Wirtschaftswunder Schweiz

Buch Wirtschaftswunder Schweiz

Ursprung und Zukunft eines Erfolgsmodells

NZZ Libro,


Rezension

Dass die einen reich und die anderen arm sind, darüber reden sich viele die Köpfe heiß. Die Schweizer haben eine vernünftige Lösung gefunden: Hier ist man nicht reich oder arm, sondern einfach mehr oder weniger wohlhabend. Wer an weiteren Erklärungsver­suchen für den Wohlstand und den sozialen Frieden in der Schweiz in­ter­essiert ist, ist mit diesem so umfang- wie de­tail­re­ichen Buch gut bedient. Die Er­fol­gs­formel ist den Autoren zufolge eine Kombination aus freiem Un­ternehmer­tum, tendenziell egalitärer Einkom­mensverteilung und politischer Neutralität; diese Faktoren werden haarklein analysiert und mit spannenden Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen aufbereitet. Im Vergleich dazu werden die Ursachen von Krisen zwar etwas weniger gründlich beleuchtet, aber immerhin nicht unter den Teppich gekehrt. BooksInShort empfiehlt dieses Buch allen, die einen Blick hinter die schöne Alpenkulisse riskieren wollen.

Take-aways

  • Die Schweiz hat in den letzten 200 Jahren einen be­merkenswerten wirtschaftlichen Aufschwung genommen.
  • Einkommen, Verteilungs­gerechtigkeit, Wirtschaft­skraft, Patente: Bei vielen Indikatoren liegt die Schweiz in­ter­na­tional vorn.
  • Die Rohstof­far­mut der Schweiz ist nicht Fluch, sondern Segen: Sie zwingt zu besonderen Anstren­gun­gen.
  • Die Reformation unter Calvin prägte die schweiz­erische Un­ternehmer­men­talität.
  • Die Schweiz zog Flüchtlinge und Einwanderer an, darunter viele Firmengründer.
  • Die Vielfalt in der Bevölkerung sorgt für gesellschaftliche Offenheit und erleichtert die weltweiten Geschäfte.
  • Die Neutralität des Landes erlaubt op­por­tunis­tis­ches Verhalten, etwa die Lieferung an Kon­flik­t­parteien – auch bei heiklen Geschäften.
  • Das Bankge­heim­nis war dazu gedacht, die Bürger vor allzu gierigem Zugriff des eigenen Staates und des Auslands schützen.
  • Ein Er­fol­gsrezept der Gesellschaft besteht in der einmaligen Balance aus in­di­vidu­eller Selb­stver­ant­wor­tung und genossen­schaftlicher Solidarität der Bürger.
  • Das Modell Schweiz eignet sich nicht als Kopier­vor­lage für andere Länder, sehr wohl aber als Anregung.
 

Zusammenfassung

Die Schweiz – ein Wirtschaftswun­der?

Mit dem Begriff „Wirtschaftswun­der“ wird meistens Deutschland assoziiert. Aber auch die Schweiz könnte man mit diesem Attribut belegen. In den vergangenen 200 Jahren hat das Land nämlich einen beein­druck­enden ökonomischen Aufstieg erlebt. Im Mittelalter war die Ei­dgenossen­schaft noch das Armenhaus Europas. Man exportierte vor allem Lan­de­skinder: als Söldner. Heute zählen die Einwohner der Schweiz zu den wohlhabend­sten der Welt. Lag das Pro-Kopf-Einkom­men der Schweizer 1970 im Vergleich mit Deutschland, Frankreich, Japan und den USA noch im Mittelfeld, kletterte es bis 2010 an die Spitze. Das Land kam gut durch die Finanz- und Wirtschaft­skrise, die im Jahr 2007 begann: Die Schweiz musste nur 8 % des Brut­toin­land­spro­dukts (BIP) aufwenden, um einen Zusam­men­bruch zu verhindern – viel weniger als der Durch­schnitt der reichen Länder, der bei 35 % des BIP lag. Die staatliche Schulden­quote rangiert deutlich unter der der Vergleichsländer, obwohl die Schweiz ziemlich viel für Bildung, Gesundheit und Soziales ausgibt. Bei der Verteilung der Einkommen ist der Staat relativ egalitär. Die Gehälter von Top- und Nor­malver­di­enern liegen nicht so weit auseinander wie in anderen Ländern. Der Anteil der Ar­beit­seinkom­men hat seit 1980 sogar zugenommen, während in den Euroländern und den USA der Anteil der Kap­i­taleinkom­men wuchs. Es gibt kein anderes In­dus­trieland, das pro Kopf so viele Großunternehmen und Patente her­vorge­bracht hat. So stark wie die Wirtschaft des Landes ist seine Währung: Gegenüber dem Franken haben sowohl US-Dollar und britisches Pfund als auch D-Mark und Euro seit 1860 stark an Wert verloren.

