Die Götter in Grau
Die Analysten sind zu Stars an der Börse aufgestiegen. Konzernbosse lauschen gebannt ihren Worten. In den USA spielen die Analysten bereits seit Jahren eine gewichtige Rolle in der Wirtschaft, ein Konzernboss verbringt 20-30 % seiner Arbeitszeit in Gesprächen mit ihnen. Aus den bis vor wenigen Jahren wenig beachteten Analyseabteilungen der Finanzinstitute entwickelten sich wichtige Ressorts, die die Wirtschaft ankurbeln und ideale Marktinstrumente darstellen. Doch brachte diese Entwicklung auch Schwierigkeiten mit sich: Auf der einen Seite fehlt aufgrund der schnellen Entwicklung der fähige Nachwuchs, auf der anderen Seite zieht das "grosse Geld", das man als Analyst verdienen kann, viele Scharlatane an. Besonders über Unternehmen aus dem Umfeld des Neuen Marktes und der Nasdaq wurden Fehlurteile ausgesprochen, die schlimme Auswirkungen hatten. Ziel eines jeden Analysten ist es natürlich, an die Spitze zu kommen, auf den vorderen Plätzen der Ranglisten renommierter Börsenmagazine zu stehen. Inzwischen sind auch Vertreter der deutschen Analystengilde dort zu finden.
Advokaten der Aktionäre
Die Analysten sind zu Kontrollorganen der internationalen Finanzmärkte geworden. Dabei ist ein fähiger Analyst angewiesen auf eine grosse Anzahl intensiver Kontakte, um möglichst viele wichtige und verlässliche Informationen zu sammeln. Das Urteil sollte kurz und objektiv und im Sinne der Anleger ausfallen. Doch v. a. hinsichtlich der Objektivität ergeben sich oft Interessenskollisionen, beispielsweise wenn das zu beurteilende Unternehmen Kunde der eigenen Investmentbank ist.
Ein Tag im Leben eines Analysten
Analysten stehen unter aussergewöhnlich hohem Zeitdruck. Sie müssen immer auf dem aktuellsten Stand sein und möglichst schnell ihr Urteil fällen, ansonsten ist die gerade erhaltene Information vielleicht wieder veraltet. Hauptinhalt ihrer Tagesarbeit ist die Recherche. Als Quellen dienen dabei sowohl Zeitungen als auch Marktstudien, Reisen zu den Unternehmen, Telefonate mit Vorständen oder Marktbeobachtern oder auch das Internet. Die mitunter wochenlange Recherche zuzüglich ausgeklügelter Modelle und die nötige Menschenkenntnis führt schliesslich zum Aussprechen eines von drei Worten: Kaufen - Halten - Verkaufen.
Analysten - Medienstars?
Mittlerweile ist es nicht nur so, dass Medien sich auf jeden Analysten stürzen, der gewagte Prognosen macht (auch wenn er damit nicht richtig liegt), sondern auch die Zunftmitglieder selbst nutzen ganz bewusst die Medien, um mit ihrer Hilfe an die Öffentlichkeit zu treten, sich zu verkaufen, bekannt zu werden. Die Medien wurden zum Selbstvermarktungsinstrument der Analysten. Mit dieser Art der Selbstpräsentation stieg natürlich deren Marktwert und auch ihr Gehalt - mitunter in astronomische Höhen. Aber damit war nicht automatisch eine Überschwemmung des Marktes mit Analysten verbunden. Ganz im Gegenteil, die Anzahl der Analysten ist erstaunlich gering, es herrscht Nachwuchsmangel. Der harte Konkurrenzkampf und der Erfolgsdruck bewirken eine strenge Auslese. Wer mehrfach falsche Prognosen aufstellt, ist schnell weg vom Fenster. Vielen Analysten fehlt zudem die nötige Branchenkenntnis. Aus diesem Grund sind Quereinsteiger, die aus gefragten Branchen ins Börsengeschäft wechseln, besonders interessant für die Finanzinstitute und werden von diesen gesucht.
