Der irrationale Mensch
Menschen verhalten sich häufig irrational. Ein gutes Beispiel dafür ist die Prokrastination, das Aufschieben unangenehmer Aufgaben. Wir wissen, dass wir unbedingt die Steuererklärung erledigen oder den Garten in Ordnung bringen müssen, und langfristig hätten wir auch einen Vorteil davon. Doch dieses Wissen reicht nicht aus, uns zur Aufnahme der unangenehmen Tätigkeit zu motivieren. Lieber verzichten wir auf die Vorteile, als kurzfristig Nachteile in Kauf zu nehmen. Und so geht es uns mit vielen Dingen: Wir wissen, dass wir uns mehr bewegen oder eine Diät machen sollten, fangen aber nie damit an. Wir wissen, dass es gefährlich ist, eine SMS zu schreiben, während wir hinterm Steuer des Autos sitzen, und wir tun es trotzdem. Die Vorstellung vom Menschen als rational handelndem Wesen ist idealistisch. Das zeigt sich in unserem Alltag immer wieder, ob nun bei Autounfällen oder Börsencrashs. Weshalb handeln Menschen so oft unvernünftig, und was kann man dagegen tun?
Von Managern und Ratten
Vor rund 100 Jahren testeten Wissenschaftler, wie schnell Ratten lernen, wenn sie für Fehlverhalten bestraft werden. Sie setzten die Tiere in Labyrinthe, in denen bestimmte Bereiche farblich markiert waren. Wenn die Ratten diese Bereiche betraten, erhielten sie einen Stromschlag. Die Forscher gingen davon aus, dass die Ratten umso schneller lernen würden, je stärker die Stromstöße waren. Aber da lagen sie falsch. Bei Stromschlägen von mittlerer Stärke lernten die Tiere erwartungsgemäß schneller als bei leichten. Bei starken Schlägen dagegen waren sie vor Angst wie gelähmt und konnten ihre Aufgabe, auf dem sichersten Weg durch das Labyrinth zu kommen, nicht mehr lösen. Ähnlich verhält es sich, wenn Menschen als Leistungsanreiz hohe Geldsummen erhalten. In einer Studie wurden Teilnehmer für richtig gelöste Aufgaben mit Geld belohnt. Einer Gruppe wurde eine geringe Geldsumme, einer anderen etwas mehr, einer dritten sehr viel Geld versprochen. Hohe Belohnungen führten nur bei einfachen mechanischen Tätigkeiten zu mehr Leistung. Bei allen Aufgaben aber, die kognitive Fähigkeiten erforderten, entsprachen die Ergebnisse den bei den Versuchen mit Ratten gewonnenen: Bei den Teilnehmern, denen richtig viel Geld in Aussicht gestellt worden war, sank die Leistung rapide ab. Sie hatten so viel Angst, das Geld zu verlieren, dass ihnen nichts mehr gelang. Daran sollten wir denken, wenn es um die Bezahlung von Managern geht. Die hohen Bonuszahlungen, die als Leistungsanreize dienen sollen, sind vermutlich eher kontraproduktiv.
Der Sinn der Arbeit
Ökonomen gehen davon aus, dass Menschen mit möglichst wenig Aufwand eine möglichst hohe Belohnung erhalten wollen. Entsprechend sehen die gängigen Theorien Arbeit als notwendiges Übel an, das die Menschen schnell hinter sich bringen wollen und das man ihnen mit Belohnungen schmackhaft machen muss. Doch das entspricht nicht der Realität: Der Mensch identifiziert sich stark mit seiner Arbeit. Stellen Sie sich einmal vor, Sie haben wochenlang an einem wichtigen Projekt gearbeitet. Ihr Chef findet Ihre Arbeit gut und lobt Sie dafür, aber leider wird das Projekt dennoch abgeblasen, und alle Ihre Anstrengung war umsonst. Wie fühlen Sie sich? Sicher nicht besonders gut, obwohl Sie natürlich auch für diese Tätigkeit bezahlt werden. Wenn Sie dagegen wissen, dass Ihre Arbeit etwas bewirkt, werden Sie sich gerne anstrengen, weil sie Ihnen sinnvoll erscheint. Experimente haben gezeigt, dass die Arbeitsleistung der Probanden drastisch sank, wenn sie für ihre Tätigkeit keine Anerkennung bekamen oder gar zusehen mussten, wie das Ergebnis ihrer Arbeit vernichtet wurde. Arbeitsmotivation lässt sich nicht mit Geld erwerben. Menschen sind motiviert, wenn sie für ihre Arbeit Anerkennung erhalten und wenn sie einen Sinn darin sehen. Gemäß Studien haben sogar die meisten Tiere Freude daran, sich ihr Futter durch eine Anstrengung zu verdienen: Wenn man sie wählen lässt, ob sie das Futter direkt aus dem Napf fressen oder es sich per Tastendruck holen wollen, entscheiden sie sich überwiegend für Letzteres.
