Prozess und Philosophie des Helfens

Buch Prozess und Philosophie des Helfens

Einzelberatung, Teamberatung und Organisationsentwicklung

EHP,


Rezension

In Edgar H. Scheins Welt ist quasi jeder ein Helfer: Ein Kellner hilft im Restaurant, ein Arzt bei gesund­heitlichen Problemen, und im Bereich der Wirtschaft amtieren die omnipräsenten Berater als Helfer. Mehr noch, auch Führungskräfte, vor allem Teamleiter, sollen helfen, und zwar ihren Mi­tar­beit­ern. Am Anfang seines Buches zeigt Schein sehr durchdacht, prax­isori­en­tiert und konkret die ungeheure Spannweite des Helfens als soziokul­turelles Phänomen. Seine Darstellung der Helfertätigkeit in Unternehmen ist dann allerdings stark von seinen persönlichen und beruflichen Erfahrungen bestimmt. Er versucht sie auf akademische Weise zu ve­r­all­ge­mein­ern, was stel­len­weise in hochab­strak­ten Passagen mündet und sich in Wieder­hol­un­gen erschöpft. Immerhin lassen sich die Ker­naus­sagen gut her­aus­fil­tern. BooksInShort empfiehlt das Buch Führungskräften in Unternehmen und allen, die in beratenden Berufen tätig sind.

Take-aways

  • Helfen ist ein uni­verselles Prinzip, die Basis jeder zivil­isierten Gemein­schaft.
  • In jeder Hil­fe­si­t­u­a­tion spielen Sie eine Rolle: entweder als Helfer oder als Klient.
  • Hilfe beruht auf Gegen­seit­igkeit. Das Machtverhältnis zwischen Helfer und Klient strebt unauswe­ich­lich nach Ausgleich.
  • Da Helfen ein dynamischer Prozess ist, der viele un­vorherse­hbare Auswirkun­gen hat, muss der Helfer ihn mit großer Umsicht und Zurückhaltung einleiten.
  • Stellen Sie am Anfang durch behutsames Fragen die wichtigsten Weichen für eine gelingende Hil­feleis­tung.
  • Sie müssen zuerst alle er­re­ich­baren In­for­ma­tio­nen sammeln, die Hintergründe für das Problem des Klienten klären und Vertrauen aufbauen.
  • Erst wenn das gelungen ist, kann Ihre Spezialfähigkeit oder Ihr Fachwissen effizient eingesetzt werden.
  • In Teams ist jeder zugleich Helfer und Klient.
  • Haup­tauf­gabe des Teamleiters ist es, Prozess­ber­ater und Feed­back­ge­ber für das ganze Team zu sein.
  • Jede Führungs­funk­tion sollte als Hil­feleis­tung für die Mitarbeiter verstanden werden, mit dem Ziel, ihnen die optimale Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen.
 

Zusammenfassung

Was die Welt zusammenhält

Werden Sie nach dem Weg gefragt, sind Sie ein Helfer. Erbitten Sie bei einer Hotline eine Auskunft zur Bedienung Ihres Computers, sind Sie Klient. Eltern helfen Ihren Kindern – natürlich nicht nur bei den Hausauf­gaben; El­tern­schaft ist eine einzige Helfer­si­t­u­a­tion rund um die Uhr. Hilfe ist ein uni­verselles, vermutlich genetisches Prinzip. Helfen ist die Basis und der Kitt jeder zivil­isierten Gesellschaft. Ohne gegen­seit­ige Hilfe würden wir untergehen. Ein Großteil dessen, was wir als Manieren und Moral bezeichnen, ist vom Prinzip des Helfens abgeleitet. In den modernen Di­en­stleis­tungs­ge­sellschaften ist Hil­feleis­tung als Service das grundle­gende Geschäftsmodell zahlloser Or­gan­i­sa­tio­nen: vom Kinder­garten über die Reparatur­w­erk­statt bis zum Krankenhaus oder Rei­sev­er­anstal­ter. Putzfrauen, Kellner, Lehrer, Ärzte, Anwälte, Psychologen und Un­ternehmens­ber­ater sind in ganz persönlicher und pro­fes­sioneller Form Helfer. Führungskräfte sollten es ebenfalls sein.

„Helfen ist die Basis für Kooperation, Kol­lab­o­ra­tion und Altruismus in allen seinen Formen.“

Hilfe wird angeboten, angenommen und anerkannt. Das folgt gesellschaftlichen Regeln. Werden diese verletzt, kommt es zu Störungen im Hil­fe­prozess, der dann nicht effizient abläuft: Hilfe wird aufgedrängt; Hilfe wird nicht angenommen; der Dank bleibt aus. Da Helfen ein so uni­verselles Prinzip ist, bestimmt es auch die Grund­struk­turen von Beratung und Führung.

