Die entscheidende Abhandlung

Buch Die entscheidende Abhandlung

oder die Bestimmung des Zusammenhangs zwischen religiösem Gesetz und Philosophie

Córdoba (?) , um 1180
Diese Ausgabe: Reclam,


Worum es geht

Kleiner Punkt, große Wirkung

Im Koran heißt es mit Bezug auf einen unklaren Vers: „Aber niemand weiß um dessen In­ter­pre­ta­tion außer Gott. Und diejenigen, die ein gründliches Wissen haben, sagen ...“ (Sure 3,7). Dieser Satz wird von manchen aber auch anders gelesen: „Aber niemand weiß um dessen In­ter­pre­ta­tion außer Gott und denjenigen, die ein gründliches Wissen haben. Sie sagen ...“. Wenn man unter denen, die ein gründliches Wissen haben, nun die Philosophen versteht, sind diese quasi von höchster Stelle dazu autorisiert, den Koran auszulegen – im Ernstfall auch abweichend vom wörtlichen Sinn der Schrift. Averroes vertrat diese Ansicht. Das bot und bietet bis heute reichlich Zündstoff unter Muslimen, ins­beson­dere bei orthodoxen Gläubigen, die den Koran wortwörtlich oder in den engen Grenzen der überliefer­ten In­ter­pre­ta­tion verstanden wissen wollen. Averroes dagegen glaubte: Die religiösen Schriften des Islam halten jeden gläubigen Muslim, der über entsprechende geistige Fähigkeiten verfügt, zum Studium der Philosophie an. Nur wer philosophisch gebildet ist, kann den Koran korrekt in­ter­pretieren. Und über niemanden sollte vorschnell das Urteil des Unglaubens verhängt werden. Eine erstaunlich moderne Sichtweise, die Die entschei­dende Abhandlung auch im 21. Jahrhundert zu einem lesenswerten Büchlein macht.

Take-aways

  • Die entschei­dende Abhandlung ist ein philosophis­ches Traktat des mit­te­lal­ter­lichen islamischen Gelehrten Averroes (Ibn Rushd).
  • Inhalt: Philosophie und Religion sollten miteinander versöhnt werden. Wenn Erken­nt­nisse, die mit logischen oder wis­senschaftlichen Mitteln gewonnen wurden, dem Koran wider­sprechen, sollten sie nicht als Unglaube verurteilt werden. Manche Koranverse müssen nicht wörtlich verstanden werden: Gelehrte dürfen sie nach den strengen Regeln der aris­totelis­chen Beweislehre in­ter­pretieren.
  • Der Form nach ist das Werk ein Rechtsgutachten, das klären soll, ob es einem Muslim erlaubt oder sogar befohlen ist, sich mit Philosophie zu beschäftigen.
  • Im Kern ist es eine Vertei­di­gungss­chrift der Philosophie gegen orthodoxe Muslime, die keinen Widerspruch gegen die überlieferte islamische Lehre dulden.
  • Revolutionär war an Averroes’ These, dass es Zugänge zur Gotte­serken­nt­nis geben kann, die neben dem Koran oder an seiner Stelle existieren.
  • Averroes war für seine Aris­tote­les-Kom­mentare berühmt. Aristoteles war das Vorbild, an dem er seine eigene philosophis­che Haltung ausrichtete.
  • Mit der Entschei­den­den Abhandlung führte Averroes eine Debatte weiter, die seine Vorgänger Avicenna und Gazali begonnen hatten.
  • Averroes’ philosophis­che Schriften wurden erst im 19. Jahrhundert wieder­ent­deckt.
  • Viele der von ihm aufge­wor­fe­nen Fragen werden bis heute diskutiert.
  • Zitat: „Doch die Philosophie ist die Gefährtin der Religion und ihre Milch­schwester; und das Unrecht vonseiten derer, die man mit ihr in Verbindung bringt, ist das schlimmste Unrecht, ganz abgesehen von der Feind­seligkeit, dem Hass und dem Streit, die dadurch zwischen diesen beiden entstehen, während die beiden doch von Natur aus Weggefährtinnen und einander in Liebe zugeneigt sind (…)“
 

Zusammenfassung

Ist Philosophie erlaubt?