Fast selbstgemacht
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie ein Ikea-Möbelstück erfolgreich zusammengebaut haben? Vermutlich ziemlich gut. Sie haben das Teil zwar nicht selbst hergestellt, und besonders teuer war es auch nicht. Aber durch das Zusammenbauen entstand das gute Gefühl, etwas geleistet zu haben. Wenn man Studenten Origami-Figuren herstellen lässt, die sie anschließend selbst ersteigern können, sind sie bereit, einen relativ hohen Preis dafür zu zahlen, unabhängig davon, wie gut ihr Werk tatsächlich aussieht. Sie überschätzen den Wert ihrer eigenen Arbeit. Menschen sind stolz auf das, was sie selbst gemacht haben, und entwickeln zu ihren eigenen Werken eine besondere Bindung. Das gilt allerdings nur, wenn sie die Werke auch fertigstellen können. Wenn sie dagegen überfordert abbrechen müssen, ist ihnen das Ergebnis der Arbeit nichts wert. Auch wenn uns die gängigen Theorien etwas anderes nahelegen: Der Mensch ist dann am glücklichsten, wenn er selbst etwas schafft und sich am Ergebnis freuen kann – und nicht dann, wenn er faulenzen darf. Arbeit ist für uns eindeutig mehr als nur ein notwendiges Übel.
„Not invented here“
Das Phänomen, dass eigene Kreationen uns wertvoller erscheinen als andere, gilt übrigens auch für Ideen. Vielleicht kennen Sie die Situation: Sie machen einer Gruppe einen Vorschlag. Ihnen erscheint Ihre Idee vollkommen schlüssig, aber die anderen reagieren ablehnend. Warum? Weil sie nicht selbst auf die Idee gekommen sind. In den Wirtschaftswissenschaften heißt dieser Effekt „Not invented here“-Syndrom: Was nicht von uns stammt, kann nicht gut sein. Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen ihre eigenen Ideen deutlich positiver bewerten als diejenigen der anderen. Das gilt sogar dann, wenn man einen Beitrag nur aus vorgegebenen Formulierungen zusammenbaut, es sich also nüchtern betrachtet gar nicht um eine eigene geistige Leistung handelt. Nikola Tesla, ein Mitarbeiter von Thomas Alva Edison, favorisierte den Wechselstrom, weil er vielseitiger einsetzbar war als der Gleichstrom. Doch Edison hielt am Gleichstrom fest und startete sogar eine Kampagne gegen den Wechselstrom. Denn der war nicht seine Idee gewesen. Die Fixierung auf eigene Ideen kann gefährlich sein. Zum Beispiel für Unternehmen, die ihre eigenen Produkte selbstverständlich für die besten halten und die Konkurrenz nicht ernst nehmen. Menschen lassen sich übrigens leichter überzeugen, wenn man ihnen mit Suggestivfragen dabei hilft, selbst auf die Idee zu kommen.
Rache ist süß
Rache hat in unserer Gesellschaft kein hohes Ansehen, ist aber dennoch tief in uns Menschen verankert. Sie hat eine wichtige Funktion: Wenn man z. B. eine Missetat begehen will, aber weiß, dass man mit fürchterlicher Vergeltung rechnen muss, wird man es sich gut überlegen. Rache hilft somit, das menschliche Zusammenleben zu regeln. Menschen sind grundsätzlich bereit, anderen zu vertrauen, doch wenn dieses Vertrauen enttäuscht wird, entwickeln sie eine ausgeprägte Neigung zur Vergeltung, sogar dann, wenn sie selbst Nachteile davon haben. Interessanterweise zeigen in solchen Situationen diejenigen Gehirnareale eine erhöhte Aktivität, die auch für das Erleben von Belohnung zuständig sind – Rache ist mit angenehmen Gefühlen verbunden. In der Finanzkrise des Jahres 2008, als durch riskante Geschäfte der Banken Unsummen an privatem Vermögen vernichtet wurden, pumpten die Regierungen große Beträge in das System, um einen Zusammenbruch zu verhindern. Die Interventionen zeigten Wirkung, doch die Menschen waren unzufrieden. Sie wünschten sich eine empfindliche Strafe für die Banker, selbst wenn das für sie mit Nachteilen verbunden gewesen wäre. Auch enttäuschte Kunden neigen zu Racheakten. Sie behalten etwa irrtümlich zu viel gezahltes Wechselgeld oder machen ihre schlechten Erfahrungen im Internet öffentlich. Ein Effekt, den Unternehmen nicht unterschätzen sollten, denn er kann teuer werden. Meist hilft schon eine Entschuldigung, verärgerte Kunden wieder zu besänftigen.