Das kleine Einmaleins des Helfens

Eine Helfer­beziehung verläuft in der Regel folgendermaßen:

  1. Jemand bittet um Hilfe.
  2. Der Helfer hilft.
  3. Der Klient bedankt sich, spricht seine Anerkennung aus oder bezahlt die Hil­feleis­tung.
„Alle Kulturen sind von den Regeln des Ausgleichs und der Gegen­seit­igkeit geprägt, die festlegen, welchen Wert wir uns in Beziehungen beimessen.“

Hier zeigt sich sofort der wichtigste Aspekt des Helfens: die Gegen­seit­igkeit. Die Worte „bitte“ und „danke“ bilden die jedermann geläufige Grundformel für dieses Gegen­seit­igkeitsverhältnis. So wird es uns von Kindes­beinen an beigebracht. In einer Helfer­beziehung entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis, das aus­geglichen werden muss. Anerkennung oder Bezahlung sind dafür die Stan­dard­meth­o­den. Mal sind wir der Helfer, mal sind wir derjenige, dem geholfen wird, der Klient. Wir nehmen also beim Helfen unauswe­ich­lich eine gesellschaftliche Rolle ein und müssen uns rollenadäquat verhalten.

„Wer in die Helferrolle gerät, gewinnt sofort an Status und Macht.“

So weit die Theorie. In der gesellschaftlichen Wirk­lichkeit ist Helfen ein sehr dynamischer Prozess voller Risiken und Neben­wirkun­gen. Ins­beson­dere pro­fes­sionelle Helfer kennen das: Ihre Ratschläge werden mitunter nicht befolgt. Medikamente werden gar nicht oder nicht so eingenommen, wie der Arzt es ver­schrieben hat. Mitarbeiter fallen nach kurzer Zeit wieder in den alten Trott. Damit die Hilfe wirklich gelingt, muss der Klient in die Lage versetzt werden, dass er die Hilfe annimmt. Das ist die Kunst und das Ziel der Führung.

Das große Einmaleins des Helfens

Vermeiden Sie es unter allen Umständen, gleich zu Anfang den Experten zu spielen. In einer Helfer-Klient-Beziehung müssen die Weichen von Beginn weg richtig gestellt werden; danach ist es meistens zu spät, weil Vertrauen verloren gegangen ist. Neben dem Gegen­seit­igkeitsverhältnis entsteht beim Helfen eben auch ein Abhängigkeitsverhältnis, ein Machtgefälle. Das wird besonders deutlich, wenn Sie z. B. die Hilfe eines Arztes oder Anwalts in Anspruch nehmen. Dieses Machtgefälle verlangt geradezu zwingend nach einem Ausgleich, und die entschei­dende Vo­raus­set­zung dafür ist Vertrauen.

„Am Anfang und im Verlauf jeder helfenden Beziehung ist nicht der Inhalt des Problems des Klienten oder die Sachken­nt­nis des Helfers auss­chlaggebend, sondern der Kom­mu­nika­tion­sprozess, der beide in die Lage versetzt, her­auszufinden, was wirklich benötigt wird.“

Als Helfer benötigen Sie so viele In­for­ma­tio­nen wie möglich über den Hintergrund des Hil­fege­suchs. Oftmals weiß der Klient selbst nicht genau, was für eine Art von Hilfe er benötigt. Oder hinter einem Hilfegesuch verbirgt sich eigentlich eine ganz andere Bitte. Ein klassisches Beispiel ist die Frage der Ehefrau: „Wie findest du mein Kleid?“ Eigentlich meint sie: „Wie findest du mich?“ Oder: Mit der Bitte um eine Tasse Tee wird Aufmerk­samkeit gefordert, weil man über etwas sprechen möchte. Als er­fol­gre­icher Helfer müssen Sie daher immer als Erstes den Hintergrund ausleuchten. Ein Arzt sollte nachhaken, ob sich hinter einem scheinbar harmlosen Problem, das der Patient vorträgt, nicht ein anderes verbirgt, das er aus Scham verschweigt. Bei diesen All­t­ags­beispie­len genügt eine offene Frage. Wenn sich die Ehefrau auf die Frage „Brauchst du sonst noch etwas, Schatz?“ einfach bedankt, ist der Hil­feaus­gle­ich hergestellt, und Sie können sich beruhigt wieder Ihrer Zeitung widmen. Zum Aufbau einer er­fol­gre­ichen Helfer­beziehung sollten Sie ferner folgende Fragen klären:

