Das Haus der ungewollten Kinder
In St. Cloudâs in Maine betreibt Dr. Wilbur Larch in den 1920er-Jahren mit UnterstĂŒtzung der KinderkrankenÂschwestÂern Edna und Angela ein Waisenhaus. Larch schreibt auch als Chronist eine Kleine Geschichte von St. Cloudâs. Die Schwestern geben den Waisen vorlĂ€ufige Namen, bis sie von AdopÂtivelÂtern neue bekommen. Nur der Junge Homer Wells findet keine AdopÂtivelÂtern. Nach vier gescheitÂerten Versuchen steht fĂŒr Dr. Larch fest, dass Homer nach St. Cloudâs gehört. Homers erste Adoption scheitert an seiner ungewöhnlichen Wortkargheit. Die zweite Familie nimmt Homer zwar mit, schlĂ€gt ihn aber, bis Larch den misÂshanÂdelÂten Jungen zurĂŒckholt. In der dritten Familie wird Homer beschuldigt, sexuell ĂŒbergriffig geworden zu sein. Die vierten PflegeelÂtern sterben im Wildwasser vor Homers Augen. Als er zum Waisenhaus zurĂŒckkehrt, beschlieĂt Dr. Larch, ihn dort zu behalten, wenn er sich ânĂŒtzlich macheâ.
Die Geschichte von Dr. Larch
Dr. Larchs Vater war Trinker, seine Mutter Putzfrau beim BĂŒrgermeister von Portland, der in Maine die Prohibition eingefĂŒhrt hat. Larch begann sein Studium an der MediÂzinisÂchen Hochschule. Sein stolzer Vater spendierte ihm eine Nacht mit Mrs. Eames, einer Hure, die ihn mit Gonorrhö ansteckte. Am Morgen danach lernte er auch deren Tochterâ ebenfalls eine ProsÂtiÂtuÂierte â kennen. Larch entwickelte infolge seiner Infektion ein Interesse an Bakterien, entdeckte seine Vorliebe fĂŒr den Ătherrausch und entsagte auf Lebenszeit dem Sex. Er wurde Arzt in Boston und lernte die schlimmen UmstĂ€nde kennen, unter denen die Armen ihre Kinder zur Welt bringen. Eines Nachts wurde Mrs. Eames in die Klinik einÂgeliefert. Larch konnte nur noch ihr totes Kind entbinden. Drei Tage darauf starb die Mutter an den Folgen ihrer selbst versuchten Abtreibung.
âGott (oder wer immer) verzeihe mir. Ich habe eine Waise geschaffen; ihr Name ist Homer Wells, und er wird immer nach St. Cloudâs gehören.â (Dr. Larch, S. 39)
Als auch Mrs. Eamesâ Tochter mit einem AbÂtreiÂbungswunÂsch zu Larch kam, lehnte dieser aus Angst vor den rechtlichen Folgen ab. Nach einer anderswo versuchten Abtreibung starb die Frau. Larch suchte die veÂrÂantÂwortliche KurpÂfuscherin auf, die ihn schwer beschuldigte: Sie handle, wĂ€hrend er dem Elend nur tatenlos zusehe. Larch nahm eine 13-JĂ€hrige von dort mit in die Klinik, fĂ€lschte ihre Krankengeschichte und nahm seine erste Abtreibung vor â offiziell aus mediÂzinisÂchen GrĂŒnden, tatsĂ€chlich aus ethischen. Kein Kollege widersprach, doch merkte Larch, dass er zum AuĂenseiter wurde. Ab jetzt kamen die ungewollt Schwangeren zu ihm und verlangten seine Hilfe. Larch floh nach Portland und folgte schlieĂlich einem Angebot aus St. Cloudâs, wo er ein Waisenhaus mit EntÂbindungs- und AbÂtreiÂbungsstaÂtion grĂŒndete.