Warum Analysten so selten zum Verkauf raten
Analysten stehen häufig im Kreuzfeuer der Kritik, weil sie eher zum Kaufen raten - weniger zum Verkaufen. Sind sie zu wenig objektiv? Handeln sie im Grunde nur im Interesse der Unternehmenskunden und lassen die privaten Anleger völlig ausser Acht? Untersuchungen haben tatsächlich ergeben, dass sich die Kurspropheten nur in 5 von 100 Fällen zu einer klaren Verkaufsempfehlung durchringen können. Meistens sitzen die Analysten zwischen den Stühlen. Eine schlechte Kaufempfehlung wird eher verziehen, doch eine falsche Verkaufsempfehlung endet nicht selten mit der Kündigung - denn man tritt damit vielen auf die Füsse.
„Analysten gehören heute in der Tat zu den Schlüsselfiguren der internationalen Finanzmärkte.“
Ein weiteres Argument ist, dass man sich schon aus Zeitgründen nur mit Kaufempfehlungen beschäftigen könne, denn auf der Kaufliste stünden genügend Firmen. Für eine genauere Analyse der unattraktiveren Firmen, die aus welchen Gründen auch immer von der Liste verschwinden würden, sei einfach keine Zeit. Hinzu kommen bankpolitische Gründe. Ist das Unternehmen, für dessen Aktien man eigentlich eine Verkaufsempfehlung aussprechen müsste, Kunde der eigenen Investmentbank, so wirkt sich das natürlich negativ auf das Haus aus. Trotzdem betonen die Research-Abteilungen der deutschen und internationalen Grossbanken immer wieder ihre Unabhängigkeit und verweisen auf die strengen Regeln ihrer Zunft.
Der Sprachcode der Analysten
Mehr als in jeder anderen Branche bereitet die Fachsprache der Analysten dem Laien grosse Probleme. Dabei sind nicht etwa komplizierte Fachausdrücke die Ursache der Verständigungsschwierigkeit, sondern die offenkundige Diskrepanz zwischen dem, was die Analysten sagen, und dem, was sie damit meinen. Das beste Beispiel dafür ist die Empfehlung "Halten": Jeder Laie versteht bei dieser Empfehlung zunächst, er solle seine Aktie "behalten". Doch weit gefehlt! Je nachdem, ob die Aktie vorher zum Kauf oder zum Verkauf empfohlen wurde, ist "Halten" als "Behalten" oder "Abstossen" zu verstehen. Da die Analysten jedoch aus Konkurrenzgründen und aus Sorge, den Arbeitsplatz zu verlieren, selten eine direkte Verkaufsempfehlung aussprechen, ist "Halten" zur schlechtesten Empfehlung geworden und damit zur verkappten Verkaufsempfehlung.
Analysten und IPO (Initial Public Offering)
Natürlich ist das offizielle Ziel der Analysten, den Gang an die Börse (IPO) nur für Unternehmen zu empfehlen, von denen sie absolut überzeugt sind. Doch schaut man hinter die Kulissen, wird auch dem Laien schnell bewusst, dass die Analysten keineswegs die unabhängigen Wächter oder Richter der Börse sind.
„Ohne die Arbeit der Analysten funktioniert ein moderner Kapitalmarkt nicht mehr.“
Bei grösseren Emissionen werden entsprechend grosse Konsortien gebildet, wodurch auch Analysten einer Nicht-Leadbank die Einschätzung des Unternehmens und des Emissionspreises ermöglicht wird. Doch in der Regel wird das Unternehmen von den Analysten der Konsortialbank gecovert. Fatal wird es bei einer Überschätzung des Wertpapiers, was bedauerlicherweise nicht selten vorkommt: Von 105 Neuemissionen am Neuen Markt seit April 2000 konnte nur ein knappes Drittel einen Gewinn gegenüber dem Ausgabepreis vorweisen. Das führte natürlich zu einem starken Vertrauensverlust gegenüber den Analysten allgemein.