Unwirtlich, aber gast­fre­undlich

Ohne Meerzugang, rohstoffarm, wenige Anbauflächen: Von der Natur bekam die Schweiz ihren Erfolg nicht in die Wiege gelegt. Als ver­gle­ich­sweise abgelegenes, unzugängliches Gebiet lag die Schweiz aber zunächst nur selten im Fokus imperialer Interessen. Das Land war somit relativ frei, auch wenn der Preis dafür zunächst recht karge Lebensumstände waren. So hart errungen, hatte Wohlstand einen besonderen Wert – eine Einstellung, die durch die Reformation unter Johannes Calvin eine religiöse Recht­fer­ti­gung erfuhr. Er predigte seinen Anhängern, in Geschäftserfolgen die Gnade Gottes zu sehen, nicht das Verdienst der Gläubigen – woraufhin diese umso mehr nach beruflichem Erfolg strebten. Die hohe Sparquote und das lange Zeit bescheidene Gebaren reicher Schweizer sind demnach zwei Seiten der gleichen Medaille.

„Kein anderes Land dieser Welt ist gemessen an seiner Größe in so vielen un­ter­schiedlichen Branchen derart präsent.“

Kuren, Bergwandern, Skifahren: Die Schweiz hat ihre Landschaft früher als andere Nationen touristisch für europäische Er­hol­ungsreisende erschlossen. In Lausanne entstand 1893 die erste Hotelfach­schule der Welt. Cäsar Ritz prägte mit seinen Hotels die in­ter­na­tionale Gastronomie. Schweizer Wurzeln hat auch der Möven­pick-Konz­ern. 5 % der Ex­portein­nah­men des Landes stammen aus dem Tourismus. Land­wirtschaftlich war die Schweiz am ehesten für Viehwirtschaft nutzbar, vor allem für die Produktion von Milch und deren Halt­bar­ma­chung als Käse.

Eigen­ver­ant­wortlich unter Mitgenossen

Im Unterschied zu vielen anderen Ländern sind sprachliche Min­der­heiten in der Schweiz nicht deck­ungs­gle­ich mit religiösen oder wirtschaftlichen Min­der­heiten. Es gibt zahlreiche Überlap­pun­gen; fast jeder Schweizer gehört sowohl Mehrheiten als auch Min­der­heiten in seinem Land an. Das sorgt für eine gewisse Grund­tol­er­anz. Neid und Gle­ich­heit­side­ale sind relativ schwach ausgeprägt. Während die Schweizer Volksseele große Gesellschaft­sentwürfe ablehnt, assimiliert sie gut funk­tion­ierende Ideen wie ein Rosi­nen­picker. Ein gesellschaftliches Er­fol­gsrezept, das die Schweizer eint, ist die gelungene Balance zwischen persönlicher Ve­r­ant­wor­tung und kollektiver Solidarität. Politisch spiegelt sich diese Mentalität in den Elementen der direkten Demokratie und im subsidiären Staat­sauf­bau. Eine alles lenkende Staatsin­sti­tu­tion fehlt. Die Fi­nanzierung der gemein­schaftlichen Aufgaben ist seit Jahrhun­derten auf der untersten staatlichen Ebene angesiedelt. Dies bewirkt, dass sich die Schweizer mit ihrem eher als lokal wahrgenomme­nen Staat stärker iden­ti­fizieren als die Bürger der meisten anderer Länder. Außerdem dämpft diese Kon­struk­tion das Wachstum der Staat­saus­gaben.

Neutralität als Lehre der Geschichte

Wichtige in­ter­na­tionale Tran­sitrouten führen durch das zentral gelegene Land, in dem mehrere Lo­gis­tikkonz­erne residieren. Aufgrund ihrer Lage war die Schweiz in der Geschichte gele­gentlich Objekt der Interessen von Großmächten. Doch schafft das Land es seit Jahrhun­derten, sich aus in­ter­na­tionalen Konflikten her­auszuhal­ten. Die politische Neutralität erlaubt es, so genannte op­por­tunis­tis­che Arbitrage zu betreiben: Die Schweiz ist ein zuverlässiger Händler und Lieferant für Kon­flik­t­parteien, auch in Krisen­zeiten, und gerade auch für heikle Geschäfte. Ein Beispiel jüngerer Zeit für diese Ar­bi­tragegewinne ist der Rohstoffhan­del, für den politische Neutralität von Vorteil ist. Die Neutralität gehörte nicht von Anfang an zur Staatsräson. Vielmehr wurde die Geschichte der Schweiz einst von einer militärischen Innovation geprägt. Die „Gewalthaufen“ genannte Kriegs­for­ma­tion war die erste wirkungsvolle Waffe gegen gepanzerte Reiterei und damit gegen den Kampfver­band, der das Mittelalter prägte. Eine militärische Niederlage im Jahr 1515 gilt als Beginn der Schweizer Neutralitätspolitik. Die Stabilität gelang auch nach innen: Nur selten kam es zu sozialen oder religiösen Unruhen.

