Was die Welt zusammenhält
Werden Sie nach dem Weg gefragt, sind Sie ein Helfer. Erbitten Sie bei einer Hotline eine Auskunft zur Bedienung Ihres Computers, sind Sie Klient. Eltern helfen Ihren Kindern – natürlich nicht nur bei den Hausaufgaben; Elternschaft ist eine einzige Helfersituation rund um die Uhr. Hilfe ist ein universelles, vermutlich genetisches Prinzip. Helfen ist die Basis und der Kitt jeder zivilisierten Gesellschaft. Ohne gegenseitige Hilfe würden wir untergehen. Ein Großteil dessen, was wir als Manieren und Moral bezeichnen, ist vom Prinzip des Helfens abgeleitet. In den modernen Dienstleistungsgesellschaften ist Hilfeleistung als Service das grundlegende Geschäftsmodell zahlloser Organisationen: vom Kindergarten über die Reparaturwerkstatt bis zum Krankenhaus oder Reiseveranstalter. Putzfrauen, Kellner, Lehrer, Ärzte, Anwälte, Psychologen und Unternehmensberater sind in ganz persönlicher und professioneller Form Helfer. Führungskräfte sollten es ebenfalls sein.
„Helfen ist die Basis für Kooperation, Kollaboration und Altruismus in allen seinen Formen.“
Hilfe wird angeboten, angenommen und anerkannt. Das folgt gesellschaftlichen Regeln. Werden diese verletzt, kommt es zu Störungen im Hilfeprozess, der dann nicht effizient abläuft: Hilfe wird aufgedrängt; Hilfe wird nicht angenommen; der Dank bleibt aus. Da Helfen ein so universelles Prinzip ist, bestimmt es auch die Grundstrukturen von Beratung und Führung.
Das kleine Einmaleins des Helfens
Eine Helferbeziehung verläuft in der Regel folgendermaßen:
- Jemand bittet um Hilfe.
- Der Helfer hilft.
- Der Klient bedankt sich, spricht seine Anerkennung aus oder bezahlt die Hilfeleistung.
„Alle Kulturen sind von den Regeln des Ausgleichs und der Gegenseitigkeit geprägt, die festlegen, welchen Wert wir uns in Beziehungen beimessen.“
Hier zeigt sich sofort der wichtigste Aspekt des Helfens: die Gegenseitigkeit. Die Worte „bitte“ und „danke“ bilden die jedermann geläufige Grundformel für dieses Gegenseitigkeitsverhältnis. So wird es uns von Kindesbeinen an beigebracht. In einer Helferbeziehung entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis, das ausgeglichen werden muss. Anerkennung oder Bezahlung sind dafür die Standardmethoden. Mal sind wir der Helfer, mal sind wir derjenige, dem geholfen wird, der Klient. Wir nehmen also beim Helfen unausweichlich eine gesellschaftliche Rolle ein und müssen uns rollenadäquat verhalten.
„Wer in die Helferrolle gerät, gewinnt sofort an Status und Macht.“
So weit die Theorie. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist Helfen ein sehr dynamischer Prozess voller Risiken und Nebenwirkungen. Insbesondere professionelle Helfer kennen das: Ihre Ratschläge werden mitunter nicht befolgt. Medikamente werden gar nicht oder nicht so eingenommen, wie der Arzt es verschrieben hat. Mitarbeiter fallen nach kurzer Zeit wieder in den alten Trott. Damit die Hilfe wirklich gelingt, muss der Klient in die Lage versetzt werden, dass er die Hilfe annimmt. Das ist die Kunst und das Ziel der Führung.
Das große Einmaleins des Helfens
Vermeiden Sie es unter allen Umständen, gleich zu Anfang den Experten zu spielen. In einer Helfer-Klient-Beziehung müssen die Weichen von Beginn weg richtig gestellt werden; danach ist es meistens zu spät, weil Vertrauen verloren gegangen ist. Neben dem Gegenseitigkeitsverhältnis entsteht beim Helfen eben auch ein Abhängigkeitsverhältnis, ein Machtgefälle. Das wird besonders deutlich, wenn Sie z. B. die Hilfe eines Arztes oder Anwalts in Anspruch nehmen. Dieses Machtgefälle verlangt geradezu zwingend nach einem Ausgleich, und die entscheidende Voraussetzung dafür ist Vertrauen.