âEr war GynĂ€kologe; er holte Babys auf die Welt. Seine Kollegen nannten das ,Gottes Werkâ. Und er war ein Abtreiber, er half auch MĂŒttern zurĂŒck in die Welt. Seine Kollegen nannten das ,Teufels Beitragâ, aber fĂŒr Wilbur Larch war beides ,Gottes Werkâ.â (S. 101)
Larchs ehemalige Kollegen nannten den Vorgang der Geburt âGottes Werkâ und den der Abtreibung âTeufels Beitragâ, doch Dr. Larch ist ĂŒberzeugt, dass in St. Cloudâs nur Gottes Werk vollbracht wird. Eines Tages, im Alter von 13 Jahren, findet Homer Wells einen Fötus. Larch beschlieĂt, Homer einzuweihen und ihn zu seinem Gehilfen zu machen.
Der nĂŒtzliche Homer
Homer beginnt, den Jungen im Waisenhaus abends David Copperfield von Charles Dickens vorzulesen, etwas spĂ€ter auch den MĂ€dchen. Alle MĂ€dchen lauschen ruhig â bis auf Melony, die etwas Ă€lter als Homer ist. Sie ist ein ĂŒbergewichtiger Teenager, sitzt aufreizend knapp bekleidet auf dem Bett und provoziert Homer. Melony wurde einst ausgesetzt. Niemand kennt ihr genaues Alter. Alle AdopÂtionsverÂsuche sind gescheitert â erst wegen ihrer unbĂ€ndigen Wut, spĂ€ter wegen sexueller Kontakte zu PflegevĂ€tern. Larch bittet Homer um UnterstĂŒtzung. Homer trifft sich mit Melony in einer verlassenen HĂŒtte von St. Cloudâs. Melony gibt Homer ein altes Foto, auf dem eine Frau beim Oralsex mit einem Pony zu sehen ist. Homer ist verstört und fasziniert. Melony bietet Homer einen Deal an: Er soll fĂŒr sie die Akte mit den Daten ihrer leiblichen Eltern aus dem Archiv stehlen â im Tausch gegen Sex.
â,Gute Nacht!â pflegte er zu rufen. ,Gute Nacht â ihr Prinzen von Maine, ihr Könige Neuenglands!ââ (ĂŒber Dr. Larch, S. 107)
Dr. Larch bewahrt die Daten der leiblichen Eltern bewusst nicht auf. Als Homer ihr das erzĂ€hlt, wird Melony so wĂŒtend, dass sie die HĂŒtte halb zerstört. Nachdem Homer ihr versprochen hat, St. Cloudâs nicht frĂŒher als sie zu verlassen, bedankt sie sich bei ihm mit Oralsex â doch seine anfĂ€ngliche Erregung lĂ€sst allzu schnell nach. GedemĂŒtigt und wĂŒtend zerstört Melony den Rest des Hauses. Das Pornofoto landet schlieĂlich bei Larch, der in der Frau auf dem Bild sofort Mrs. Eamesâ Tochter, der er damals nicht helfen wollte, erkennt. Larch beschlieĂt, Homer zum Chirurgen auszubilden. Nachdem der Waisenjunge Fuzzy Stone gestorben ist, macht Larch dessen Tod zu Homers Aufgabe: Wie bringt man es den anderen bei? Homer behauptet, Fuzzy sei ebenfalls adoptiert worden. Eines Tages rettet Homer eine Patientin und ihr Baby im Alleingang. Larch kĂŒsst den verÂmeintlich schlafenden Homer vĂ€terlich. FĂŒr die Akten fingiert Larch einen Herzfehler, den Homer angeblich seit seiner Geburt hat, um ihn vor dem MilitĂ€rdienst bei einem eventuellen Krieg zu schĂŒtzen.
