Die Schweiz – ein Wirtschaftswunder?
Mit dem Begriff „Wirtschaftswunder“ wird meistens Deutschland assoziiert. Aber auch die Schweiz könnte man mit diesem Attribut belegen. In den vergangenen 200 Jahren hat das Land nämlich einen beeindruckenden ökonomischen Aufstieg erlebt. Im Mittelalter war die Eidgenossenschaft noch das Armenhaus Europas. Man exportierte vor allem Landeskinder: als Söldner. Heute zählen die Einwohner der Schweiz zu den wohlhabendsten der Welt. Lag das Pro-Kopf-Einkommen der Schweizer 1970 im Vergleich mit Deutschland, Frankreich, Japan und den USA noch im Mittelfeld, kletterte es bis 2010 an die Spitze. Das Land kam gut durch die Finanz- und Wirtschaftskrise, die im Jahr 2007 begann: Die Schweiz musste nur 8 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufwenden, um einen Zusammenbruch zu verhindern – viel weniger als der Durchschnitt der reichen Länder, der bei 35 % des BIP lag. Die staatliche Schuldenquote rangiert deutlich unter der der Vergleichsländer, obwohl die Schweiz ziemlich viel für Bildung, Gesundheit und Soziales ausgibt. Bei der Verteilung der Einkommen ist der Staat relativ egalitär. Die Gehälter von Top- und Normalverdienern liegen nicht so weit auseinander wie in anderen Ländern. Der Anteil der Arbeitseinkommen hat seit 1980 sogar zugenommen, während in den Euroländern und den USA der Anteil der Kapitaleinkommen wuchs. Es gibt kein anderes Industrieland, das pro Kopf so viele Großunternehmen und Patente hervorgebracht hat. So stark wie die Wirtschaft des Landes ist seine Währung: Gegenüber dem Franken haben sowohl US-Dollar und britisches Pfund als auch D-Mark und Euro seit 1860 stark an Wert verloren.
Unwirtlich, aber gastfreundlich
Ohne Meerzugang, rohstoffarm, wenige Anbauflächen: Von der Natur bekam die Schweiz ihren Erfolg nicht in die Wiege gelegt. Als vergleichsweise abgelegenes, unzugängliches Gebiet lag die Schweiz aber zunächst nur selten im Fokus imperialer Interessen. Das Land war somit relativ frei, auch wenn der Preis dafür zunächst recht karge Lebensumstände waren. So hart errungen, hatte Wohlstand einen besonderen Wert – eine Einstellung, die durch die Reformation unter Johannes Calvin eine religiöse Rechtfertigung erfuhr. Er predigte seinen Anhängern, in Geschäftserfolgen die Gnade Gottes zu sehen, nicht das Verdienst der Gläubigen – woraufhin diese umso mehr nach beruflichem Erfolg strebten. Die hohe Sparquote und das lange Zeit bescheidene Gebaren reicher Schweizer sind demnach zwei Seiten der gleichen Medaille.
„Kein anderes Land dieser Welt ist gemessen an seiner Größe in so vielen unterschiedlichen Branchen derart präsent.“
Kuren, Bergwandern, Skifahren: Die Schweiz hat ihre Landschaft früher als andere Nationen touristisch für europäische Erholungsreisende erschlossen. In Lausanne entstand 1893 die erste Hotelfachschule der Welt. Cäsar Ritz prägte mit seinen Hotels die internationale Gastronomie. Schweizer Wurzeln hat auch der Mövenpick-Konzern. 5 % der Exporteinnahmen des Landes stammen aus dem Tourismus. Landwirtschaftlich war die Schweiz am ehesten für Viehwirtschaft nutzbar, vor allem für die Produktion von Milch und deren Haltbarmachung als Käse.
Eigenverantwortlich unter Mitgenossen
Im Unterschied zu vielen anderen Ländern sind sprachliche Minderheiten in der Schweiz nicht deckungsgleich mit religiösen oder wirtschaftlichen Minderheiten. Es gibt zahlreiche Überlappungen; fast jeder Schweizer gehört sowohl Mehrheiten als auch Minderheiten in seinem Land an. Das sorgt für eine gewisse Grundtoleranz. Neid und Gleichheitsideale sind relativ schwach ausgeprägt. Während die Schweizer Volksseele große Gesellschaftsentwürfe ablehnt, assimiliert sie gut funktionierende Ideen wie ein Rosinenpicker. Ein gesellschaftliches Erfolgsrezept, das die Schweizer eint, ist die gelungene Balance zwischen persönlicher Verantwortung und kollektiver Solidarität. Politisch spiegelt sich diese Mentalität in den Elementen der direkten Demokratie und im subsidiären Staatsaufbau. Eine alles lenkende Staatsinstitution fehlt. Die Finanzierung der gemeinschaftlichen Aufgaben ist seit Jahrhunderten auf der untersten staatlichen Ebene angesiedelt. Dies bewirkt, dass sich die Schweizer mit ihrem eher als lokal wahrgenommenen Staat stärker identifizieren als die Bürger der meisten anderer Länder. Außerdem dämpft diese Konstruktion das Wachstum der Staatsausgaben.