  • Sprechen Helfer und Klient eine gemeinsame Sprache? Versteht der Klient beispiel­sweise alle Fachausdrücke des Com­put­er­ex­perten? Falls nicht, kann er dessen Rat nämlich rein objektiv nicht umsetzen.
  • In welcher Un­ternehmen­skul­tur, Ar­beit­skul­tur, sozialen oder familiären Kultur steht der Klient? Wird das nicht beachtet, kann die nachhaltige Umsetzung der Hilfe behindert werden.
  • Welche Erwartungen oder Ängste hat der Klient in Bezug auf Rat oder Therapie?
  • Kann der Helfer die erwartete Hilfe überhaupt leisten?
  • Will der Helfer oder Berater in Wirk­lichkeit etwas verkaufen (z. B. Bankber­atung)?
  • Wird unangemessene Hilfe aufgedrängt (z. B. Schutz seitens der Mafia)?

Die drei Hel­fer­rollen

Folgende drei Hel­fer­rollen sind zu un­ter­schei­den:

  1. Experte: Sind alle notwendigen In­for­ma­tio­nen erfragt, kann der Handwerker, Apotheker, der Mann von der Hotline oder ein sonstiger Fachmann sein Ex­perten­wis­sen in der Regel effektiv einsetzen. Ergeben sich Anzeichen, dass doch noch In­for­ma­tions­de­fizite bestehen, wechselt der Experte wieder in die Rolle des Fragenden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich ein Klient an der Bewältigung eines Problems aktiv beteiligen muss.
  2. Arzt: Zu diesem Rollentyp gehören auch Anwälte, Un­ternehmens­ber­ater und andere hoch qual­i­fizierte Experten. Es handelt sich um eine gesteigerte Ex­perten­rolle. Der Klient ist stark vom Helfer abhängig; dieser hat ihm gegenüber mehr Macht. Wenn beispiel­sweise ver­schiedene Krankheitssymp­tome beobachtet werden oder eine Abteilung schlecht funk­tion­iert, muss der Arzt-Helfer erst die Diagnose stellen und dann auch noch die Therapie vorschlagen. Bei beidem ist er auf die Mitarbeit des Klienten angewiesen. Ohne die im Vorfeld aufgebaute gute Kom­mu­nika­tion und ohne Vertrauen droht der Hil­fe­prozess zu scheitern.
  3. Prozess­ber­ater: Als solcher stellen Sie zunächst einmal fest, welche Art von Hilfe der Klient benötigt. Sie werden beispiel­sweise nach dem Weg zur Mass­a­chu­setts Avenue gefragt. Da Sie wissen, dass diese Straße sehr lang ist, haken Sie nach und fragen den Hil­fe­suchen­den nach seinem exakten Ziel. Unter Umständen können Sie ihn anschließend besser in die richtige Richtung lenken. Durch Ihr Vor­son­dieren haben Sie dem Klienten geholfen, den Kern seines Problems zu definieren. Damit wird auch die Hilfe effizienter. Bei komplexeren Beratungen wird durch das Vor­son­dieren zudem die Kom­mu­nika­tion zwischen Helfer und Klient verbessert, Vertrauen wird aufgebaut und es lässt sich feststellen, ob der Helfer überhaupt das gewünschte Ex­perten­wis­sen besitzt und ob der Klient in der Lage ist, den Rat umzusetzen. Oft geht es darum, den Klienten anzuleiten, wie er sich in Zukunft selbst helfen kann. Das ist typ­is­cher­weise beim Lehrer, beim Coach oder beim Un­ternehmens­ber­ater der Fall. Bisweilen kann auch wirklich nur der Klient entscheiden, welche der angebotenen Lösungsmöglichkeiten eines Problems die richtige ist. In diesem Fall kann der Prozess­ber­ater ihn nur begleiten, indem er hilft, den Hintergrund auszuleuchten.
„Feedback hilft im Allgemeinen dann nicht, wenn es unerbeten ist.“

Bei jedem Hilfegesuch sollten Sie grundsätzlich zuerst die Rolle des Prozess­ber­aters spielen und erst danach in die Rolle des Experten oder des Arztes wechseln.