Gebrochene Versprechen und erfundene Geschichten
In den Orten Heartâs Haven und Heartâs Rock verlieben sich Wally Worthington, Sohn eines Apfelbauern, und Candy Kendall, Tochter eines HumÂmerÂfisÂchÂers, ineinander. Candy wird ungewollt schwanger, die perfekte LebenÂsÂplaÂnung der beiden droht zu scheitern. Ăber eine Arbeiterin auf der Apfelfarm erfĂ€hrt Wally von St. Cloudâs. Als er und Candy dort ankommen, hat Homer Dr. Larch mitgeteilt, dass er nie AbÂtreiÂbunÂgen vornehmen werde. Larch möchte, dass Homer trotzdem die Praktiken kennenlernt, er will ihn aber nicht zur DurchfĂŒhrung zwingen. Bei Candy, in die Homer sich auf den ersten Blick verliebt, will er nicht einmal dabei sein. Die Abtreibung gelingt, und Homer, Wally und Candy finden Gefallen aneinander. Homer bricht sein Versprechen gegenĂŒber Melony und geht mit den beiden fort. Larch weiĂ, dass er nicht nur fĂŒr kurze Zeit geht. Melony beschlieĂt, Homer zu folgen, stiehlt Geld und macht sich auf den Weg zur KĂŒste.
â,Ich sage nicht, dass es richtig ist, verstehst du? Ich sage, dass es ihre EntscheiÂdung ist â es ist die EntscheiÂdung der Frau. Sie hat ein Recht darauf, sich so zu entscheiden, verstehst du?â fragte Dr. Larch. â ,Richtigâ, sagte Homer Wells.â (S. 160 f.)
Homer genieĂt sein Leben auf der Apfelfarm. Er macht sich nĂŒtzlich und wird von allen geschont, denn Larch hat ohne Homers Wissen von dessen angeblichem Herzfehler berichtet. Homer lernt mit Candys Hilfe schwimmen und wĂ€chst in die Familie hinein. Derweil denkt der WaisenÂhausaussÂchuss ĂŒber die Ablösung des 70-jĂ€hrigen Larch nach. Larch hat aber in der ZwisÂchenÂzeit schon seinen eigenen Nachfolger erfunden: Fuzzy Stone, der verstorbene Junge, wird in Larchs Unterlagen zum Arzt. Larch fĂ€lscht eine KoÂrÂreÂsponÂdenz mit âDr. Stoneâ und legt so den Grundstein fĂŒr die Zukunft von St. Cloudâs.
âUnd darum endete ihre erste Nacht der LeiÂdenÂschaft, die sich so langsam zwischen ihnen aufgebaut hatte, in der typischen Hast der MaĂnahmen, die ergriffen werden, um eine ungewollte SchwangerÂschaft zu vermeiden (âŠ)â (ĂŒber Candy und Homer, S. 567)
Melony gerĂ€t bei ihrer Suche nach Homer auf eine andere Apfelfarm. Zwei Arbeiter versuchen, sie zu vergeÂwaltiÂgen. Das MĂ€dchen schlĂ€gt sie krankenÂhausÂreif. WĂ€hrend sie einen Job annimmt, bereitet Homer mit Wally das Ciderhaus auf die Ankunft der schwarzen Erntehelfer vor. Dazu gehört, die Regeln aufzuhĂ€ngen, die dort gelten. Wallys Vater stirbt noch vor der Ernte und Wallys Mutter bietet Homer ein Zuhause an, zumal Wally fortgeht, um das College zu besuchen. Homer geht zur Highschool und hilft bei der Apfelernte. Er lernt den ChefpflĂŒcker, Mr. Rose, kennen, der ĂŒberaus geschickt mit dem Messer umgehen kann.
Liebe und ihre FrĂŒchte
Melony zieht weiter nach Bath, beginnt dort in einer Fabrik zu arbeiten und freundet sich mit Lorna an, einer Kollegin. Eines Abends gehen die beiden ins Kino, um sich einen Film anzusehen. Genau das haben auch Homer und Candy vor. Doch bevor sie das Kino betreten, passiert Homer ein MissÂgeschick. Aus seiner Geldbörse fĂ€llt ein BĂŒschel von Candys Schamhaar, das er bei ihrer Abtreibung heimlich eingesteckt hat. Homer gesteht Candy, dass er sie liebt. Candy erwidert seine GefĂŒhle. Aber sie bittet Homer um Geduld â er akzeptiert. Als sich die Nachricht vom japanischen Angriff auf Pearl Harbour verbreitet, beschlieĂt Wally, Pilot zu werden und in den Krieg zu ziehen â gegen den Willen von Candy.