In welchem Verhältnis steht die Philosophie zum islamischen Glauben und seinen Gesetzen? Ist das Studium der Philosophie dem Gläubigen erlaubt, vielleicht sogar angeraten? Oder ist es im Gegenteil verboten?

Philosophie kann als das be­tra­ch­t­ende Studium aller seienden Dinge verstanden werden. Alle seienden Dinge verweisen, da sie erschaffen wurden, auf ihren Schöpfer und Urheber. Die religiöse Satzung fordert dazu auf, über die Dinge nachzu­denken und etwas über ihre Erschaffung her­auszufinden. Damit vermehrt man nämlich zugleich sein Wissen über den Schöpfer. Die Satzung verpflichtet dazu, über die seienden Dinge nachzu­denken. Das tut man, indem man vom Bekannten auf das Unbekannte schließt, also logische Schlüsse mithilfe des Verstands zieht. Auf vollendete Art und Weise gelingt dies mithilfe des apodik­tis­chen Beweises. Es ist darum unerlässlich, zunächst einmal alles über diese Beweisform zu lernen und zu erfahren, wie sie sich von anderen un­ter­schei­det, etwa vom di­alek­tis­chen oder rhetorischen Beweis. Man muss also das Werkzeug erwerben, das man für das Studium der seienden Dinge benötigt.

Das Studium der Philosophie

Nachdem die Verpflich­tung zu dieser Art des Studiums erkannt wurde, soll die apodik­tis­che Methode genauer untersucht werden. Das kann aber nicht von einem Gelehrten allein geleistet werden: Jeder muss auf die Erken­nt­nisse seiner Vorgänger aufbauen. Dabei ist es nicht wichtig, ob es sich bei diesen Vordenkern um Muslime gehandelt hat oder nicht – es geht ja lediglich um das Werkzeug. In anderen Bereichen ist es schließlich auch unerheblich, ob das Werkzeug von einem Glaubensgenossen hergestellt und vor uns von solchen genutzt wurde oder nicht.

„Das Vorhaben dieser Abhandlung ist es, aus re­li­gion­s­ge­set­zlicher Sicht zu untersuchen, ob das Studium der Philosophie und der Disziplinen der Logik von der Satzung erlaubt oder verboten oder befohlen ist, und ob es dies ist entweder im Sinne einer Empfehlung oder im Sinne einer verpflich­t­en­den Vorschrift.“ (S. 11)

Die Schriften der Vorgänger sollen studiert und genau untersucht werden. Wenn diese mit ihren Überlegungen richtig liegen, können ihre Ergebnisse übernommen werden; etwaige Fehler sollte man ihnen verzeihen. Die religiösen Gesetze halten dazu an, die Schriften der alten Philosophen zu studieren. Den Zugang dazu und ihr Studium zu verbieten, hieße, die Erkenntnis Gottes zu verbieten. Die Vo­raus­set­zun­gen für das Studium müssen jedoch erfüllt werden, das heißt, die betreffende Person muss von Natur aus intelligent genug und tugendhaft im Sinne des islamischen Glaubens sein. Natürlich ist es durchaus möglich, dass Menschen durch das Studium der alten Schriften auf falsche Ideen verfallen. Der Grund dafür liegt jedoch nicht in den Schriften selbst, sondern zum Beispiel in einem Überlegungs­fehler oder in der Unfähigkeit des Lehrers. Der mögliche Schaden, der durch solche Fehler entstehen kann, ist keine Recht­fer­ti­gung dafür, die Schriften vollständig zu verbieten. Man würde ja auch einem Ver­durs­ten­den kein Wasser voren­thal­ten mit der Begründung, dass er sich daran ver­schlucken und ersticken könnte.

„Wenn die Tätigkeit der Philosophie nichts weiter ist als das be­tra­ch­t­ende Studium der seienden Dinge und das Nachdenken über sie, insofern sie auf den er­schaf­fenden Urheber verweisen (...), und wenn die Satzung dazu auffordert und anspornt, die seienden Dinge zu bedenken, so ist es klar, dass das, worauf die Bezeichnung ,Philosophie‘ verweist, von der Satzung vorgeschrieben oder empfohlen ist.“ (S. 11)

Das religiöse Gesetz fordert alle Muslime dazu auf, nach der Glückseligkeit zu streben, die man durch die Erkenntnis Gottes und der er­schaf­fe­nen Dinge erlangt. Je nach Veranlagung un­ter­schei­den sich die Menschen in der Art, wie sie Urteile fällen und zur Erkenntnis gelangen. Möglich sind di­alek­tis­che, rhetorische oder apodik­tis­che Schlüsse und alle drei haben dem religiösen Gesetz zufolge die gleiche Berech­ti­gung.