Neutralität als Lehre der Geschichte
Wichtige internationale Transitrouten führen durch das zentral gelegene Land, in dem mehrere Logistikkonzerne residieren. Aufgrund ihrer Lage war die Schweiz in der Geschichte gelegentlich Objekt der Interessen von Großmächten. Doch schafft das Land es seit Jahrhunderten, sich aus internationalen Konflikten herauszuhalten. Die politische Neutralität erlaubt es, so genannte opportunistische Arbitrage zu betreiben: Die Schweiz ist ein zuverlässiger Händler und Lieferant für Konfliktparteien, auch in Krisenzeiten, und gerade auch für heikle Geschäfte. Ein Beispiel jüngerer Zeit für diese Arbitragegewinne ist der Rohstoffhandel, für den politische Neutralität von Vorteil ist. Die Neutralität gehörte nicht von Anfang an zur Staatsräson. Vielmehr wurde die Geschichte der Schweiz einst von einer militärischen Innovation geprägt. Die „Gewalthaufen“ genannte Kriegsformation war die erste wirkungsvolle Waffe gegen gepanzerte Reiterei und damit gegen den Kampfverband, der das Mittelalter prägte. Eine militärische Niederlage im Jahr 1515 gilt als Beginn der Schweizer Neutralitätspolitik. Die Stabilität gelang auch nach innen: Nur selten kam es zu sozialen oder religiösen Unruhen.
Keine geschlossene Gesellschaft
Die große Heterogenität der Bevölkerung, die in anderen Kleinstaaten zu Konflikten führt, hat die Schweiz in einen Vorteil umgemünzt. Das Land erwies sich durch seine Neutralität als Anziehungspunkt für Flüchtlinge und Einwanderer – auch wenn diese nicht uneingeschränkt willkommen geheißen wurden. Fast ein Drittel aller Gründer in der Schweiz hat ausländische oder binationale Wurzeln. Heinrich Nestle kam aus Frankfurt am Main, Julius Maggi hatte italienische Eltern, und die Uhrenindustrie geht auf französische Hugenotten zurück. Auch Swatch-Begründer Nicolas Hayek war ein Zuwanderer. Ganze Konzerne verlegen den Hauptsitz in die Alpenrepublik, nicht nur aus steuerlichen Gründen. Beispiele sind Tetra Pak oder Liebherr. Wegen der Beschränktheit des Heimatmarktes strebten Schweizer Unternehmen schon immer auch ins Ausland. Viele Führungskräfte sind bereit, sich auf fremde Gefilde einzulassen. Rund 10 % aller Schweizer leben heute anderswo. Die Volksbegehren zur Beschränkung der Zuwanderung sind Auswirkungen der früheren Schweizer Offenheit.
Eine Unternehmergesellschaft
Die Schweizer Geschäftswelt profitiert vom hohen Arbeitsethos der Beschäftigten und von einem guten Berufsausbildungssystem. Fleiß und Genügsamkeit gelten zwar auch in anderen Kulturkreisen als Tugend, in der Schweiz wird Unternehmertum jedoch explizit mit harter Arbeit in Verbindung gebracht. Arbeitnehmer und Arbeitgeber lösen Interessenkonflikte schon lange auf kooperative Weise, die Produktivitätsgewinne kommen beiden zugute. Insgesamt waren und sind die Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Tätigkeit in der Schweiz liberal – auch wenn einige Branchen wie die Banken und Versicherungen lange Zeit stark reguliert oder abgesichert wurden. Für diese Liberalität sorgen auch die Volksabstimmungen; sie vermitteln zudem Bodenhaftung. Populistische Begehren wie längere Ferien fanden hingegen keine Mehrheit. Die Gemeindeautonomie verringert den Spielraum des Staates und erweitert den der Unternehmer: Wer in einem Ort auf Granit beißt, ist im nächsten willkommen.
