Familienbande
Gustav Schickedanz schuf in den bewegten Jahren zwischen 1927 und 1960 aus einem „Versand mit Kurz- und Wollwaren und einschlägigen Artikeln“ namens Quelle in Fürth ein hochmodernes „Versandhaus der Superlative“ mit bis dahin rund 1 Milliarde D-Mark Umsatz. Bis zu seinem Tod 1977 wurde aus Quelle eine Unternehmensgruppe mit 8,3 Milliarden D-Mark Umsatz und über 40 000 Beschäftigten – gelenkt fast bis zum Schluss von Schickedanz selbst.
„Ich erklärte, dass ich überzeugt sei, die Leute wollten an der Quelle kaufen, und forderte die Werbe-Experten auf, einmal einen Namen für ein derartiges Geschäft zu überlegen.“ (Gustav Schickedanz)
Schickedanz’ Vorfahren waren mehrheitlich im Schreinerhandwerk und in der Holzverarbeitung tätig: vom Fassbau über Rokokoleisten bis hin zu Spielzeug. Gustav Schickedanz absolviert eine kaufmännische Ausbildung bei einem Nürnberger Spielehersteller. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, wird aus Schickedanz’ geplantem einjährigen Freiwilligendienst ein fünfjähriger Einsatz im Militär. Der junge Mann heiratet erstmals 1919. Zehn Jahre später sterben seine Frau Anna, der kleine Sohn und sein Vater bei einem Autounfall. Schickedanz bleiben nur seine Tochter Louise und seine ältere Schwester Liesl. Diese sowie ihr Mann Daniel Kießling werden bedeutende Rollen im Unternehmen spielen, ebenso Louises späterer Ehemann Hans Dedi: Der Schwiegersohn wird der erste Generalbevollmächtigte. Grete Lachner, die 15 Jahre jünger ist als Schickedanz, tritt 1927 als Lehrmädchen in die Firma ein. Schickedanz heiratet sie 1942, nachdem sie bereits über zehn Jahre lang liiert gewesen sind. Grete führt Quelle in der Nachkriegszeit maßgeblich mit, nach dem Tod ihres Mannes praktisch in alleiniger Verantwortung. Die gemeinsame Tochter Madeleine wird dreimal heiraten und jeder der Schwiegersöhne wird Führungsaufgaben in der Firma wahrnehmen.
„Adressen, Adressen, Adressen“
1919 tritt Schickedanz zunächst als Angestellter in eine Fürther Kurzwaren-Großhandlung ein und wird bald auch Teilhaber. Deren Kunden, kleine Einzelhändler bis hin zu Hausierer, versucht er zu einer Handelskette mit gemeinsamem Einkauf zusammenzuschließen, mit dem Ziel niedrigerer Einkaufspreise für alle. Die Idee scheitert auf der ganzen Linie. Ab 1923 versucht Schickedanz das Prinzip parallel zu seinem Engagement im Großhandel in einer eigenen Firma zu verwirklichen. Er akquiriert selbst, hauptsächlich in Ostfranken, baut auch Kontakte zu Endverbrauchern auf, die er anhand von „Preislisten“ über sein Sortiment informiert und deren Bestellungen postalisch ausgeliefert werden. Das ist das Grundprinzip des Versandgeschäfts, es ermöglicht „günstigere Preise“ direkt ab der Warenquelle. Basis dieses Vertriebswegs, das wird Schickedanz damals schon klar, sind „Adressen, Adressen, Adressen“. 1927 erfolgt eine Umfirmierung, das Geschäft wird auf eine breitere Grundlage gestellt und als „Versandhaus Quelle“ geführt.
„Der Quelle-Katalog ist ein zuverlässiger Spiegel der wirtschaftlichen, aber auch der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung, welche die Republik seit ihren Anfängen nimmt.“
Schickedanz hat den Versandhandel nicht erfunden, aber die im Ausland bereits erfolgreiche Vertriebsmethode parallel zu seinem Großhandel zunächst als zweites Standbein entwickelt. Er profitiert vom allgemeinen Wirtschaftsaufschwung gegen Ende der 1920er Jahre, der auf die gigantische Inflation der Nachkriegszeit folgt. Von diesem Aufschwung profitieren auch andere Versender, mehrheitlich Spezialversender, Ein-Produkt-Unternehmen wie Eduscho. Schickedanz’ nächster Schritt ist der zum Allgemeinversender: Er bietet ein breites Sortiment an, das nicht nur Textilien, sondern auch Haushaltswaren, Schreibwaren, Pflegemittel und Bijouterie beinhaltet – „eine Fundgrube für die ganze Familie“. Wichtigstes Verkaufsinstrument ist der nun mit viel Sorgfalt erstellte „Katalog“.