Widersprüche zwischen Islam und Philosophie

Was das Verhältnis zwischen religiösem Gesetz und Philosophie betrifft, gibt es zwei Aus­gangsla­gen: Entweder wird der Sachverhalt, den man mit einem Schluss belegt, im Gesetz erwähnt, oder er wird nicht erwähnt. Der zweite Fall ist klar: Genau wie andere Wis­senschaften auch findet die Philosophie dann, ausgehend von der religiösen Satzung, etwas Neues heraus. Im ersten Fall kommt man auf apodik­tis­chem Weg entweder zu demselben Ergebnis wie das Gesetz (dann besteht kein Problem) oder zu einem anderen Ergebnis. Ist Letzteres der Fall, sollte untersucht werden, ob man den Wortlaut der entsprechen­den Textstelle im Gesetz auf bestimmte Art und Weise in­ter­pretieren muss. Vielleicht handelt es sich um eine metapho­rische Wendung und der tatsächliche Sinn der Aussage muss erst erschlossen werden.

„Die Lehren über die Welt weichen also nicht so sehr voneinander ab, dass die einen als Unglaube zu verurteilen sind und die anderen nicht.“ (S. 30)

Wer darüber nachdenkt, erkennt, dass es ein er­strebenswertes Ziel ist, zu zeigen, dass die in­tellek­tuellen Erken­nt­nisse mit der Überliefer­ung übere­in­stim­men. Dadurch werden die Ergebnisse umso gewisser. Wenn eine In­ter­pre­ta­tion nötig wird, weil Erkenntnis und Überliefer­ung nicht übere­in­stim­men, dann findet sich vielleicht an anderer Stelle eine For­mulierung, die die Erkenntnis auch dem Wortlaut nach untermauert.

„Es scheint, dass diejenigen, die in diesen schwierigen Fragen ver­schiedener Meinung sind, entweder das Richtige getroffen haben und entsprechen­den Lohn erhalten oder aber das Ziel verfehlt haben und entschuldigt werden.“ (S. 31)

Wörtlicher oder übertragener Sinn der Schrift In der Ver­gan­gen­heit haben sich feste Meinungen darüber gebildet, welche Verse des religiösen Gesetzes wörtlich zu nehmen sind und welche in­ter­pretiert werden müssen. Mit apodik­tis­chen Beweisen kann man durchaus zu anderen Ergebnissen kommen, etwa dahin, dass eine wörtlich aufgefasste Passage doch in­ter­pretiert werden muss – allerdings nur, wenn die alte Meinung auf Annahmen und nicht auf sicheren Erken­nt­nis­sen beruht. Wer die Tradition anzweifelt, ist also nicht automatisch ein Ungläubiger.

„Wenn eine solche Art von Text, der gemäß dem äußeren Wortsinn zu verstehen ist, die Grundlagen der Satzung betrifft, dann ist derjenige, der diesen Text einer In­ter­pre­ta­tion unterwirft, ein Ungläubiger (...)“ (S. 34)

Betrachten wir das Problem von Gott und dem partikulären Wissen: Den peri­patetis­chen (der Schule des Aristoteles anhängenden) Philosophen warf man vor, sie würden behaupten, dass Gott kein Wissen von den Einzeldin­gen habe. In Wahrheit sind sie jedoch der Ansicht, dass sich das Wissen von Gott als Schöpfer fundamental von dem un­ter­schei­det, was wir unser Wissen nennen. Dieses erhalten wir nämlich von den Dingen und es erstreckt sich zum Beispiel nicht, wie das Wissen Gottes, auf zukünftige Dinge. Gott hat bereits Wissen über einen Gegenstand, bevor es ihn gibt, wir dagegen können nur durch den Gegenstand erkennen. Die Eigen­schaften partikulär und universal sind also einfach nicht anwendbar auf das göttliche Wissen. Diese Erkenntnis macht jedoch niemanden zum Ungläubigen.

