basis. Andernfalls beginnt man Sicherheitsvorkehrungen aufzubauen, um sich vor opportunistischem Verhalten zu schützen.“
Die beteiligten Akteure haben bei ihren Entscheidungen nicht nur die aktuelle, sondern auch mögliche zukünftige Interaktionen zu berücksichtigen. Langfristige Nutzenoptimierung statt kurzfristiger Vorteilsnahme heißt die Devise. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Risikoverteilung beim Social Lending streng asymmetrisch ist: Der Kreditnehmer trägt praktisch keinerlei Risiken, insbesondere nicht gegenüber dem Kreditgeber. Die Plattform wiederum befindet sich ihm gegenüber im Informationsvorteil, schließlich muss der Kreditsuchende eine Reihe sensibler Daten übermitteln. Weitaus größeren Risiken setzt sich der Kreditgeber aus: gegenüber dem Leistungsempfänger, der Plattform (Datenmissbrauch, Systemrisiko) und in geringerem Umfang auch gegenüber dem Markt (Zinsrisiko).
Die Optik macht’s
Einem interessierten Investor die Sorge vor diesen Risiken zu nehmen, darin liegt eine der Hauptaufgaben der Social-Lending-Plattform. Größte Pluspunkte sind deshalb Glaubwürdigkeit und Reputation. Einer Studie zufolge kann allein schon das optische Design einer Website ein entscheidendes Kriterium bei der Vermittlung von Glaubwürdigkeit sein, speziell bei Finanzdienstleistern. Die Gestaltung der „Verpackung“ bietet eine der wenigen Möglichkeiten, Rückschlüsse auf den Inhalt zu ziehen. Anders als physische Finanzdienstleister haben Social-Lending-Plattformen auch gar keine andere Möglichkeit, als Qualität, Reputation und Glaubwürdigkeit über die Gestaltung ihrer Website zu signalisieren.
„Akteure berücksichtigen auch eventuelle zukünftige Interaktionen und orientieren sich somit stärker an einer langfristigen Nutzenoptimierung als an kurzfristig gerichteten Handlungen.“
Nutzer scheint auch zu interessieren, was die Motive des Plattformanbieters sind, beispielsweise ob diese ethisch korrekt sind oder ob es sich gar um eine gemeinnützige Organisation handelt. Reputation als Vertrauen bildendes Element ist nicht nur für die Plattform wichtig. Beim Social Lending strahlt der Reputationsmissbrauch eines obskuren Leistungsempfängers letztlich auch auf den Plattformanbieter aus.
„Grundsätzlich besteht das Problem, dass die zu vertrauende Person – der Kreditnehmer – häufig nur einmal ein Kreditgesuch stellt.“
Als Hemmnis hat sich die Angst vor Datenmissbrauch herausgestellt. Bei Finanzdienstleistern werden besonders sensible Daten benötigt und vorgehalten. Ausspähversuche etwa mittels „Phishing“ werden immer häufiger. Anonymisierung und Pseudonymität sollen vertrauliche Informationen schützen. Beim Social Lending jedoch ist das problematisch: Während der Geldnehmer verständlicherweise so wenig wie möglich über sich preisgeben möchte, stellt sich die Situation aus Sicht des Geldgebers genau umgekehrt dar.
Reputation: ein kostbares Gut
Das Ansehen einer Person oder Organisation ist die Summe vergangenen Verhaltens und zukünftiger Ambitionen und kann im Fall einer Informationsasymmetrie helfen, das zukünftige Verhalten abzuschätzen. Reputation muss langwierig aufgebaut werden, kann aber rasch ruiniert werden. Es gibt mehrere Möglichkeiten der Bewertung:
- Konsumentenrating: Konsumenten begutachten Produkte und Dienstleistungen und bewerten diese (z. B. Amazon, eBay).
- Expertenrating: Hierbei bewerten Experten die Qualität, nicht jedermann hat Zugang.
- Informelle Reputation: Eine Person verleiht einer anderen Reputation, quasi als eine Art Bürge. Eine schlechte Wahl hätte auch Auswirkungen auf den Bürgenden.
- Reputation durch Markennamen: Hersteller bürgen mit ihrem Namen für die Qualität. Markennamen sind daher rechtlich geschützt.
„Aufgrund der Anonymität des Kreditnehmers gegenüber dem Anleger hat dieser nur eine beschränkte Möglichkeit zur Sanktionierung.“
Reputationsaufbau kann quantitativ oder qualitativ erfolgen:
- Ranking: Rangfolgesysteme basieren auf quantitativen Maßeinheiten über das Anwenderverhalten. Diese Art des Reputationsaufbaus ist sehr zielorientiert und führt dazu, dass Nutzer viele Beiträge (unterschiedlicher Qualität) liefern, um einen hohen Rankingwert zu erhalten.
- Rating: Diese Form wird häufig mit der Begründung des jeweiligen Urteils verknüpft. Die Güte und nicht die Menge gibt den Ausschlag. Das wohl bekannteste Ratingsystem dieser Art bietet die Auktionsplattform eBay. Das eBay-System ist allerdings darauf angelegt, Anwender von der Abgabe einer negativen Bewertung abzuhalten, was seinen Aussagewert schmälert.
Unlösbare Aufgabenstellung
Ein grundsätzliches Problem beim Social Lending bleibt der Umstand, dass der Antragsteller, dem man vertrauen sollte, in aller Regel nur ein einziges Mal ein Kreditgesuch stellt. Kommt es zu einem reputationsschmälernden „Zwischenfall“, kann sich der Leistungsempfänger beim nächsten Mal ohne Weiteres bei einer anderen Plattform registrieren. Der Kreditgeber sollte durch Risikostreuung und -übertragung geschützt werden. Dazu zählen z. B. Versicherungsdienstleistungen oder plattformspezifische Ausgleichsfonds (wie etwa bei Smava). Anleger müssen mit den bereitgestellten Informationen so gut es geht auskommen und sich auf die Sanktionierungsmaßnahmen durch den Plattformanbieter verlassen. Welches Modell diese Schutzmechanismen am glaubwürdigsten umsetzt, wird die Zukunft zeigen.