Geschäfte im Dritten Reich
1929 ereilt Schickedanz ein schwerer Schicksalsschlag, als er Ehefrau, Sohn und Vater bei einem Autounfall verliert. Er wird nie darüber sprechen. Sein Unternehmen allerdings prosperiert weiterhin, wegen der günstigen Preise gerade auch in der Zeit der starken Arbeitslosigkeit kurz vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten. Schickedanz tritt 1932 der NSAP bei, allerdings ohne innere Überzeugung; er hofft, sich persönlich und seinen Betrieb weniger angreifbar zu machen. Auf diese Weise laviert er sich bis 1945 durch. Der vom Regime geforderten Umstellung auf Rüstungsproduktion verweigert er sich. Gegen Kriegsende pflegt er engen Kontakt zu regimekritischen Kreisen, die man aber nicht als Widerständler bezeichnen kann.
„Gefragt sind Kompromisse, Konzessionen an die Adresse der Machthaber.“
In den 1930er Jahren tätigt Schickedanz einige Firmenübernahmen. Die bedeutendste Akquisition ist jene der Vereinigten Papierwerke 1934, mit „Tempo“-Papiertaschentüchern und „Camelia“-Binden als bedeutendste Produkte. Die übernommenen Firmen stammen durchweg von jüdischen Vorbesitzern. In keinem einzigen Fall handelt es sich jedoch um Arisierungen, bei denen sich Schickedanz einen „politisch bedingten“, unmoralischen Vorteil verschafft hätte. Das wird in ausführlichen Untersuchungen nach dem Krieg ausdrücklich festgestellt. Schickedanz hat in allen Fällen Unternehmen erworben, die von ihren Vorbesitzern heruntergewirtschaftet worden waren. Es wurde immer wieder bestätigt, dass er die Verkäufer mehr als fair abgefunden hat.
„Tatsächlich gilt vor allem eines der Produkte, nämlich die ,Camelia‘-Binde, als ,kriegsentscheidend‘, weil immer mehr Frauen in der Rüstungsproduktion zum Einsatz kommen und versorgt werden müssen.“
Während des Krieges laufen die Geschäfte unter den Vorzeichen der Kriegswirtschaft schleppender – der Katalog von 1944 umfasst gerade noch vier Seiten. Ein Luftangriff im August 1943 zerstört das Firmengebäude in Fürth. Das Schlimmste daran: Dabei geht auch fast die gesamte Kartei mit den Kundenadressen in Flammen auf. Im Oktober 1943 kommt Grete und Gustav Schickedanz’ einziges Kind, die Tochter Madeleine, zur Welt.
Der Wiederaufbau
Nach Kriegsende muss sich Schickedanz einer Entnazifizierung unterziehen; außerdem werden Wiedergutmachungsverfahren gegen ihn angestrengt. Jedoch kann kein Vorwurf gegen ihn erhärtet werden; im Fall der Brüder Ellern, Gründer der von Schickedanz aufgekauften Ellern GmbH, ist sogar offiziell von einem „Missbrauch des Entnazifizierungsverfahrens“ die Rede – der Betrieb war aufgrund falscher Dispositionen und des ausufernden Lebensstils der Besitzer schlicht heruntergewirtschaftet und musste verkauft werden. Die meisten Verfahren enden mit Vergleichen, bei denen nochmals hohe Beträge gezahlt werden. Schickedanz darf in dieser Zeit nicht selbst tätig sein. Seine Unternehmen werden von Treuhändern geführt.
„Nicht nur fressen die Großen die Kleinen, vielmehr zeichnet sich in den ausgehenden 60er und beginnenden 70er Jahren ab, dass die Schnellen die Langsamen schlucken werden.“
1949 nimmt er seine Tätigkeit wieder auf. Der Nachholbedarf der gebeutelten Bevölkerung beschert Unternehmen wie Quelle, die ihr Know-how sehr schnell umsetzen können und kundenorientiert arbeiten, hohe Zuwachsraten. Viele ehemalige Kunden melden sich von selbst wieder. Schickedanz sucht und pflegt den Kontakt zu seinen Klienten wie zu seinen Mitarbeitern. Er schafft etliche soziale Einrichtungen und legt 1954 eine betriebseigene Altersversorgung auf. 1962 besteht die Belegschaft zu mehr als drei Viertel aus Frauen – genau umgekehrt zum Bundesdurchschnitt, gemäß dem nur ein Viertel der Frauen erwerbstätig ist.
„Kaum dass die Mauer geöffnet ist, werden die grenznahen Quelle-Häuser förmlich überrannt.“
Dem erhöhten Bedarf und den gestiegenen Möglichkeiten der Kunden entsprechend wird das Sortiment ständig erweitert: vom Fertighaus (dies eher ein Flop) bis zu Autozubehör und Blumenzwiebeln. Quelle ist als Preisbrecher erfolgreich. Waschmaschinen, Kühlschränke und Unterhaltungselektronik werden so für breite Kreise erschwinglich. Unabhängige Qualitätskontrollen und Rücknahmegarantien, selbst bei Nichtgefallen, zählen zu Schickedanz’ bahnbrechenden Innovationen.