Ist die Welt ewig oder erschaffen?

Eine weitere Streitfrage ist, ob die Welt erschaffen oder ewig ist. Heutige und frühere Philosophen scheinen sich einig zu sein, dass es auf der einen Seite die er­schaf­fe­nen Dinge gibt, die durch eine wirkende Ursache existieren, und auf der anderen Seite das Urewige, das unabhängig von der Zeit und irgendeiner Ursache existiert; das ist Gott. Dazwischen steht die Welt, die beides ist, unendlich und erschaffen, wenn auch beides nur in gewisser Weise: Denn Er­schaf­fenes ist nor­maler­weise vergänglich (was die Welt nicht ist) und das wirklich Ewige hat keine Ursache (die Welt dagegen hat eine Ursache, nämlich Gott). Es geht also bei dem besagten Streit darum, welche Eigenschaft der Welt man in den Vordergrund stellt. Die daraus re­sul­tieren­den Un­einigkeiten sind kein Grund, den jeweils anderen des Unglaubens zu bezichtigen.

Ver­schiedene Arten von Fehlern

In solchen schwierigen Fragen kann auch der Gelehrte irren. Sein Fehler ist entschuld­bar, wenn er sich ernsthaft bemüht hat. Wer aber ohne Studium ein falsches Urteil fällt, sündigt, denn die Kenntnis der Grundlagen und Methoden ist Vo­raus­set­zung für ein Urteil. Es gibt also Fehler, die man dem Gelehrten verzeiht, wie man einem Arzt oder Richter einen Fehler nachsieht, und es gibt Fehler, die nicht zu entschuldigen sind, weil sie die Prinzipien der Religion verletzen (das nennt man Unglauben) oder einem damit zusammenhängenden Bereich wider­sprechen (das nennt man häretische Neuerung). Zu den un­verzeih­lichen Fehlern gehört etwa, wenn man Gott, die Propheten­schaft oder das Jenseits leugnet, obwohl jede Beweiskette zu dem Schluss führen muss, dass sie existieren.

„Daher ist es notwendig, dass In­ter­pre­ta­tio­nen nur in apodiktisch beweisenden Büchern fest­ge­hal­ten werden, denn wenn sie sich dort drin befinden, haben nur die Leute des apodik­tis­chen Beweises darauf Zugriff.“ (S. 38)

Wenn eine Erkenntnis über einen der drei Wege (rhetorischer, di­alek­tis­cher und apodik­tis­cher Beweis) offenbar wird und der wörtlichen Sinnebene im religiösen Gesetz entspricht, darf dieser Abschnitt nicht in­ter­pretiert werden. Das betrifft zum Beispiel die Erkenntnis, dass es im Jenseits Glückseligkeit und Pein gibt. Neben den Versen, die nicht in­ter­pretiert werden dürfen, gibt es solche, die von geschulten Leuten mithilfe des apodik­tis­chen Beweises in­ter­pretiert werden sollten. Es gibt eine dritte Gruppe von Versen, bei der Uneinigkeit darüber herrscht, ob sie wörtlich verstanden oder in­ter­pretiert werden soll. Bei diesen un­durch­sichti­gen Passagen sind Fehler entschuld­bar.

Zielgruppe der In­ter­pre­ta­tio­nen

In­ter­pre­ta­tio­nen des religiösen Gesetzes mithilfe apodik­tis­cher Beweise heben den eigentlichen Wortlaut auf und setzen den in­ter­pretierten Sinn an seine Stelle. Bei manchen Menschen, die nicht zu apodik­tis­chen Beweisen fähig sind, lösen sie Unglauben aus und sind aus diesem Grund von ihnen fernzuhal­ten. Ihnen sagt man einfach, die Stelle sei unklar und Gott allein wisse, was sie bedeute.