âWenn die Zeit verstreicht, möchte man die Menschen, die einen einst kannten, gern wiedersehen; mit ihnen kann man richtig sprechen. Wenn genug Zeit verstrichen ist â was macht es dann schon, was sie einem angetan haben?â (S. 634)
Die nĂ€chste Apfelernte steht bevor. Mr. Rose rĂŒckt mit neuen MĂ€nnern und einer Frau an. Die anderen PflĂŒcker sind alle im Krieg. Homer beginnt eine TĂ€tigkeit im nahe gelegenen Spital. Die Ărzte â und Schwester Caroline, eine zupackende junge Sozialistin â bemerken bald, dass Homer ĂŒber mediÂzinisÂche Kenntnisse verfĂŒgt. Wally wird im Anschluss an eine PiÂloteÂnausÂbilÂdung nach Indien geschickt. Wenig spĂ€ter kommt die Nachricht, dass er ĂŒber Birma abgeschossen wurde. WĂ€hrend sich Dr. Larch immer hĂ€ufiger an Ăther berauscht und wĂ€hrend Melony und Lorna ein Liebespaar werden, kommen sich Homer und Candy immer nĂ€her. SchlieĂlich verbringen die beiden im Ciderhaus ihre erste Nacht miteinander. Drei Monate spĂ€ter ist klar: Candy ist schwanger. Sie und Homer beschlieĂen, nach St. Cloudâs zu gehen â offiziell, um dort zu helfen, in Wahrheit aber, um dort heimlich ihr Kind zur Welt zu bringen. Homer und Candy verbringen glĂŒckliche Monate in St. Cloudâs. Nachdem ihr Sohn geboren ist â Homer nennt ihn Angel â, erhalten sie ein Telegramm: Wally ist lebend gefunden worden. Er ist in Birma Opfer einer Infektion geworden und von der HĂŒfte abwĂ€rts gelĂ€hmt. Candy und Homer tischen bei ihrer RĂŒckkehr zur Apfelfarm eine LĂŒgengeschichte auf: Homer habe Angel adoptiert.
Neue Zeiten, alte Zeiten
15 Jahre sind vergangen. Melony erfĂ€hrt, dass Lorna sie betrogen hat und nun schwanger ist. Sie schickt Lorna nach St. Cloudâs, damit sie das Kind dort abtreibt. Als sie einen Artikel ĂŒber Wallys Rettung liest, erinnert sie sich, dass sie ihn damals in St. Cloudâs kenÂnenÂgelÂernt hat. Sie beschlieĂt, nach Heartâs Rock aufzubrechen und ihre Suche nach Homer wieder aufzunehmen. Candy hat in der ZwisÂchenÂzeit den im Rollstuhl sitzenden Wally geheiratet und lebt mit ihm, Homer und Angel wie eine Familie unter einem Dach. Die drei ĂŒbernehmen die VeÂrÂantÂworÂtung fĂŒr die Apfelfarm. Von Zeit zu Zeit treffen sich Homer und Candy heimlich, doch Angel bleibt offiziell der Adoptivsohn von Homer. Unterdessen ist der Ausschuss bei der Ablösung von Dr. Larch erfolglos geblieben: Kein anderer Arzt will nach St. Cloudâs. Nur Schwester Caroline unterstĂŒtzt jetzt auf Empfehlung von Homer das Team im Waisenhaus.
