Der Bürgerhaushalt in Europa – eine realistische Utopie?

Buch Der Bürgerhaushalt in Europa – eine realistische Utopie?

Zwischen partizipativer Demokratie, Verwaltungsmodernisierung und sozialer Gerechtigkeit

VS Verlag,


Rezension

Was macht ein linker Bürgermeister, wenn er auf eine rechte Mehrheit im Lokalpar­la­ment trifft? Er ruft beim Regieren die Bürger zu Hilfe und führt einen Bürg­er­haushalt ein – so geschehen im brasil­ian­is­chen Porto Alegre. Und was macht man, wenn man die Verwaltung be­trieb­swirtschaftlich mod­ernisieren und effizienter machen will? Man fragt die Bürger und führt einen Bürg­er­haushalt ein – so geschehen in Christchurch, Neuseeland. So un­ter­schiedlich wie die Ursprünge sind auch die Bürg­er­haushaltsmod­elle in Europa. Das wirft Fragen auf: An welchem Modell soll sich eine Kommune orientieren? Wie soll sie – angesichts mangelnder geset­zlicher Vorschriften – ihr örtliches Verfahren am besten or­gan­isieren? Dieses Buch liefert Antworten. Das Autorenteam hat äußerst gründlich recher­chiert. Es ar­gu­men­tiert facetten­re­ich und nie parteipoli­tisch, aber immer parteiisch für eine Stärkung der Demokratie und die Überwindung sozialer Be­nachteili­gun­gen. BooksInShort meint: ein kluges Buch, dem man viele Leser wünscht, zu einem Verfahren, dem man viele Nachahmer wünscht. Geschrieben für alle, die an der örtlichen Gestaltung von Bürg­er­haushal­ten beteiligt sind – auch in der Politik.

Take-aways

  • Verfahren zur Bürg­er­beteili­gung haben in den letzten 20 Jahren weltweit stark zugenommen.
  • Durch einen Bürg­er­haushalt haben Bürger die Möglichkeit, bei der Verteilung öffentlicher Mittel mitzuwirken.
  • Die etwa 200 Bürg­er­haushalte in Europa sind höchst un­ter­schiedlich gestaltet.
  • Die Grundlage bildet in den meisten Fällen der Bürg­er­haushalt im brasil­ian­is­chen Porto Alegre, der seit 1990 existiert.
  • Dieser lenkt In­vesti­tion­s­mit­tel in be­nachteiligte Stadtvier­tel um. Die Ba­sis­in­fra­struk­tur (Wasser, Kanal­i­sa­tion usw.) wurde deutlich verbessert.
  • Deutsche Bürg­er­haushalte orientieren sich jedoch eher am Modell von Christchurch, Neuseeland. Dort stand die Ver­wal­tungsmod­ernisierung im Vordergrund.
  • Deutsche Kommunen wollen mit dem Bürg­er­haushalt mehr Transparenz, Leis­tungsverbesserung und Rechen­schaft­sle­gung erreichen.
  • Bisher bleiben die Erfolge hinter den Erwartungen zurück und hätten vermutlich auch anders erreicht werden können.
  • Das spricht nicht generell gegen den Bürg­er­haushalt, zeigt jedoch Verbesserungs­be­darf.
  • Anders als in Lateinamerika engagieren sich in den europäischen Bürg­er­haushal­ten weniger die sozial Be­nachteiligten als vielmehr mittlere Schichten der Bevölkerung.
 

Zusammenfassung

Was ist ein Bürg­er­haushalt?

Zuletzt haben Verfahren zur Bürg­er­beteili­gung weltweit zugenommen. Es handelt sich wohl nicht um eine kurzfristige Konjunktur, sondern um eine langfristige Bewegung. Der Bürg­er­haushalt gehört zum Kern der Bürg­er­beteili­gung. Durch ihn können Bürger oder Bürgergruppen an der Verteilung öffentlicher Mittel mitwirken. Die Haushalt­sauf­stel­lung durch das gewählte kommunale Gremium wird um ein Verfahren ergänzt, bei dem Bürgervorschläge initiiert, gesammelt, geordnet und bewertet werden. Bei einem Bürg­er­haushalt

  • bestimmen die Bürger nicht nur bei Quartier- oder Stadt­teil­bud­gets mit, sondern haben einen gesamtstädtischen Einfluss,
  • darf die Bürg­er­beteili­gung nicht nur einmalig stattfinden,
  • darf die Bürg­er­beteili­gung nicht auf Pla­nungs­fra­gen oder Quartierverbesserun­gen beschränkt sein, sondern muss auch Fi­nanzfra­gen umfassen,
  • wird nicht nur eine Umfrage bzw. eine Rats- oder Auss­chuss­sitzung mit Bürg­er­beteili­gung durchgeführt, sondern es gibt auch Ver­samm­lun­gen oder Foren,
  • wird über die Ergebnisse der Beteiligung Rechen­schaft abgelegt bzw. Bericht erstattet.