„Du solltest wissen, dass die Absicht der Satzung genau darin besteht, das wahrhaftige Wissen und das wahrhaftige Handeln zu lehren.“ (S. 40)

Philosophen sind wie Ärzte, die den Patienten Anweisungen geben, was sie tun sollen, um Krankheiten zu vermeiden. Wenn nun einer kein Arzt ist, sollte er diese Anweisungen nicht infrage stellen. Denn die Leute haben nicht die nötige Bildung, um sich selbst ein Urteil über diese Dinge zu machen – und der Zweifler kann auch keine Alternative aufzeigen. Das gilt sowohl für den Fall, dass man der All­ge­mein­heit wahre In­ter­pre­ta­tio­nen verkündet, als auch für jenen, dass es falsche sind. Die Menschen werden nur verwirrt und auf Distanz zum Gesetz gebracht. Der Gesetzgeber ist für die Gesundheit der Seele, die Gottes­furcht, ve­r­ant­wortlich. Diese wird durch Handlungen angestrebt, die der Satzung entsprechen. Wer in diesem Sinn gesund ist, den erwartet Glückseligkeit im Jenseits, wer krank ist, den erwartet Pein.

Missbrauch von In­ter­pre­ta­tio­nen und die Folgen

Die In­ter­pre­ta­tio­nen des religiösen Gesetzes sind ein Gut, das den Menschen von Gott anvertraut wurde. Ihre Verbreitung unter der breiten Masse hat in der Ver­gan­gen­heit innerhalb des Islam zu Spaltungen geführt und dazu, dass sich einzelne Gruppen wie die Mutaziliten und die Aschariten gegenseitig Unglauben vorwerfen. Die Folgen waren Hass und Krieg. Die Methoden dieser Leute entsprechen weder den Grundsätzen der breiten Masse (denn sie sind für die meisten unverständlich und dunkel) noch denen der Philosophen, denn sie erfüllen die Vo­raus­set­zun­gen der apodik­tis­chen Beweise nicht.

„Das Verhältnis des Arztes zur Gesundheit des Leibes entspricht nämlich dem Verhältnis des Geset­zge­bers zur Gesundheit der Seele (...). Ebendiese Gesundheit wird ‚Gottes­furcht‘ genannt (...)“ (S. 47)

Die Aschariten etwa begründen ihre Erken­nt­nisse mit falschen Annahmen, zum Beispiel indem sie leugnen, dass es zu jeder Wirkung eine Ursache geben muss. Einige Aschariten haben Philosophen als Ungläubige verurteilt, weil sie nicht dieselben Methoden der Gotte­serken­nt­nis genutzt haben wie sie. Das macht jedoch eher sie selbst zu Ungläubigen. Sie haben nicht erkannt, dass es ver­schiedene Zugänge zur religiösen Satzung gibt – über den Glauben und über das be­tra­ch­t­ende Studium.

Die Philosophie als Gefährtin der Religion

In der Frühzeit des Islam haben sich die Menschen einfach wörtlich an die religiösen Weisungen gehalten. Dadurch sind sie fromm und vorzüglich geworden. Manche haben Verse in­ter­pretiert, doch ihre Ergebnisse für sich behalten. Erst später haben In­ter­pre­ta­tio­nen zu Mei­n­ungsver­schieden­heiten und Zer­split­terung geführt. Eine sorgfältige Prüfung der Anweisungen des Gesetzes zeigt, dass diese durch In­ter­pre­ta­tion kaum klarer und deutlicher werden können. Die re­li­gion­s­ge­set­zlichen Aussagen im Koran haben drei wichtige Eigen­schaften: Erstens können sie besser als alle anderen Aussagen die Zustimmung der Menschen erwirken, zweitens sind sie von Natur aus überlegen und erlauben meist keine In­ter­pre­ta­tion (wenn überhaupt, dann nur von Menschen, die die apodik­tis­che Methode beherrschen), drittens enthalten sie für entsprechend gebildete Menschen Hinweise, die diese zur wahren In­ter­pre­ta­tion führen.