Investitionen und Übernahmen
Fürth bleibt zwar Firmensitz, aber in Nürnberg wird ein gigantisches neues Versandzentrum mit modernster Datenverarbeitung errichtet. Mit dem Hauptkonkurrenten Neckermann liefert sich Schickedanz seit Jahrzehnten einen gnadenlosen Wettbewerb: Wo immer der eine vorprescht, zieht der andere sofort nach (und senkt den Preis). Im Konsumgütermarkt gilt jede Verlangsamung als Rückschritt.
„Vor allem aber ist die aus dem 19. Jahrhundert stammende Idee der Kaufhäuser im aufziehenden 21. Jahrhundert offenkundig nicht mehr zeitgemäß.“
Neben dem Brauereigeschäft, das bereits vor dem Krieg als versandhausunabhängiges Standbein erworben wurde, kommen nun ganz neue Aktivitäten hinzu. Eine der einsamen Entscheidungen von Schickedanz und ein großer Erfolg ist die Foto-Quelle (1961). Quelle-Reisen gibt es ab 1962. Aus der Noris Kaufhilfe (schon 1954 gegründet) entsteht 1965 die Norisbank, und zwar aus dem Gedanken heraus: „Wir können unsere Kunden doch nicht verklagen.“ In den 1970er-Jahren erfolgen große Zukäufe im Brauereibereich; außerdem wird das Möbelhaus Hess akquiriert, mit dem ein Großteil der 46 Einrichtungshäuser übernommen werden muss. Eigene Quelle-Warenhäuser gibt es seit 1960, ihre Zahl wächst in den 1970er-Jahren auf über 20: Das sogenannte stationäre Geschäft wird jetzt ein wesentlicher Umsatzträger. Selbstverständlich gibt es auch Auslandsaktivitäten, am stärksten in Österreich.
Die letzten Jahre
1970 ist Gustav Schickedanz 75 Jahre alt. Mit der Ölkrise von 1973 ändert sich das Konsumverhalten in der BRD. Erstmals stagnieren die Umsätze auch bei Quelle. Schickedanz versucht durch Umgruppierungen in der Eigentümerstruktur sein Lebenswerk für seine Ehefrau Grete und seine Familie zu sichern. Fast bis zuletzt leitet der Patriarch das Unternehmen selbst. Er stirbt am 27. März 1977. Es ist das Jahr des 50-jährigen Firmenjubiläums. Der Jubiläumskatalog umfasst über 900 Seiten mit 80 000 Artikeln. Jeder zweite Haushalt in der Bundesrepublik Deutschland ist mittlerweile Quelle-Kunde und Quelle ist der größte Einzelkunde der Post.
„Am Ende ist es die größte Unternehmensinsolvenz der Geschichte der Bundesrepublik, und der Ausverkauf, der seit dem 1. November 2009 mit fast 4300 Mitarbeitern der Quelle abgewickelt wird, ist der größte im deutschen Einzelhandel.“
Grete Schickedanz führt das Unternehmen mit ihren beiden Schwiegersöhnen Hans Dedi und Wolfgang Bühler noch zehn Jahre lang, stets unter dem Verdacht einer zu großen Machtkonzentration in einer immer wieder streitenden Familie. 1987 gibt die „First Lady der deutschen Wirtschaft“ (Richard von Weizsäcker) den Vorstandsvorsitz 75-jährig an Klaus Zumwinkel ab. Der erste familienfremde Leiter kann das nach der zweiten Ölkrise (1979) wieder stagnierende Geschäft stabilisieren, verlässt das Haus aber nach zwei Jahren. 1988 hievt die Übernahme der Textilkette Sinn den Umsatz über die 10-Milliarden-Grenze. Der Fall der Mauer beschert Quelle 1990–1992 nochmals einen gewaltigen Umsatzschub, den das Unternehmen aber beinahe nicht mehr bewältigen kann: Klagen über zu lange Lieferzeiten häufen sich. 1994 stirbt Grete Schickedanz als viertreichste Frau Europas und im gleichen Jahr Louise Dedi.
Die Zerschlagung des Erbes
Gleich nach dem Vereinigungsboom werden die meisten der seit Längerem defizitären Warenhäuser verkauft, 1994 wird dann auch die Industriegruppe aufgelöst, „Tempo“ beispielsweise geht an Procter & Gamble, „Camelia“ an Kimberly-Clark. Versandhandel, Bank und Touristik bleiben jedoch vorerst. 1997 erwirbt die Schickedanz-Holding die Mehrheit der Karstadt-Aktien. Der Versandhaus- und der Warenhausriese verschmelzen 1999 zu Karstadt-Quelle, ab 2007 unter dem Fantasienamen Arcandor. Madeleine Schickedanz wird so Karstadt-Eigentümerin und kauft sogar mithilfe eines Kredits weitere Arcandor-Aktien, während gleichzeitig die Substanz des Unternehmens (vor allem in Form von Immobilien) von Finanzjongleuren geplündert wird. Arcandor fehlt daher das Geld für die notwendige Restrukturierung, die Metro-Gruppe (Kaufhof, Saturn, Media Markt) ist mit erfolgreicheren und aggressiveren Geschäftsmodellen längst an Schickedanz vorbeigezogen. Im Juni 2009 meldet Arcandor Insolvenz an.