„Am Anfang und im Verlauf jeder helfenden Beziehung ist nicht der Inhalt des Problems des Klienten oder die Sachkenntnis des Helfers ausschlaggebend, sondern der Kommunikationsprozess, der beide in die Lage versetzt, herauszufinden, was wirklich benötigt wird.“
Als Helfer benötigen Sie so viele Informationen wie möglich über den Hintergrund des Hilfegesuchs. Oftmals weiß der Klient selbst nicht genau, was für eine Art von Hilfe er benötigt. Oder hinter einem Hilfegesuch verbirgt sich eigentlich eine ganz andere Bitte. Ein klassisches Beispiel ist die Frage der Ehefrau: „Wie findest du mein Kleid?“ Eigentlich meint sie: „Wie findest du mich?“ Oder: Mit der Bitte um eine Tasse Tee wird Aufmerksamkeit gefordert, weil man über etwas sprechen möchte. Als erfolgreicher Helfer müssen Sie daher immer als Erstes den Hintergrund ausleuchten. Ein Arzt sollte nachhaken, ob sich hinter einem scheinbar harmlosen Problem, das der Patient vorträgt, nicht ein anderes verbirgt, das er aus Scham verschweigt. Bei diesen Alltagsbeispielen genügt eine offene Frage. Wenn sich die Ehefrau auf die Frage „Brauchst du sonst noch etwas, Schatz?“ einfach bedankt, ist der Hilfeausgleich hergestellt, und Sie können sich beruhigt wieder Ihrer Zeitung widmen. Zum Aufbau einer erfolgreichen Helferbeziehung sollten Sie ferner folgende Fragen klären:
- Sprechen Helfer und Klient eine gemeinsame Sprache? Versteht der Klient beispielsweise alle Fachausdrücke des Computerexperten? Falls nicht, kann er dessen Rat nämlich rein objektiv nicht umsetzen.
- In welcher Unternehmenskultur, Arbeitskultur, sozialen oder familiären Kultur steht der Klient? Wird das nicht beachtet, kann die nachhaltige Umsetzung der Hilfe behindert werden.
- Welche Erwartungen oder Ängste hat der Klient in Bezug auf Rat oder Therapie?
- Kann der Helfer die erwartete Hilfe überhaupt leisten?
- Will der Helfer oder Berater in Wirklichkeit etwas verkaufen (z. B. Bankberatung)?
- Wird unangemessene Hilfe aufgedrängt (z. B. Schutz seitens der Mafia)?
Die drei Helferrollen
Folgende drei Helferrollen sind zu unterscheiden:
- Experte: Sind alle notwendigen Informationen erfragt, kann der Handwerker, Apotheker, der Mann von der Hotline oder ein sonstiger Fachmann sein Expertenwissen in der Regel effektiv einsetzen. Ergeben sich Anzeichen, dass doch noch Informationsdefizite bestehen, wechselt der Experte wieder in die Rolle des Fragenden. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich ein Klient an der Bewältigung eines Problems aktiv beteiligen muss.
- Arzt: Zu diesem Rollentyp gehören auch Anwälte, Unternehmensberater und andere hoch qualifizierte Experten. Es handelt sich um eine gesteigerte Expertenrolle. Der Klient ist stark vom Helfer abhängig; dieser hat ihm gegenüber mehr Macht. Wenn beispielsweise verschiedene Krankheitssymptome beobachtet werden oder eine Abteilung schlecht funktioniert, muss der Arzt-Helfer erst die Diagnose stellen und dann auch noch die Therapie vorschlagen. Bei beidem ist er auf die Mitarbeit des Klienten angewiesen. Ohne die im Vorfeld aufgebaute gute Kommunikation und ohne Vertrauen droht der Hilfeprozess zu scheitern.
- Prozessberater: Als solcher stellen Sie zunächst einmal fest, welche Art von Hilfe der Klient benötigt. Sie werden beispielsweise nach dem Weg zur Massachusetts Avenue gefragt. Da Sie wissen, dass diese Straße sehr lang ist, haken Sie nach und fragen den Hilfesuchenden nach seinem exakten Ziel. Unter Umständen können Sie ihn anschließend besser in die richtige Richtung lenken. Durch Ihr Vorsondieren haben Sie dem Klienten geholfen, den Kern seines Problems zu definieren. Damit wird auch die Hilfe effizienter. Bei komplexeren Beratungen wird durch das Vorsondieren zudem die Kommunikation zwischen Helfer und Klient verbessert, Vertrauen wird aufgebaut und es lässt sich feststellen, ob der Helfer überhaupt das gewünschte Expertenwissen besitzt und ob der Klient in der Lage ist, den Rat umzusetzen. Oft geht es darum, den Klienten anzuleiten, wie er sich in Zukunft selbst helfen kann. Das ist typischerweise beim Lehrer, beim Coach oder beim Unternehmensberater der Fall. Bisweilen kann auch wirklich nur der Klient entscheiden, welche der angebotenen Lösungsmöglichkeiten eines Problems die richtige ist. In diesem Fall kann der Prozessberater ihn nur begleiten, indem er hilft, den Hintergrund auszuleuchten.
„Feedback hilft im Allgemeinen dann nicht, wenn es unerbeten ist.“
Bei jedem Hilfegesuch sollten Sie grundsätzlich zuerst die Rolle des Prozessberaters spielen und erst danach in die Rolle des Experten oder des Arztes wechseln.