„Doch die Philosophie ist die Gefährtin der Religion und ihre Milch­schwester; und das Unrecht vonseiten derer, die man mit ihr in Verbindung bringt, ist das schlimmste Unrecht, ganz abgesehen von der Feind­seligkeit, dem Hass und dem Streit, die dadurch zwischen diesen beiden entstehen, während die beiden doch von Natur aus Weggefährtinnen und einander in Liebe zugeneigt sind (...)“ (S. 52)

Die korrekte In­ter­pre­ta­tion ist eine lohnenswerte Aufgabe und die Erken­nt­nisse sollen den folgenden Gen­er­a­tio­nen überlassen werden. Das religiöse Gesetz leidet unter verdorbenen In­ter­pre­ta­tio­nen, die vor allem von jenen verschuldet werden, die mit der Philosophie zu tun haben. Die Philosophie sollte jedoch die Gefährtin der Religion sein; sie darf nicht Hass her­auf­beschwören oder zu Ab­spal­tun­gen führen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der Form nach ist Die entschei­dende Abhandlung ein Rechtsgutachten, das in einem mehrschrit­ti­gen Verfahren klären soll, ob es einem Muslim erlaubt oder sogar befohlen ist, sich mit der Philosophie zu beschäftigen. In 85 Abschnitten und einem Zusatz (der die Form eines Briefs hat und womöglich an den Kalifen adressiert war) setzt sich Averroes mit dem Verhältnis von Religion und Philosophie auseinander. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob mit dem Verstand gewonnene Erken­nt­nisse Aussagen des Korans widerlegen können bzw. dürfen. Nach einer allgemeinen Einführung ins Thema nutzt der Autor mehrere Beispiele zeitgenössischer Stre­it­fra­gen, um zu zeigen, wie ein Kompromiss zwischen religiöser Lehre und philosophis­cher Erkenntnis aussehen kann. Um seine Argumente nachvol­lziehen zu können, ist eine grundle­gende Vorbildung in philosophis­chen Schlussfor­men unerlässlich – die setzt Averroes auch immer wieder explizit voraus. Wenn man diese Vorbildung jedoch hat, erkennt man schnell viele seiner Argumente als lückenhaft, oft sind sie nur wenig überzeugend. Dennoch bietet die mit knapp 60 Seiten sehr kurze Schrift einen spannenden Einblick in die philosophis­chen und religiösen Debatten des mit­te­lal­ter­lichen Islam und in die jahrhun­dertealte Tradition der Ko­ranausle­gung.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die Abhandlung ist vor allem eine Vertei­di­gungss­chrift der Philosophie gegenüber orthodoxen Muslimen, die keinen Widerspruch gegen die überlieferte islamische Lehre und die wörtliche Ko­ranausle­gung dulden wollen. Averroes recht­fer­tigt nicht nur das philosophis­che Denken, sondern auch die Beschäftigung mit den antiken Philosophen.
  • Averroes’ These, dass es un­ter­schiedliche Zugänge zur Gotte­serken­nt­nis geben könne – neben dem Koran und auch an seiner statt –, war revolutionär. Averroes wollte zeigen, dass Aussagen des Koran Ausle­gungssache sein können, dass unklare Passagen in­ter­pretiert werden dürfen. Ihm zufolge muss der tradierte Konsens darüber, wie die Verse auszulegen sind, nicht immer zwingend richtig sein.
  • In der Ko­ranausle­gung zeigen sich Parallelen zum christlichen Mittelalter, in dem die Bibel in einem vierfachen Schriftsinn in­ter­pretiert wurde. Auch im Christentum führte die Frage nach der In­ter­pre­ta­tion einzelner Passagen zu Ab­spal­tun­gen (Protes­tanten) und schließlich Kriegen (Dreißigjähriger Krieg). Dass un­ter­schiedliche Ko­ranausle­gun­gen Anlass für Ab­spal­tun­gen, Au­seinan­der­set­zun­gen und gar Kriege waren, war eine Tatsache, die Averroes zutiefst bedauerte und für die Zukunft verhindern wollte.
  • Ein gewisser gelehrter Elitarismus zeigt sich in der Tatsache, dass Averroes die Menschen in drei Gruppen aufteilt, die sich nach den Möglichkeiten ihrer Urteils­for­men (rhetorisch, dialektisch, apodiktisch) un­ter­schei­den. Die Philosophie soll einem kleinen Kreis von Gelehrten vorbehalten bleiben, nur sie sollen philosophis­che Schriften lesen und den Koran in­ter­pretieren dürfen.
  • Averroes verfolgt ein erken­nt­nis­the­o­retis­ches Projekt: Wie fällen wir Urteile? Wie kommen wir zu unseren Erken­nt­nis­sen? Ein halbes Jahrtausend später widmete sich Immanuel Kant mit seiner Urteil­stafel einem ganz ähnlichen Ziel.