Keine geschlossene Gesellschaft

Die große Heterogenität der Bevölkerung, die in anderen Kle­in­staaten zu Konflikten führt, hat die Schweiz in einen Vorteil umgemünzt. Das Land erwies sich durch seine Neutralität als Anziehungspunkt für Flüchtlinge und Einwanderer – auch wenn diese nicht uneingeschränkt willkommen geheißen wurden. Fast ein Drittel aller Gründer in der Schweiz hat ausländische oder binationale Wurzeln. Heinrich Nestle kam aus Frankfurt am Main, Julius Maggi hatte ital­ienis­che Eltern, und die Uhrenin­dus­trie geht auf französische Hugenotten zurück. Auch Swatch-Begründer Nicolas Hayek war ein Zuwanderer. Ganze Konzerne verlegen den Hauptsitz in die Alpen­re­pub­lik, nicht nur aus steuer­lichen Gründen. Beispiele sind Tetra Pak oder Liebherr. Wegen der Beschränktheit des Heimat­mark­tes strebten Schweizer Unternehmen schon immer auch ins Ausland. Viele Führungskräfte sind bereit, sich auf fremde Gefilde einzulassen. Rund 10 % aller Schweizer leben heute anderswo. Die Volks­begehren zur Beschränkung der Zuwanderung sind Auswirkun­gen der früheren Schweizer Offenheit.

Eine Un­ternehmerge­sellschaft

Die Schweizer Geschäftswelt profitiert vom hohen Ar­beit­sethos der Beschäftigten und von einem guten Beruf­saus­bil­dungssys­tem. Fleiß und Genügsamkeit gelten zwar auch in anderen Kul­turkreisen als Tugend, in der Schweiz wird Un­ternehmer­tum jedoch explizit mit harter Arbeit in Verbindung gebracht. Ar­beit­nehmer und Arbeitgeber lösen In­ter­essenkon­flikte schon lange auf kooperative Weise, die Produktivitätsgewinne kommen beiden zugute. Insgesamt waren und sind die Rah­menbe­din­gun­gen wirtschaftlicher Tätigkeit in der Schweiz liberal – auch wenn einige Branchen wie die Banken und Ver­sicherun­gen lange Zeit stark reguliert oder abgesichert wurden. Für diese Liberalität sorgen auch die Volksab­stim­mungen; sie vermitteln zudem Bo­den­haf­tung. Pop­ulis­tis­che Begehren wie längere Ferien fanden hingegen keine Mehrheit. Die Gemein­deau­tonomie verringert den Spielraum des Staates und erweitert den der Unternehmer: Wer in einem Ort auf Granit beißt, ist im nächsten willkommen.

Gnome in Zürich

Der Anteil der Banken und Ver­sicherun­gen am BIP der Schweiz ist zwei- bis dreimal höher als in anderen Ländern Europas (außer Luxemburg). Allerdings ist dieser Beitrag mit geschätzten 10 bis maximal 18 % auch nicht so groß, wie viele glauben. 4 % der Beschäftigten arbeiten in der Fi­nanzbranche, für die einst der britische Pre­mier­min­is­ter Wilson den wenig schme­ichel­haften Begriff „die Gnomen von Zürich“ fand. Seinen Ursprung hat das Schweizer Bankwesen in Genf, wo ein Bischof 1387 als erster Kirchenfürst Europas die Geldleihe gegen Zins erlaubte. Das lockte nordi­tal­ienis­che Banker­fam­i­lien an. Reformator Calvin gestattete ebenfalls den Kreditzins.