â,Irgendwie dachte ich, du wĂŒrdest am Ende etwas Besseres machen als die Frau eines armen KrĂŒppels bumsen und dein eigenes Kind verleugnenâ, sagte Melony zu Homer Wells.â (S. 698)
Melony taucht auf der Apfelfarm auf. Als sie Homer, Angel und Candy sieht, begreift sie auÂgenÂblickÂlich, dass sie es mit Vater, Mutter und Sohn zu tun hat. Als sie auch Wally kennenlernt, konÂfronÂtiert sie Homer mit seiner ArmÂseligkeit: Ein mittelstĂ€ndischer Heuchler sei er geworden, der einen Freund betrĂŒgt und sein eigenes Kind belĂŒgt. Als der gedemĂŒtigte Homer sieht, dass Melony ein Exemplar des Fragebogens an sich genommen hat, den der Ausschuss verschickt hat, um Dr. Larch zu diskredÂiÂtieren, ruft er im Waisenhaus an und warnt, dass der Ausschuss mit Melonys zweifellos schlechten Kommentaren ĂŒber St. Cloudâs neues Material gegen Dr. Larch in die HĂ€nde bekomme. Homer bekommt von Dr. Larch eine Arzttasche mit den Initialen F. S. zugesandt. Er beginnt zu verstehen, dass Larch ihn fĂŒr die fingierte Rolle des Dr. Fuzzy Stone in St. Cloudâs vorbereitet. Larch, mitÂtlerÂweile in seinen 90ern, weiht nun sein Team in den Plan ein, Homer unter falschem Namen als seinen Nachfolger einzusetzen. Auch Homer erhĂ€lt einen Brief von Larch mit allen Details des Plans. Er ahnt, dass er nach St. Cloudâs zurĂŒckkehren wird.
Die Regeln brechen
WĂ€hrend Melony und Lorna wieder zusamÂmenkomÂmen, steht die nĂ€chste Erntesaison an. Nach der Ernte will Homer Wally alles beichten: dass Angel sein und Candys Sohn ist und dass er und Candy ĂŒber Jahre ein VerhĂ€ltnis hatten. Mr. Rose bringt diesmal seine Tochter und deren Baby mit. Rose Rose, die Tochter, ist etwa in Angels Alter. Angel verliebt sich in sie. Es stellt sich heraus, dass Mr. Rose seine Tochter mit dem Messer verletzt hat und dass sie schwanger ist. Angel ertrĂ€umt eine gemeinsame Zukunft, doch Rose, die sich weigert, den Vater des ungeborenen Kindes zu nennen, weiĂ, dass das nicht geht. Sie will eine Abtreibung. Angel fragt Homer und dieser ruft in St. Cloudâs an. ErschĂŒttert erfĂ€hrt er, dass Dr. Larch gestorben ist â ein Unfall mit Ăther hat ihn getötet. Homer hadert mit sich. Er sorgt sich um St. Cloudâs und meint erstmals, doch AbÂtreiÂbunÂgen vornehmen zu können. Candy holt Rose aus dem Ciderhaus und stellt mit Abscheu fest, wer der Vater des ungeborenen Kindes ist: Mr. Rose, Roses Vater. Sie bringt Rose zu Homer, teilt ihm mit, was sie erfahren hat, und nach kurzem Zögern fĂŒhrt er die Abtreibung durch. Jetzt ist ihm klar, dass er auch anderen Frauen helfen muss. Rose bringt ihrem Vater eine tödliche Messerwunde bei und flieht. Der verblutende Mr. Rose tarnt sein Sterben als Selbstmord.
â,Ich weiĂ nicht, ob Du ein Kunstwerk in Dir trĂ€gstâ, schloĂ Larch seinen Brief an Homer Wells, ,aber ich weiĂ, was Deine Aufgabe ist, und das weiĂt Du genauso. Du bist der Arzt.ââ (S. 727)
Nach diesen Ereignissen machen Candy und Homer reinen Tisch. Homer weiht Angel ein, Candy beichtet Wally alles. Homer geht zurĂŒck nach St. Cloudâs, wo er schlieĂlich als Dr. Stone die Zustimmung des Ausschusses erhĂ€lt, das Waisenhaus zu leiten. Er lebt mit Schwester Caroline, studiert Dr. Larchs Chronik (aus der er erfĂ€hrt, dass er gar keinen Herzfehler hat) und empfĂ€ngt Wally, Candy und Angel jeweils zu Weihnachten. Eines Tages wird die Leiche von Melony in St. Cloudâs angeliefert. Lorna hat sie auf Melonys Wunsch zu StuÂdienÂzwecken an Dr. Stone in St. Cloudâs gesandt. Homer, gerĂŒhrt durch diese spĂ€te Geste der Versöhnung, lĂ€sst sie neben dem Waisenhaus begraben.