Gnome in Zürich
Der Anteil der Banken und Versicherungen am BIP der Schweiz ist zwei- bis dreimal höher als in anderen Ländern Europas (außer Luxemburg). Allerdings ist dieser Beitrag mit geschätzten 10 bis maximal 18 % auch nicht so groß, wie viele glauben. 4 % der Beschäftigten arbeiten in der Finanzbranche, für die einst der britische Premierminister Wilson den wenig schmeichelhaften Begriff „die Gnomen von Zürich“ fand. Seinen Ursprung hat das Schweizer Bankwesen in Genf, wo ein Bischof 1387 als erster Kirchenfürst Europas die Geldleihe gegen Zins erlaubte. Das lockte norditalienische Bankerfamilien an. Reformator Calvin gestattete ebenfalls den Kreditzins.
Bankgeheimnis gegen Steuerstaat
Das Bankgeheimnis, 1935 in Kraft getreten und 2009 gelockert, war neben der starken Währung und der verlässlichen Politik ein weiterer Grund für den Zustrom ausländischen Kapitals zu den Schweizer Banken. Während in den 1930er Jahren die europäischen Staaten immer stärker auf Einkommen und Vermögen ihrer Bürger zugriffen, errichtete die Schweiz eine Schranke. Übrigens trachteten schon damals Spione nach Kundenlisten der Schweizer Banken. So debattierte das französische Parlament 1932 über die Steuerhinterziehung von 2000 französischen Kunden der Basler Handelsbank, deren Direktor man verhaftet hatte. Noch nach der Jahrtausendwende warb die Bank UBS in den USA um Steuerflüchtlinge. Ihre Kundenberater nutzten Geheimdienstmethoden wie z. B. Computerprogramme, die sich auf Knopfdruck selbst löschen. Falls die Lockerung des Bankgeheimnisses zu einem Abzug von Privatvermögen aus der Schweiz führen würde, verlöre die Branche eine sehr lukrative, beinahe risikolose Einnahmequelle. Den meisten dieser Kunden genügt nämlich die Steuerersparnis, während Anlagegewinne nicht in ihrem Fokus stehen. Die Schweiz hat heute die weltweit schärfsten Gesetze gegen Terroristenfinanzierung und Geldwäsche.
Industrien: Textilien, Uhren, Maschinen, Pillen
Wie in anderen Industrieländern bildete auch in der Schweiz die Textilproduktion den Keim für neue Branchen und für die Industrialisierung. Chemie, Pharma und Maschinenbau haben heute Weltrang, während die Schweizer Textilfabrikation vernachlässigbar ist. Mehr als ein Drittel der Schweizer Güterausfuhren gehen auf das Konto der Maschinen-, Metall- und Elektroindustrie, in der rund 330 000 Beschäftigte arbeiten, z. B. bei ABB oder Sulzer. Eine bedeutsame Nachwuchsschmiede ist die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich, die 1855 gegründet wurde. In einem Keller der ETH synthetisierte in den 30er Jahren ein zugewanderter Unterrichtsassistent Vitamin C. Auch LSD, DDT und Valium sind der Schweizer Forschung entsprungen. Die Uhrenindustrie ist mit 600 Unternehmen noch immer die drittwichtigste Branche. Sie wird heute von drei Konzernen dominiert, darunter die Swatch-Gruppe, deren Billiguhr aus Kunststoff in den 80ern die Antwort auf asiatische Quarzuhren war.
Das Erfolgsmodell muss sich anpassen
Das Modell der Schweiz, das auf Kleinheit und Vielfalt beruht, steht durch die vereinheitlichende, alles umfassende Globalisierung vor neuen Herausforderungen. Supranationale Regulierungen, z. B. als Antwort auf den Klimawandel oder die Finanzkrise, schränken den Freiraum der Schweiz ein. Zudem steht die Schweiz vor demografisch bedingten Anpassungen, vor allem in den Sozialsystemen. Sogar der hohe Wohlstand stellt eine Gefahr dar: Senkt doch die Aussicht auf Erbschaften die Neigung zu eigenem Unternehmertum. Die Tendenz, sich auf dem Erreichten auszuruhen, ließ sich in der Pharmaindustrie beobachten. Außerdem wurden Trends in der Informationstechnologie nur zögerlich aufgegriffen. Hohe Löhne in der Finanzbranche schmälern durch ihre Anziehungskraft auf Nachwuchskräfte die wissenschaftlich-technische Basis der Industrie. Die Zurschaustellung von Reichtum – gerade bei Managern mit horrenden Spitzengehältern – gefährdet den sozialpartnerschaftlichen Konsens und widerspricht der religiös unterfütterten demonstrativen Demut, die Vermögende in der Schweiz lange Zeit hervorgekehrt haben. Von Antworten auf diese Probleme hängt es ab, ob das Erfolgsmodell Schweiz eine Fortsetzung findet. Als unmittelbares Vorbild für andere taugt das Land nicht. Sein Wert für die Welt besteht darin, zu zeigen, dass alternative staatliche und gesellschaftliche Organisationsformen möglich sind.