Bankge­heim­nis gegen Steuerstaat

Das Bankge­heim­nis, 1935 in Kraft getreten und 2009 gelockert, war neben der starken Währung und der verlässlichen Politik ein weiterer Grund für den Zustrom ausländischen Kapitals zu den Schweizer Banken. Während in den 1930er Jahren die europäischen Staaten immer stärker auf Einkommen und Vermögen ihrer Bürger zugriffen, errichtete die Schweiz eine Schranke. Übrigens trachteten schon damals Spione nach Kun­den­lis­ten der Schweizer Banken. So debattierte das französische Parlament 1932 über die Steuer­hin­terziehung von 2000 französischen Kunden der Basler Handelsbank, deren Direktor man verhaftet hatte. Noch nach der Jahrtausendwende warb die Bank UBS in den USA um Steuerflüchtlinge. Ihre Kun­den­ber­ater nutzten Geheim­di­en­st­meth­o­den wie z. B. Com­put­er­pro­gramme, die sich auf Knopfdruck selbst löschen. Falls die Lockerung des Bankge­heimnisses zu einem Abzug von Privatvermögen aus der Schweiz führen würde, verlöre die Branche eine sehr lukrative, beinahe risikolose Ein­nah­me­quelle. Den meisten dieser Kunden genügt nämlich die Steuer­erspar­nis, während An­lagegewinne nicht in ihrem Fokus stehen. Die Schweiz hat heute die weltweit schärfsten Gesetze gegen Ter­ror­is­ten­fi­nanzierung und Geldwäsche.

Industrien: Textilien, Uhren, Maschinen, Pillen

Wie in anderen Industrieländern bildete auch in der Schweiz die Tex­til­pro­duk­tion den Keim für neue Branchen und für die In­dus­tri­al­isierung. Chemie, Pharma und Maschi­nen­bau haben heute Weltrang, während die Schweizer Tex­til­fab­rika­tion vernachlässigbar ist. Mehr als ein Drittel der Schweizer Güter­aus­fuhren gehen auf das Konto der Maschinen-, Metall- und Elek­troin­dus­trie, in der rund 330 000 Beschäftigte arbeiten, z. B. bei ABB oder Sulzer. Eine bedeutsame Nach­wuchss­chmiede ist die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich, die 1855 gegründet wurde. In einem Keller der ETH syn­thetisierte in den 30er Jahren ein zuge­wan­derter Un­ter­richt­sas­sis­tent Vitamin C. Auch LSD, DDT und Valium sind der Schweizer Forschung entsprungen. Die Uhrenin­dus­trie ist mit 600 Unternehmen noch immer die drit­twichtig­ste Branche. Sie wird heute von drei Konzernen dominiert, darunter die Swatch-Gruppe, deren Billiguhr aus Kunststoff in den 80ern die Antwort auf asiatische Quarzuhren war.

Das Er­fol­gsmod­ell muss sich anpassen

Das Modell der Schweiz, das auf Kleinheit und Vielfalt beruht, steht durch die vere­in­heitlichende, alles umfassende Glob­al­isierung vor neuen Her­aus­forderun­gen. Supra­na­tionale Reg­ulierun­gen, z. B. als Antwort auf den Klimawandel oder die Finanzkrise, schränken den Freiraum der Schweiz ein. Zudem steht die Schweiz vor de­mografisch bedingten Anpassungen, vor allem in den Sozial­sys­te­men. Sogar der hohe Wohlstand stellt eine Gefahr dar: Senkt doch die Aussicht auf Erbschaften die Neigung zu eigenem Un­ternehmer­tum. Die Tendenz, sich auf dem Erreichten auszuruhen, ließ sich in der Phar­main­dus­trie beobachten. Außerdem wurden Trends in der In­for­ma­tion­stech­nolo­gie nur zögerlich aufge­grif­fen. Hohe Löhne in der Fi­nanzbranche schmälern durch ihre Anziehungskraft auf Nachwuchskräfte die wis­senschaftlich-tech­nis­che Basis der Industrie. Die Zurschaustel­lung von Reichtum – gerade bei Managern mit horrenden Spitzengehältern – gefährdet den sozial­part­ner­schaftlichen Konsens und wider­spricht der religiös unterfütterten demon­stra­tiven Demut, die Vermögende in der Schweiz lange Zeit her­vorgekehrt haben. Von Antworten auf diese Probleme hängt es ab, ob das Er­fol­gsmod­ell Schweiz eine Fortsetzung findet. Als un­mit­tel­bares Vorbild für andere taugt das Land nicht. Sein Wert für die Welt besteht darin, zu zeigen, dass alternative staatliche und gesellschaftliche Or­gan­i­sa­tions­for­men möglich sind.

Über die Autoren

R. James Breiding arbeitete als Führungskraft u. a. für die Bank Julius Bär; heute gehört ihm die In­vest­ment­firma Naissance Capital in Zürich. Der Wirtschaft­sprüfer schrieb für The Economist Artikel über die Schweizer Wirtschaft. Gerhard Schwarz leitete die Wirtschaft­sredak­tion der Neuen Zürcher Zeitung und bekam den Lud­wig-Er­hard-Preis für Wirtschaft­spub­lizis­tik. Er ist Direktor des Thinktanks Avenir Suisse.