Zum Text
Aufbau und Stil
Die Handlung von Gottes Werk und Teufels Beitrag erstreckt sich von den 1920er- bis in die 1950er-Jahre. In elf Kapiteln werden die Lebenswege der HauptcharakÂtere weitgehend chroÂnolÂoÂgisch erzĂ€hlt. Der Text ist figurennah in der dritten Person geschrieben und versammelt eine groĂe Zahl NebenÂfigÂuren, deren LebensÂgeschichten in die HaupthandÂlung eingebettet werden. In die ErzĂ€hlung sind oft Passagen aus Dr. Larchs Chronik eingeÂflochten, deren EintrĂ€ge meist mit âHier in St. Cloudâsâ oder mit âIn anderen Teilen der Weltâ beginnen. Irving nutzt weitgehend einfache Prosa, an einigen Stellen streut er mediÂzinisÂches FachÂvokÂabÂuÂlar ein. Plastische SchilderunÂgen, etwa von AbÂtreiÂbunÂgen, Krankheiten und sozialen ZustĂ€nden sowie deÂtailÂlierte BeschreiÂbunÂgen von RĂ€umen erzeugen oft eine dichte AtmosphĂ€re, die eine filmische Umsetzung nahelegt. Historische Details vermitteln zudem AuthentizitĂ€t â in den Anmerkungen werden vom Autor konkrete Recherchequellen genannt. An einigen Stellen finden sich Andeutungen ĂŒber kĂŒnftige Schicksale der Figuren. Das ErzĂ€hltempo variiert: Im neunten Kapitel werden zum Beispiel Szenen motivisch so miteinander verwoben, dass man an das filmische Mittel des âSplit Screenâ, der geteilten Leinwand, erinnert wird.
InÂterÂpreÂtaÂtionÂsansĂ€tze
- Der Roman liefert AnÂschauÂungsÂmaÂteÂrÂial fĂŒr eine moralische UrteilsÂbilÂdung zum Thema Abtreibung. Dr. Larch ist geprĂ€gt von seinen Erlebnissen in den ArÂmenÂvierteln von Boston. Homers EntscheiÂdung, nicht bei AbÂtreiÂbunÂgen mitwirken zu wollen, basiert dagegen auf Unkenntnis der Welt. Erst als er auĂerhalb von St. Cloudâs das Leid verÂschiedener Frauen persönlich kennenlernt, ist er bereit, seine EntscheiÂdung zu ĂŒberdenken.
- Am Schluss des Romans ist die Rede von den Herzen von Homer und Dr. Larch, an denen es ânichts auszusetzenâ gebe. Damit wird betont, dass nicht Regeln, sondern das menschliche MitgefĂŒhl und inÂdiÂviduÂelle, ethisch fundierte Ăberlegungen darĂŒber entscheiden, was richtig und was falsch ist.
- Regeln sind nicht in Stein gemeiĂelt, sie mĂŒssen permanent ĂŒberprĂŒft werden. So wie die CiderÂhaus-Regeln jedes Jahr neu verfasst und ausgehĂ€ngt werden, mĂŒssen auch die Regeln, von denen ein Mensch sein Handeln leiten lĂ€sst, mit zunehmender Erfahrung neu angepasst werden.
- Der Roman zeigt lesbische, asexuelle, rassen- und klassenĂŒbergreifende sowie DreiecksÂbeziehunÂgen als gleÂichÂberechtigte LebensÂforÂmen und ist insofern ein PlĂ€doyer fĂŒr Toleranz und DiversitĂ€t.