Ewiges Glück?
Wenn Sie in eine neue Wohnung ziehen, finden Sie vielleicht den Holzfußboden wunderschön und die Küche ganz schrecklich. Mit der Zeit gewöhnen Sie sich an die Küche – aber leider ebenso an den Fußboden. Beide Räume rufen keine starken Gefühle mehr hervor. Menschen sind enorm anpassungsfähig, ganz gleich, was ihnen geschieht. Egal ob ihnen etwas Freude oder Schmerz bereitet, alle starken Gefühle lassen mit der Zeit nach. Das gilt sogar für tiefe Lebenseinschnitte: Man hat einerseits Lottogewinner, andererseits Menschen, die durch einen Unfall querschnittsgelähmt waren, ein Jahr nach dem einschneidenden Ereignis nach ihrer Zufriedenheit befragt. Es gab zwar Unterschiede im Glücksempfinden der Befragten, aber sie waren bei Weitem nicht so groß, wie man vermuten würde. Dieser Effekt wird als „hedonistische Anpassung“ bezeichnet und hat einen Sinn: Dadurch sind wir in der Lage, langfristig in den verschiedensten Lebensumständen zufrieden zu sein. Hier liegt auch der Grund, warum Besitz auf Dauer nicht glücklich macht: Was wir uns sehnlichst wünschen, verliert seinen Reiz, wenn wir es besitzen. Unterbrechungen hingegen verhindern die Anpassung: Das Angenehme bleibt länger angenehm, wenn wir es nicht immer haben. Unangenehmes sollten wir dagegen möglichst ohne Unterbrechung hinter uns bringen. Dann gewöhnen wir uns schneller daran, und es belastet uns weniger.
Handeln und Gewohnheit
Gefühle – egal ob gute oder schlechte – gehen meist rasch vorbei. Auch wenn wir uns über etwas sehr ärgern oder freuen, ist meist kurze Zeit später alles vergessen. Was allerdings von längerer Dauer sein kann, sind die Folgen dieser spontanen Gefühle: Wenn Sie z. B. in der Wut Ihren Chef anschreien, schaffen Sie Fakten, die Ihr Leben dauerhaft beeinflussen. Auch wenn Sie sich anschließend vornehmen, nie wieder die Nerven zu verlieren: Es wird Ihnen mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht gelingen. Dazu kommt das Phänomen des Self-Herdings, des auf sich selbst bezogenen Herdentriebs: Menschen neigen dazu, sich nicht nur an anderen, sondern auch an ihrem eigenen Verhalten zu orientieren, selbst dann, wenn sich die Bedingungen geändert haben. Wenn Sie z. B. aus einer schlechten Laune heraus Ihre Mitarbeiter abkanzeln, gelten Sie rasch als schwieriger Chef. Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden Sie bei nächster Gelegenheit genauso handeln, auch wenn Sie längst wieder gut gelaunt sind – einfach weil Sie sich an Ihrem früheren Verhalten ausrichten und wissen, dass die anderen genau das von Ihnen erwarten. So entstehen letztlich aus spontanen Gefühlen dauerhafte Verhaltensmuster. Der alte Rat, in emotional aufgeladenen Situationen erst bis zehn zu zählen und dann zu reagieren, ist deshalb gar nicht so verkehrt.
Gute Entscheidungen treffen
Das menschliche Verhalten ist längst nicht so rational, wie wir uns das gerne vorstellen. Viele Entscheidungen treffen wir aus spontanen, heftigen Gefühlen heraus, und wenn wir unserer Intuition folgen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir einfach so entscheiden, wie wir es schon öfter getan haben – also vermutlich wieder irrational. Wenn wir unseren Entscheidungen jedoch kritisch begegnen, stehen die Chancen gut, dass wir Irrtümer und Irrationalitäten erkennen, in Zukunft besser entscheiden und dadurch auch etwas verändern.
„Wir Menschen hängen dem Glauben an, objektiv und rational zu sein und logisch zu denken.“
In der Wissenschaft hat es sich längst eingebürgert, nicht einfach auf die Intuition zu vertrauen, sondern Erkenntnisse mit Experimenten zu untermauern. In der Wirtschaft ist das anders. Führungskräfte kümmern sich wenig um die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften, die sich mit dem Verhalten von Menschen am Arbeitsplatz befassen. Stattdessen entscheiden sie nach ihrer Intuition und lassen alles in gewohnten Bahnen laufen. In der Politik sieht es nicht viel besser aus – welcher Politiker zieht schon wissenschaftliche Erkenntnisse heran, ehe er eine Entscheidung trifft? Das sollte sich ändern. Intuition ist nichts Schlechtes, und sie gehört zum Leben der Menschen. Aber wo es um wichtige Entscheidungen geht, sollten wir bewusst auch unseren Verstand einsetzen.