„Die fundierte und treffende Analyse ist nur die eine Seite der Medaille, sie richtig zu vermarkten, kommt mindestens eine ebenso grosse Bedeutung zu.“
Grössere Bankhäuser trennen ihre IPO- und Sell-Side-Analysten. Erstere analysieren noch nicht notierte Aktiengesellschaften. Sie erstellen mit dem IPO-Team des Unternehmens das "Factbook" - ein Grundlagenpapier über den Börsenkandidaten. Ihr Job ist mit dem Tag, an dem das Unternehmen an die Börse geht, beendet. Nun wird es von den Sell-Side-Analysten begleitet und beobachtet. Sie empfehlen die Aktie zum Kauf - oder auch nicht. Doch die Unabhängigkeit der Analysten ist damit nicht garantiert und wird es wohl auch nie sein. Die Vorstände der Börsenkandidaten erwarten, dass die Analysten ihnen auch noch nach dem Börsengang die Stange halten und nicht gleich wieder mit einem "Verkaufen" das Genick brechen. Vielleicht wäre es aber besser gewesen, solche Negativempfehlungen viel öfter auszusprechen, dann hätte sicherlich am Neuen Markt einiges verhindert oder gemildert werden können.
Bitte zum Verhör
Zuhören, verstehen, interpretieren - das müssen Analysten können, um möglichst sichere Prognosen abgeben zu können. Dabei ist der Umgangston in Deutschland wesentlich "ziviler" als in der angelsächsischen Finanzwelt. Die Gespräche zwischen amerikanischen Unternehmen und ihren Analysten werden scherzhaft auch "Grillparties" genannt und sind von einem sehr scharfen Ton geprägt. Ihre verhörähnlichen Methoden, so argumentieren die Engländer und Amerikaner, demonstrieren und unterstreichen die Unabhängigkeit der Analysten, deren Einfluss und Macht.
Hauptsache Coverage
Bankanalysten sollten bei der Auswahl, welches Unternehmen sie covern, im Interesse der Aktionäre handeln. Stehen die Aktien eines Unternehmens aber im Mittelpunkt des Interesses von Fondsmanagern und grösseren Privatanlegern, nimmt eine Vielzahl von Analysten diesen Kandidaten zumindest auf ihre "Watchlist", d. h. sie beobachten ihn eine Zeit lang regelmässig. Es werden in der Regel keine Unternehmen gecovert, die einen Börsenwert von weniger als 200 Millionen Euro haben, da sich der ganze Aufwand in solchen Fällen überhaupt nicht lohnt.
Zwischen Kalkulation und Kaffeesatz
Besonders am Neuen Markt haben Analysten grosse Schwierigkeiten, aufgrund fundierter Recherchen verlässliche Prognosen abzugeben. Hier können viele Unternehmen keinerlei Unternehmensgeschichte vorweisen, Quartalsberichte werden generell ungern abgegeben, oft bleibt den Analysten nur das Vertrauen zu dem jeweiligen Unternehmensvorstand. Gut vorbereitete Analysten kommen mit einer ausgeklügelten Frageliste zu ihrem Kandidaten. Einen grossen Vorteil haben natürlich die Analysten, die fundierte Branchenkenntnisse mitbringen. Doch letztlich bleibt jede Prognose immer mit einem Risiko behaftet, denn die Situation an der Börse kann sich aufgrund einer Vielzahl von unberechenbaren Faktoren sehr schnell ändern.
„Es gibt Phasen, in denen man mit den Wölfen heulen muss, wenn man keine Marktanteile verlieren will, man im Zweifel aber besser die eine oder andere Emission auslässt.“
Die Analysten untersuchen zunächst den Wettbewerb und den Markt, in dem sich ihr Kandidat bewegt: Konkurrenten und deren Geschäftsstrategien, Marktführer, technologische Entwicklungen, Positionierung des Kandidaten in diesem Umfeld. Dann werden verschiedene Formen des Betriebsergebnisses verglichen. In der Regel braucht ein junger Analyst sechs Monate, um sich in ein neues Unternehmen einzuarbeiten und die entsprechenden Markttrends zu erkennen.
Bewertung vor und nach dem IPO
Je tiefer die Bewertung, umso höher ist die Gewinnchance des Anlegers nach Aufnahme des Börsenhandels. Zu hohe Ausgabekurse können schnell von der Realität eingeholt werden und so kurz nach Börsengang zum Absturz der Aktie und des Ansehens des Börsenkandidaten führen. Nach dem IPO gilt natürlich: Je höher die Bewertung, umso besser. Aufgabe der Analysten ist, nach dem IPO den wahren Wert des Unternehmens festzulegen. Am stabilsten, das hat sich in den letzten Monaten wiederholt bestätigt, erweisen sich hier immer noch die Unternehmen der Old Economy.