- BĂŒcher bereiten auf das Leben vor: Larch hĂ€lt Homer fĂŒr gut vorbereitet auf das Leben, weil dieser Dickens gelesen hat. Mit dieser Aussage ĂŒber die Wirkung von Literatur formuliert der Text auch einen Anspruch an sich selbst.
- NĂ€chstenliebe und Mitleid sind zentrale Motive: Der areligiöse Dr. Larch zeigt mit seiner Hilfe fĂŒr Not leidende Frauen mehr Anteilnahme als die christlich-konÂserÂvÂaÂtiven Regeln, die vom Rest der Gesellschaft befolgt werden.
- Man kann den Apfel als Symbol verstehen: Apfelfarm und Ciderhaus stehen fĂŒr den Baum der Erkenntnis, der Homer letztlich zurĂŒck nach St. Cloudâs fĂŒhrt.
HisÂtorischer Hintergrund
Die AbÂtreiÂbungsÂdeÂbatte in den USA
Die ersten gesetÂzlichen Verbote von SchwangerÂschaftÂsunÂterÂbrechunÂgen in den USA kamen in den 1820er-Jahren auf. Schon damals waren Mediziner besorgt, dass die Verbote Frauen reihenweise in illegale Kliniken treiben könnten. Doch das Ă€nderte nichts daran, dass immer mehr BunÂdesstaaten AbÂtreiÂbungsverÂbote gesetzlich festschrieben. 1873 verbot das ComÂstock-Gesetz landesweit den postalÂisÂchen Versand von VerhĂŒtungsmitÂteln und von InÂforÂmaÂtionÂsÂmaÂteÂrÂial zur VerhĂŒtung. 1965 verfĂŒgten sĂ€mtliche 50 US-BunÂdesstaaten ĂŒber eigene Gesetze zum AbÂtreiÂbungsverÂbot.
Doch dann kam im Januar 1973 mit dem Roe-v.-Wade-Urteil das Ende der strikten Verbote. Der Supreme Court entschied mit sieben zu zwei Stimmen, dass allen Frauen generell das Recht zustehe, ĂŒber einen SchwangerÂschaftsabÂbruch selbst zu entscheiden. Lediglich die letzten drei Monate der SchwangerÂschaft konnten danach durch BunÂdesÂgeÂsetze noch reÂgleÂmenÂtiert werden. Im Gegenzug feierte die AnÂtiabÂtreiÂbungslobby mit dem Hyde Amendment 1976 ihren ersten Erfolg nach der LeÂgalÂisierung: Die staatliche finanzielle AbÂtreiÂbungÂshilfe fĂŒr bedĂŒrftige Frauen wurde landesweit gestrichen, sofern der Abbruch nicht medizinisch notwendig war. Bis dahin wurde rund ein Drittel aller AbÂtreiÂbunÂgen ĂŒber die staatliche Zuwendung Medicaid bezahlt.
In der Ăra Reagan ab 1981 formierten sich als Reaktion auf das Roe-v.-Wade-Urteil zahlreiche Gruppen, die mit Blockaden von Kliniken auf sich aufmerksam machten. BombenÂdroÂhunÂgen und AnschlĂ€ge gegen AbÂtreiÂbungskliniken waren bald an der TageÂsorÂdÂnung. In den 1980er-Jahren gaben 80 Prozent aller BeschĂ€ftigten von Kliniken und Praxen, die AbÂtreiÂbunÂgen anboten, an, sie seien von AbÂtreiÂbungsÂgegÂnÂern belĂ€stigt und in ihrer Arbeit behindert worden. In vielen FĂ€llen wurden Ărzte sogar bis nach Hause verfolgt und mit dem Tod bedroht. 1994 und 1995 wurden fĂŒnf Klinikangehörige tatsĂ€chlich ermordet. Der öffentliche Druck sorgte dafĂŒr, dass immer weniger Ărzte das Stigma âAbtreiberâ auf sich nehmen wollten. Von 1983 bis 1995 sank die Zahl der FachĂ€rzte, die bereit waren, eine Abtreibung durchzufĂŒhren, von 42 auf 33 Prozent. Abtreibung war an den UniversitĂ€ten kaum ein Thema. Ăbrig blieben so zumeist Ă€ltere Ărzte.
