Was ist ein Bürgerhaushalt?
Zuletzt haben Verfahren zur Bürgerbeteiligung weltweit zugenommen. Es handelt sich wohl nicht um eine kurzfristige Konjunktur, sondern um eine langfristige Bewegung. Der Bürgerhaushalt gehört zum Kern der Bürgerbeteiligung. Durch ihn können Bürger oder Bürgergruppen an der Verteilung öffentlicher Mittel mitwirken. Die Haushaltsaufstellung durch das gewählte kommunale Gremium wird um ein Verfahren ergänzt, bei dem Bürgervorschläge initiiert, gesammelt, geordnet und bewertet werden. Bei einem Bürgerhaushalt
- bestimmen die Bürger nicht nur bei Quartier- oder Stadtteilbudgets mit, sondern haben einen gesamtstädtischen Einfluss,
- darf die Bürgerbeteiligung nicht nur einmalig stattfinden,
- darf die Bürgerbeteiligung nicht auf Planungsfragen oder Quartierverbesserungen beschränkt sein, sondern muss auch Finanzfragen umfassen,
- wird nicht nur eine Umfrage bzw. eine Rats- oder Ausschusssitzung mit Bürgerbeteiligung durchgeführt, sondern es gibt auch Versammlungen oder Foren,
- wird über die Ergebnisse der Beteiligung Rechenschaft abgelegt bzw. Bericht erstattet.
Porto Alegre und die Folgen
Ausgangspunkt aller Bürgerhaushalte ist die brasilianische Millionenstadt Porto Alegre. Dort gab es Ende der 80er Jahre eine Kohabitation, als ein frisch gewählter Bürgermeister im Stadtrat auf eine Mehrheit der Opposition traf. Um trotzdem erfolgreich regieren zu können, führten der Bürgermeister und die ihn tragende Partei den Bürgerhaushalt sowie andere Verfahren der Bürgerbeteiligung ein. 1990 wirkten knapp 1000 Menschen mit, ihre Zahl wuchs bis 2002 auf 17 000 an. Für das Verständnis von Bürgerhaushalten ist es wichtig, einige Elemente des Urmodells in Porto Alegre zu kennen: Dort haben die Bürger ein echtes Mitspracherecht bei der Verteilung der städtischen Mittel. Die unmittelbare Beschlussfassung durch bürgerdominierte Gremien ist der Kern dieses Bürgerhaushalts.
„Allgemein formuliert ist der Bürgerhaushalt ein Verfahren, das Bürgern die Möglichkeit gibt, sich an der Verteilung öffentlicher Gelder zu beteiligen.“
Das Verfahren in Porto Alegre fußt auf Versammlungen in den Wohnvierteln. Deren Teilnehmer entsenden Delegierte auf die Bezirksebene und von dort in einen gesamtstädtischen, mehrmals monatlich tagenden Bürgerhaushaltsrat. Alle Bürger – nicht nur die Delegierten – sind stimmberechtigt. Diskutiert und entschieden wird über Investitionen, also nicht über die Mittel der laufenden Verwaltung. Es beteiligen sich mehr Arme als Reiche und mehr Frauen als Männer. Investitionen werden in die ärmeren Sozialräume umgelenkt und verbessern dort die Lebenssituation der Bewohner spürbar. Porto Alegre genießt hohe Anerkennung bei der Weltbank, in UN-Programmen, in der internationalen, vor allem der globalisierungskritischen Öffentlichkeit und bei vielen europäischen Kommunen, die sich von dem Verfahren haben inspirieren lassen.
„Das verkrampfte Beharren auf traditionellen Formen der Verwaltung und Politik scheint immer unhaltbarer.“
Zunächst verbreitete sich der Bürgerhaushalt jedoch in Lateinamerika. Im Jahre 2006 wandten 1200 von 16 000 Kommunen Lateinamerikas das Verfahren an – Großstädte dabei eher als Klein- und Mittelstädte. Das Modell aus Porto Alegre wurde als Baukasten genutzt und den örtlichen Rahmenbedingungen angepasst. Sogar die Weltbank stellte schließlich fest, dass Städte mit Bürgerhaushalt im Kampf gegen die Armut oder in der Verbesserung ihrer Basisinfrastruktur (Wasserversorgung, Kanalisation usw.) erfolgreicher waren als andere. Auch in Bezug auf Korruption, Vetternwirtschaft und Verschwendung bewährte sich der Bürgerhaushalt.