His­torischer Hintergrund

Spanien unter maurischer Herrschaft

Im Jahr 711 nahmen maurische Truppen unter der Führung von Tariq ibn Ziyad nach einem achtjährigen Feldzug weite Teile der Iberischen Halbinsel ein, die zuvor unter west­go­tis­cher Herrschaft gestanden hatte. In Südfrankreich wurde das Heer von Karl Martell zurück­geschla­gen; nördlich der Pyrenäen konnten die Afrikaner nicht Fuß fassen. Das maurische Reich erstreckte sich nun von Nordafrika bis Nordspanien. 750 zerfiel das Gebiet nach einem Bürgerkrieg in ver­schiedene Lehen; eine Führungsrolle spielte das Kalifat von Córdoba. Im Zuge der mehrere Jahrhun­derte dauernden Reconquista gelang es christlichen Herrschern, Teile des maurischen Gebiets zurückzuerobern: Die Reiche Asturien, Galizien, Léon, Aragón, Navarra, Katalonien und Kastilien entstanden und wurden später zu Portugal und Spanien.

In der Anfangszeit war die maurische Herrschaft von Toleranz gegenüber anderen Religionen geprägt. Erst mit dem Zusam­men­bruch des Kalifats von Córdoba im Jahr 1031 änderte sich dies. Die Gebiete im heutigen Spanien und Portugal fielen als sogenannte Taifa-Königreiche unter nordafrikanis­che Herrschaft. Anfang des zwölften Jahrhun­derts wurde Andalusien von der Dynastie der Almoraviden beherrscht, die 1147 von den Almohaden abgelöst wurden.

Im Jahr 1212 schlossen sich mehrere europäische Herrscher unter Alfons VIII. von Kastilien zusammen, um die Mauren endgültig aus Zen­tralspanien zu vertreiben – mit Erfolg. Einzig das Emirat von Granada bestand noch weitere drei Jahrhun­derte und brachte Leistungen wie die Alhambra hervor. Erst 1492 fiel die letzte Bastion der Muslime, und die verbleiben­den Muslime und spanischen Juden wurden mit dem Al­ham­bra-Edikt vor die Wahl gestellt, zum christlichen Glauben überzutreten oder Spanien zu verlassen.

Entstehung

Die entschei­dende Abhandlung entstand wahrschein­lich zwischen 1178 und 1180, zu einer Zeit, als Averroes an ver­schiede­nen Orten in Spanien als Richter tätig war. Averroes reagierte mit seiner Schrift auf Fälle, in denen Philosophen des Unglaubens bezichtigt worden waren, weil sie zu anderen Ergebnissen gekommen waren als der Koran und somit der islamischen Lehre wider­sprachen. Zentralen Einfluss auf die Lehre im islamischen Raum nahmen zu jener Zeit Avicenna (Ibn Sina, 980 bis 1037), der zu den ein­flussre­ich­sten Philosophen zählte, sowie der Re­li­gion­s­gelehrte Gazali (1058 bis 1111). Letzterer hatte in seinem Werk Inkohärenz der Philosophen 20 philosophis­che Thesen untersucht und am Ende drei dieser Thesen zum Unglauben erklärt. Sein ver­nich­t­en­des Urteil warf die islamische Philosophie weit zurück – erst 100 Jahre nach Erscheinen seines Werks machte sich Averroes daran, Gazalis Ergebnisse anzufechten, aber auch Avicennas Thesen kritisch zu prüfen.

Averroes nannte als Motiv für das Verfassen der Entschei­den­den Abhandlung, dass es eine öffentliche Diskussion um die religiöse Le­git­i­ma­tion der Philosophie und ein Verbot philosophis­cher Schriften gebe, in die er mit seinen Argumenten eingreifen wolle. Die Schrift war somit der Versuch eines Kom­pro­misses zwischen Religion und Philosophie.