Entstehung
Nach den Bestsellern Garp und wie er die Welt sah und Das Hotel New Hampshire war John Irving einer der meistÂgeÂleÂseÂnen Autoren der USA. Dass auch sein nĂ€chstes Buch ein Erfolg werden wĂŒrde, war relativ sicher. Mit Gottes Werk und Teufels Beitrag lieĂ Irving seiner BegeisÂterung fĂŒr Charles Dickens (der vielfach im Roman zitiert wird) freien Lauf. Von Dickens ĂŒbernahm er die auktoriale ErzĂ€hlperÂspekÂtive, die weitgehend chroÂnolÂoÂgisÂche Abfolge der HandÂlungsstrĂ€nge und die moralische StelÂlungÂnahme einer Geschichte ĂŒber soziale MissstĂ€nde. Irving recherÂchierte intensiv den hisÂtorischen Hintergrund und die mediÂzinisÂchen Grundlagen seines Plots. Seine Hauptquelle war neben FachÂlitÂerÂatur wie Henry Grays Anatomie von 1858 vor allem sein eigener GroĂvater Frederick C. Irving, der in der Zeit, in der der Roman spielt, prakÂtizierenÂder GynĂ€kologe unter anderem in Boston war. Irvings GroĂvater verfasste zudem das Expectant Motherâs Handbook, das ebenfalls eine Quelle fĂŒr das mediÂzinisÂche Vokabular des Romans war. Auch Teile von Irvings persönlicher Biografie schlugen sich im EntsteÂhungÂsprozess nieder. Sein leiblicher Vater, den er nie kenÂnenÂlernte, stĂŒrzte im Zweiten Weltkrieg ĂŒber Birma ab.
WirkungsÂgeschichte
Die Kritik ging mit Irvings Roman zum Teil hart ins Gericht. In einer Rezension wurde Gottes Werk und Teufels Beitrag als âZiegelstein von einem Buchâ bezeichnet, das âverdiene, durch John Irvings Fenster zurĂŒckgeworfen zu werdenâ. GleÂichzeitig lobten verÂschiedene Rezensionen den UnÂterÂhalÂtungswert und die detailliert ausÂgearÂbeitÂeten Charaktere. Auch im Ausland gab es ein geteiltes Echo. Matthias Horx bescheinigte dem Roman 1988 in der Zeit âenorme KonÂstrukÂtionÂssÂchwĂ€chen, der Roman langweilt nach 200 Seiten, verliert sich in Details und öden Dialogen, draÂmaturÂgisch kommt er bis zum Schluss nicht wieder auf die Beineâ â und dennoch kommt er zu einem positiven ResĂŒmee. Das Thema Abtreibung und Irvings klare Position sorgten in liberalen Kreisen fĂŒr groĂe Zustimmung, bei der Pro-Life-BeÂweÂgung dagegen fĂŒr Proteste. Ein GroĂteil der Kritiker fĂŒhrte die AuÂseinanÂderÂsetÂzung auf der politischen BĂŒhne, nicht auf der litÂerÂarischen. Irving hatte im konÂserÂvÂaÂtiver werdenden Amerika der Reagan-Ăra einen Nerv getroffen. Im ErÂscheiÂnÂungsÂjahr 1985 verkaufte sich der Roman rund 300 000 Mal und landete prompt auf Platz 1 der BestÂsellerliste. Schon 1986 begann Irving mit einer DrehbuchÂfasÂsung. Der vierte Anlauf fĂŒr eine Verfilmung wurde 1999 von Regisseur Lasse Hallström umgesetzt. Tobey Maguire spielte Homer und Michael Caine Dr. Larch. Caine (bester NebenÂdarsteller) und Irving (bestes adaptiertes Drehbuch) erhielten jeweils einen Oscar. Das Buch wurde im Jahr nach dem Filmdebut erneut zum Bestseller.