Der Bürgerhaushalt in Europa
1999 gab es in Europa weniger als 20 Bürgerhaushalte, zehn Jahre später bereits über 200. Während sich die Bürgerhaushalte in Lateinamerika im Wesentlichen an Porto Alegre orientierten, etablierten sich in europäischen Städten – verstärkt ab 2001 – sehr unterschiedliche Modelle. Auch die Städte selbst, die das Verfahren anwenden, weisen kaum Gemeinsamkeiten auf: Es gibt solche mit vielen oder wenigen Einwohnern, großen oder geringen sozialen Problemen, hohem oder niedrigem Migrationsanteil, hoher Verschuldung oder finanzieller Gesundheit.
„Unter den neuen partizipativen Instrumenten hebt sich der Bürgerhaushalt besonders hervor, und zwar sowohl durch seine außerordentlich schnelle Verbreitung als auch durch das von ihm hervorgerufene politische Echo.“
Doch bestehen in Europa auch Gemeinsamkeiten beim Bürgerhaushalt? Zunächst war der Bürgerhaushalt ein Thema globalisierungskritischer Gruppen. Sie wollten dem neoliberalen Mainstream zeigen, dass „eine andere Welt möglich ist“. Dabei trafen sie in Europa jedoch weniger auf Neoliberale als vielmehr auf Vertreter des New Public Managements. Diese wollten das klassische Verwaltungsmodell von Max Weber nicht zu einem neoliberalen, sondern zu einem neoweberianischen Modell umgestalten. Dabei wird der öffentliche Dienst nicht etwa marktradikal abgeschafft, sondern ergebnisorientiert und wirtschaftlich umgestaltet. Ein solches Modell verändert das Verhältnis von Bürger und Verwaltung. Dem Bürger wird plötzlich zugetraut, mit seinem Wissen zur Effizienzsteigerung beizutragen. Man geht auf seine Forderungen und Bedürfnisse ein, sein Feedback soll zur Qualitätssteigerung und Serviceverbesserung beitragen. In diesem Bestreben liegt eine – vielleicht die einzige – Gemeinsamkeit der Bürgerhaushalte in Europa.
„Der Bürgerhaushalt ist in Lateinamerika überwiegend ein Instrument der Armen. Er fördert die Beteiligung derer, die keine Stimme in den bestehenden Institutionen haben.“
So wurde der Bürgerhaushalt zwar von der politischen Linken in Porto Alegre erfunden, in Lateinamerika „bottom-up“ durch Mobilisierung der Armen durchgesetzt und von Globalisierungskritikern nach Europa geholt. Aber dort wurde und wird er von anderen Kräften verbreitet, die eher zur gesellschaftlichen Mitte gehören. In Europa lassen sich mit dem Bürgerhaushalt keine Massen mobilisieren. Er ist in den benachteiligten Schichten nicht verankert und wird überwiegend „top-down“ eingeführt. Da Bürgerhaushalte nicht gesetzlich normiert sind, werden die Regeln örtlich festgelegt und sind höchst verschieden. Ein Problem ist, dass die gewählten Mitglieder von Parlamenten und Stadträten in Europa, vor allem in Deutschland, in diesem neuen System oft einen Machtverlust sehen. Im Wesentlichen kann man die Bürgerhaushalte nach folgenden Fragen unterscheiden:
- Können sich nur organisierte Gruppen oder auch einzelne Bürger beteiligen?
- Ist die Beteiligung öffentlich oder auf geladene, z. B. durch Losverfahren ermittelte Teilnehmer beschränkt?
- Wird über Investitionen, Dienstleistungen, Projekte, ganze Politikbereiche oder über die allgemeine Haushaltslage beraten?
- Werden soziale Brennpunkte oder benachteiligte Bevölkerungsgruppen gefördert?
- Dürfen die Bürger tatsächlich entscheiden oder nur ihre Meinung äußern?
Deutschland folgt Christchurch
Für die Bürgerhaushalte in Deutschland stand nicht Porto Alegre, sondern Christchurch Pate. Die neuseeländische Stadt gilt seit 1993 als Best Practice für Verwaltungsmodernisierung, an ihr orientierten sich viele deutsche Reformstädte. Zu den Reforminstrumenten gehört auch ein Bürgerhaushalt. In Christchurch werden der Haushalt und die mittelfristige Finanzplanung in gewählten Gremien diskutiert, die mit deutschen Ortsbeiräten vergleichbar sind. Einzelne Bürger können schriftliche Vorschläge machen, die in öffentlichen Sitzungen diskutiert werden. Nach einem auf Transparenz und Konsultation angelegten Verfahren entscheidet die gewählte politische Vertretung. Gegenüber den Bürgern wird Rechenschaft darüber abgelegt, was aus ihren Vorschlägen geworden ist. Von dieser Idee ließ sich der Bürgermeister von Mönchweiler im Schwarzwald (2500 Einwohner) anstecken und führte Ende der 90er Jahre Deutschlands ersten Bürgerhaushalt ein. 2003 gab es in Deutschland sieben Bürgerhaushalte, bis 2008 waren es 20. Hinzu kamen ungefähr noch mal so viele breit angelegte Bürgerinformationen und -umfragen zum Haushalt.