Wirkungs­geschichte

Im europäischen Mittelalter war Averroes vor allem als Aristoteles-Kom­men­ta­tor bekannt, so sehr, dass er, ähnlich wie Aristoteles als „der Philosoph“ bezeichnet wurde, „der Kommentator“ genannt wurde. Eine Strömung innerhalb des Aris­totelis­mus wurde Averroismus genannt. Averroes’ eigenständige philosophis­che Werke, wie Die entschei­dende Abhandlung, waren dagegen kaum verbreitet, da sie erst spät oder gar nicht ins Lateinische übersetzt wurden. Aus dem 13. oder 14. Jahrhundert ist eine hebräische Fassung der Abhandlung überliefert, daneben sind zwei an­dalu­sis­che Hand­schriften aus dem 13. und 14. Jahrhundert bekannt, über die das Werk im arabischen Raum tradiert wurde. Eine intensive Au­seinan­der­set­zung fand aber nicht statt. Auch später, als Averroes’ Aris­tote­les-Kom­mentare wieder das Interesse islamischer Gelehrter fanden, blieb Die entschei­dende Abhandlung wenig beachtet.

Im 19. Jahrhundert setzte im Westen nach der Wieder­ent­deck­ung von Averroes’ Schriften durch Marcus Joseph Müller und der Veröffentlichung erst einer arabischen Ausgabe und dann auch einer Übersetzung einiger Schriften ins Deutsche eine neue Welle der Au­seinan­der­set­zung mit Averroes ein. In der Folge wurden Die entschei­dende Abhandlung und andere Schriften in weitere Sprachen übersetzt. Auch im arabischen Raum beschäftigte man sich wieder mit seinem Werk. Einige der in der Abhandlung ange­sproch­enen The­menkom­plexe werden bis heute im Islam diskutiert: etwa die Frage nach dem Verhältnis zwischen Philosophie und Religion, ins­beson­dere Averroes’ Definition der Aufgabe der Religion, „das wahrhaftige Wissen und das wahrhaftige Handeln zu lehren“, die Frage nach der korrekten Ko­ran­in­ter­pre­ta­tion und die Frage, ob die Welt urewig oder erschaffen ist.

Über den Autor

Averroes (arabischer Name: Ibn Rushd) wird 1126 als Sohn einer Richter­fam­i­lie in Córdoba geboren und studiert Recht, Medizin und Philosophie. Er lebt eine Zeit lang in Marrakesch, wo er ab 1153 in offizieller Funktion unter anderem als Astronom arbeitet. Sein erstes überliefertes Werk Das Notwendige zu den Prinzipien des Rechts wird auf das Jahr 1157 datiert. Der Großteil seiner Schriften setzt sich mit dem Werk Aristoteles’ auseinander, das er kommentiert und gegen den Einfluss ne­u­pla­tonis­cher Denker zu verteidigen sucht. Den Auftrag dazu erhält er angeblich von dem Fürsten und späteren Kalifen Abu Yaqub Yusuf, der ihn auffordert, dem Islam „rein und vollständig die Wis­senschaft“ zu geben. Averroes verfasst nicht nur zahlreiche Kommentare zu Aristoteles, sondern auch eine medi­zinis­che Enzyklopädie, einen Kommentar zum Staat von Platon und ver­schiedene Aufsätze zu religiösen Fragen. Von seinem Werk sind etwa zwei Drittel überliefert. Eine seiner bekannteren Schriften ist Die Inkohärenz der Inkohärenz, mit der er sich gegen das Werk des Gelehrten Gazali mit dem Titel Die Inkohärenz der Philosophen wendet. Vom Kalifen gefördert, wird Averroes Richter in Sevilla und Córdoba, wo er 1180 zum Obersten Richter ernannt wird. Ab 1182 praktiziert er als Hofarzt der berberischen Dynastie der Almohaden. Gegen Ende seines Lebens fällt er beim Kalifen Abu Yusuf Yaqub al-Mansur, der die orthodoxen Kräfte im Land auf seine Seite bringen will, in Ungnade und muss ins Exil nach Lucena gehen. Kurze Zeit später kann Averroes seinen Ruf jedoch wieder­her­stellen und wird re­ha­bil­i­tiert. Er stirbt im Dezember 1198 in Marrakesch.