Dem Klienten auf die Sprünge helfen
Fragen sind das wichtigste Mittel einer effizienten Hilfestellung. Folgende Frageformen stehen Ihnen zur Verfügung:
- Interessierte Fragen: Sie müssen zuerst geduldig zuhören. Ermuntern Sie den Klienten ganz allgemein zum Weiterreden: „Erzählen Sie mehr“, „Geben Sie mir Beispiele/Einzelheiten“, „Was meinen Sie mit ...?“. Beachten Sie dabei auch die Körpersprache und Mimik des Klienten. Hüten Sie sich als Helfer vor vorschnellem Rat, wenn Sie glauben, das Problem gleich erkannt zu haben. Wer den Hammer hält, sieht überall Nägel. Vermeiden Sie es auch, alles noch einmal zu erklären, wenn der Klient mit Nichtverstehen oder Abwehr reagiert. Das wäre vielmehr ein Signal, in die Rolle des Prozessberaters zu wechseln.
- Diagnostische Fragen: Sie richten sich auf den angestrebten Zweck oder das Ziel der Beratung. Fragen wie „Was haben Sie bisher unternommen?“, „Wie haben Sie reagiert?“, „Warum gerade jetzt?“ zielen auf Emotionen, Ursachen und Motive des Klienten. Diese Fragen erweitern den Horizont des Beraters, können beim Klienten aber auch Ängste oder Scham auslösen.
- Systemische Fragen: Mit systemischen Fragen versuchen Sie, die Gruppenzusammenhänge zu klären, in denen der jeweilige Klient steckt. Wie reagieren etwa Mitarbeiter oder Vorgesetzte? Welche Rolle spielen gesetzliche Vorschriften, firmeninterne Regeln oder auch kulturelle Normen? Mit diesen und ähnlichen Fragen können Sie auch eine Reaktion auf einen Lösungsvorschlag testen.
- Konfrontative Fragen: In diesem Bereich überschneiden sich die Rolle des Prozessberaters und die des Experten. Der Helfer oder Berater bringt eigene Gedanken oder Vorschläge ins Spiel: „Sind Sie schon einmal auf den Gedanken gekommen, ...?“, „Haben Sie XY zur Rede gestellt?“. Sie führen Ideen, Begriffe und Gedanken ein, die der Klient selbst nicht geäußert hat.
Teamarbeit und Teamführung
Der Sinn der Teamarbeit ist, dass jeder den anderen hilft. Jeder ist zugleich Klient und Helfer. Theatergruppen und Sportmannschaften sind gute Beispiele für Teams. Nur wenn jeder seinen vollen Einsatz bringt, gelingt das Teamwork. Das Team darf also von keinem Einzelnen im Stich gelassen werden. Achten Sie bei der Teamführung darauf, dass alle Einzelbeiträge Anerkennung finden und evtl. bestehende Statusunterschiede ausgeglichen werden. Ist die Teamarbeit unzulänglich, hilft der Teamleiter in erster Linie dem schwächsten Glied in der Kette.
„Die Leitung einer Organisation impliziert, den Mitarbeitern bei der Durchführung ihrer Aufgaben zu helfen.“
Feedback ist das weitaus wichtigste Mittel, um den Ausgleich im Team herzustellen. Das Ziel muss klar sein, Zwischenergebnisse und Fortschritte werden ausdrücklich identifiziert, ungeeignetes Verhalten korrigiert. So treffen sich beispielsweise gute Ärzteteams regelmäßig zur Nachbesprechung einer Operation. Jegliches Feedback muss erbeten, spezifisch und konkret, beschreibend, aber nicht wertend sein.
„Bei der Arbeit an der Veränderung einer Organisation muss der Helfer ständig zwischen der Rolle des Prozessberaters und der des Experten/Arztes wechseln.“
Als Teamleiter sind Sie in erster Linie der Prozessberater, sprich der Helfer Ihres Teams. Durch möglichst zurückhaltende Befragung machen Sie das Team zu Ihrem Klienten, statt voreilig mit fertigen Expertenlösungen vorzupreschen. Dies gilt im Übrigen auch für jedes erfolgreiche Change-Management. Nur wenn Sie verstehen, was bei Ihrem Team im Hintergrund tatsächlich abläuft, können Sie eine nachhaltige Veränderung erreichen. Führungscoaching konzentriert sich aus diesem Grund darauf, Manager zu Prozessberatern zu machen, keineswegs aber zu Experten oder Ärzten, die nach schneller Diagnose eine Therapie verordnen. Unternehmensberater stehen zweifellos vor einer besonders heiklen Aufgabe, wenn der Unternehmer oder Topmanager, der ein Klient ist, sich letztlich als das eigentliche Problem erweist.