„Das eigentlich Erstaunliche ist, dass trotz der Diskurse über Modernisierung die Effekte auf diesem Gebiet meist marginal bleiben.“
Deutsche Bürgerhaushaltskommunen wollen ihre Dienstleistungen durch Partizipation evaluieren und ihren Haushalt transparent machen. Mehrere Kommunen nutzen den Bürgerhaushalt zu einer breiten Information über die allgemeine Haushaltslage und fragen die Bürger nach ihrer Meinung zur Haushaltskonsolidierung. Einige legen den Bürgerhaushalt so an, dass ein Bürger nur dann einen Vorschlag machen kann, wenn er die Mittel an anderer Stelle wegnimmt. Andere stellen für Vorschläge ein begrenztes zusätzliches Budget zur Verfügung. Gemeinsam ist ihnen, dass sie immer stärker das Internet zur Kommunikation nutzen. Die persönliche Kommunikation in Versammlungen wird zunehmend nur noch als Ergänzung eingesetzt.
Kritische Würdigung des deutschen Bürgerhaushalts
Nach dem globalisierungskritischen Weltsozialforum, das 2001 in Porto Alegre stattfand, verbreitete sich auch in Deutschland die Idee, den Bürgerhaushalt für die soziale Stadtentwicklung und für Umverteilung zu nutzen. Durchgesetzt haben sich diese Ziele nicht; die deutschen Bürgerhaushalte sind überwiegend ein Instrument der Verwaltungsmodernisierung geblieben. Um eine Umverteilung zugunsten bedürftiger Bevölkerungsgruppen oder benachteiligter Stadtquartiere geht es dabei kaum.
„Wäre es nicht sinnvoll, den Beteiligungsprozess auf die Finanzen der kommunalen Unternehmen auszudehnen, da von ihnen ein immer größerer Teil der Investitionen getätigt wird?“
Die erhofften Modernisierungsschübe durch den Bürgerhaushalt haben nicht stattgefunden oder sind sehr gering geblieben. Es stellt sich die Frage, ob man Reformen nicht auch mit anderen Instrumenten erreicht hätte. Jedenfalls sind die Beiträge des Bürgerhaushalts zur Modernisierung hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Möglicherweise liegt das an der Verwaltungsdominanz: In den Verfahren können sich die Bürger kaum artikulieren, etwa wegen geringer Redezeiten in Versammlungen oder zu wenig Platz für schriftliche Kommentare bei Umfragen. Es gibt wenige kontinuierlich tagende Foren und dafür viele einmalige „Bürgerhaushaltsevents“.
„Es gibt vielversprechende Ansätze, mit denen die Entwicklung in Richtung einer bürgerorientierten Modernisierung, der Vertiefung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit gestärkt werden kann.“
Die Bürgerhaushalte – wie auch andere Formen der Partizipation – haben nicht wie in Lateinamerika zu einer breiten Beteiligungsbewegung geführt. In Europa, insbesondere in Deutschland, ist der Bürgerhaushalt kein Instrument der Benachteiligten. Es engagieren sich überwiegend die mittleren Schichten der Bevölkerung. Auch gegen Politikverdrossenheit hat sich der Bürgerhaushalt nicht in der erhofften Weise bewährt – zumindest besteht kein Unterschied bezüglich der Wahlbeteiligung in Kommunen mit oder ohne Bürgerhaushalt. An einem kritischen Punkt ist auch die Internetdominanz der deutschen Bürgerhaushalte: Das Internet macht sie noch verwaltungslastiger, als sie ohnehin bereits sind. Als alleinige Beteiligungsplattform ist es deshalb ungeeignet. Es bietet sich nur als Ergänzung der Kommunikation in Versammlungen an.
Ausblick
Obwohl es also Grund zur Kritik an den Bürgerhaushalten in Deutschland gibt, ist die Verbindung von Modernisierung und Partizipation nicht generell infrage zu stellen. Ein Bürgerhaushalt hat Innovationspotenzial, er kann zur Legitimation und Imageverbesserung von Politik und Verwaltung beitragen. Die deutschen Bürgerhaushalte müssen allerdings entsprechend weiterentwickelt werden und eine soziale Dimension erhalten.