Dem Klienten auf die Sprünge helfen

Fragen sind das wichtigste Mittel einer effizienten Hil­festel­lung. Folgende Frageformen stehen Ihnen zur Verfügung:

  • In­ter­essierte Fragen: Sie müssen zuerst geduldig zuhören. Ermuntern Sie den Klienten ganz allgemein zum Weiterreden: „Erzählen Sie mehr“, „Geben Sie mir Beispiele/Einzel­heiten“, „Was meinen Sie mit ...?“. Beachten Sie dabei auch die Körpersprache und Mimik des Klienten. Hüten Sie sich als Helfer vor vorschnellem Rat, wenn Sie glauben, das Problem gleich erkannt zu haben. Wer den Hammer hält, sieht überall Nägel. Vermeiden Sie es auch, alles noch einmal zu erklären, wenn der Klient mit Nichtver­ste­hen oder Abwehr reagiert. Das wäre vielmehr ein Signal, in die Rolle des Prozess­ber­aters zu wechseln.
  • Di­ag­nos­tis­che Fragen: Sie richten sich auf den angestrebten Zweck oder das Ziel der Beratung. Fragen wie „Was haben Sie bisher unternommen?“, „Wie haben Sie reagiert?“, „Warum gerade jetzt?“ zielen auf Emotionen, Ursachen und Motive des Klienten. Diese Fragen erweitern den Horizont des Beraters, können beim Klienten aber auch Ängste oder Scham auslösen.
  • Systemische Fragen: Mit sys­temis­chen Fragen versuchen Sie, die Grup­pen­zusam­menhänge zu klären, in denen der jeweilige Klient steckt. Wie reagieren etwa Mitarbeiter oder Vorgesetzte? Welche Rolle spielen gesetzliche Vorschriften, fir­menin­terne Regeln oder auch kulturelle Normen? Mit diesen und ähnlichen Fragen können Sie auch eine Reaktion auf einen Lösungsvorschlag testen.
  • Kon­fronta­tive Fragen: In diesem Bereich überschnei­den sich die Rolle des Prozess­ber­aters und die des Experten. Der Helfer oder Berater bringt eigene Gedanken oder Vorschläge ins Spiel: „Sind Sie schon einmal auf den Gedanken gekommen, ...?“, „Haben Sie XY zur Rede gestellt?“. Sie führen Ideen, Begriffe und Gedanken ein, die der Klient selbst nicht geäußert hat.

Teamarbeit und Teamführung

Der Sinn der Teamarbeit ist, dass jeder den anderen hilft. Jeder ist zugleich Klient und Helfer. The­ater­grup­pen und Sport­mannschaften sind gute Beispiele für Teams. Nur wenn jeder seinen vollen Einsatz bringt, gelingt das Teamwork. Das Team darf also von keinem Einzelnen im Stich gelassen werden. Achten Sie bei der Teamführung darauf, dass alle Einzelbeiträge Anerkennung finden und evtl. bestehende Sta­tusun­ter­schiede aus­geglichen werden. Ist die Teamarbeit unzulänglich, hilft der Teamleiter in erster Linie dem schwächsten Glied in der Kette.

„Die Leitung einer Or­gan­i­sa­tion impliziert, den Mi­tar­beit­ern bei der Durchführung ihrer Aufgaben zu helfen.“

Feedback ist das weitaus wichtigste Mittel, um den Ausgleich im Team herzustellen. Das Ziel muss klar sein, Zwis­ch­en­ergeb­nisse und Fortschritte werden ausdrücklich iden­ti­fiziert, ungeeignetes Verhalten korrigiert. So treffen sich beispiel­sweise gute Ärzteteams regelmäßig zur Nachbe­sprechung einer Operation. Jegliches Feedback muss erbeten, spezifisch und konkret, beschreibend, aber nicht wertend sein.

„Bei der Arbeit an der Veränderung einer Or­gan­i­sa­tion muss der Helfer ständig zwischen der Rolle des Prozess­ber­aters und der des Experten/Arztes wechseln.“

Als Teamleiter sind Sie in erster Linie der Prozess­ber­ater, sprich der Helfer Ihres Teams. Durch möglichst zurückhaltende Befragung machen Sie das Team zu Ihrem Klienten, statt voreilig mit fertigen Expertenlösungen vorzupreschen. Dies gilt im Übrigen auch für jedes er­fol­gre­iche Change-Man­age­ment. Nur wenn Sie verstehen, was bei Ihrem Team im Hintergrund tatsächlich abläuft, können Sie eine nachhaltige Veränderung erreichen. Führungscoach­ing konzen­tri­ert sich aus diesem Grund darauf, Manager zu Prozess­ber­atern zu machen, keineswegs aber zu Experten oder Ärzten, die nach schneller Diagnose eine Therapie verordnen. Un­ternehmens­ber­ater stehen zweifellos vor einer besonders heiklen Aufgabe, wenn der Unternehmer oder Topmanager, der ein Klient ist, sich letztlich als das eigentliche Problem erweist.


Über den Autor

Edgar H. Schein war am Mass­a­chu­setts Institute of Technology führend an der Forschung zur Or­gan­i­sa­tion­sen­twick­lung beteiligt. Er beriet Unternehmen wie Digital Equipment Corporation und Ciba-Geigy und ist Autor und Herausgeber mehrerer Zeitschriften und Bücher.