Porto Alegre und die Folgen

Aus­gangspunkt aller Bürg­er­haushalte ist die brasil­ian­is­che Mil­lio­nen­stadt Porto Alegre. Dort gab es Ende der 80er Jahre eine Ko­hab­i­ta­tion, als ein frisch gewählter Bürgermeister im Stadtrat auf eine Mehrheit der Opposition traf. Um trotzdem erfolgreich regieren zu können, führten der Bürgermeister und die ihn tragende Partei den Bürg­er­haushalt sowie andere Verfahren der Bürg­er­beteili­gung ein. 1990 wirkten knapp 1000 Menschen mit, ihre Zahl wuchs bis 2002 auf 17 000 an. Für das Verständnis von Bürg­er­haushal­ten ist es wichtig, einige Elemente des Urmodells in Porto Alegre zu kennen: Dort haben die Bürger ein echtes Mit­spracherecht bei der Verteilung der städtischen Mittel. Die un­mit­tel­bare Beschlussfas­sung durch bürg­er­do­minierte Gremien ist der Kern dieses Bürg­er­haushalts.

„Allgemein formuliert ist der Bürg­er­haushalt ein Verfahren, das Bürgern die Möglichkeit gibt, sich an der Verteilung öffentlicher Gelder zu beteiligen.“

Das Verfahren in Porto Alegre fußt auf Ver­samm­lun­gen in den Wohn­vierteln. Deren Teilnehmer entsenden Delegierte auf die Bezirk­sebene und von dort in einen gesamtstädtischen, mehrmals monatlich tagenden Bürg­er­haushalt­srat. Alle Bürger – nicht nur die Delegierten – sind stimm­berechtigt. Diskutiert und entschieden wird über In­vesti­tio­nen, also nicht über die Mittel der laufenden Verwaltung. Es beteiligen sich mehr Arme als Reiche und mehr Frauen als Männer. In­vesti­tio­nen werden in die ärmeren Sozialräume umgelenkt und verbessern dort die Lebenssi­t­u­a­tion der Bewohner spürbar. Porto Alegre genießt hohe Anerkennung bei der Weltbank, in UN-Pro­gram­men, in der in­ter­na­tionalen, vor allem der glob­al­isierungskri­tis­chen Öffentlichkeit und bei vielen europäischen Kommunen, die sich von dem Verfahren haben inspirieren lassen.

„Das verkrampfte Beharren auf tra­di­tionellen Formen der Verwaltung und Politik scheint immer unhaltbarer.“

Zunächst verbreitete sich der Bürg­er­haushalt jedoch in Lateinamerika. Im Jahre 2006 wandten 1200 von 16 000 Kommunen Lateinamerikas das Verfahren an – Großstädte dabei eher als Klein- und Mittelstädte. Das Modell aus Porto Alegre wurde als Baukasten genutzt und den örtlichen Rah­menbe­din­gun­gen angepasst. Sogar die Weltbank stellte schließlich fest, dass Städte mit Bürg­er­haushalt im Kampf gegen die Armut oder in der Verbesserung ihrer Ba­sis­in­fra­struk­tur (Wasserver­sorgung, Kanal­i­sa­tion usw.) er­fol­gre­icher waren als andere. Auch in Bezug auf Korruption, Vet­tern­wirtschaft und Ver­schwen­dung bewährte sich der Bürg­er­haushalt.

Der Bürg­er­haushalt in Europa

1999 gab es in Europa weniger als 20 Bürg­er­haushalte, zehn Jahre später bereits über 200. Während sich die Bürg­er­haushalte in Lateinamerika im Wesentlichen an Porto Alegre ori­en­tierten, etablierten sich in europäischen Städten – verstärkt ab 2001 – sehr un­ter­schiedliche Modelle. Auch die Städte selbst, die das Verfahren anwenden, weisen kaum Gemein­samkeiten auf: Es gibt solche mit vielen oder wenigen Einwohnern, großen oder geringen sozialen Problemen, hohem oder niedrigem Mi­gra­tionsan­teil, hoher Ver­schul­dung oder fi­nanzieller Gesundheit.

„Unter den neuen par­tizipa­tiven In­stru­menten hebt sich der Bürg­er­haushalt besonders hervor, und zwar sowohl durch seine außeror­dentlich schnelle Verbreitung als auch durch das von ihm her­vorgerufene politische Echo.“

Doch bestehen in Europa auch Gemein­samkeiten beim Bürg­er­haushalt? Zunächst war der Bürg­er­haushalt ein Thema glob­al­isierungskri­tis­cher Gruppen. Sie wollten dem ne­olib­eralen Mainstream zeigen, dass „eine andere Welt möglich ist“. Dabei trafen sie in Europa jedoch weniger auf Neoliberale als vielmehr auf Vertreter des New Public Managements. Diese wollten das klassische Ver­wal­tungsmod­ell von Max Weber nicht zu einem ne­olib­eralen, sondern zu einem ne­owe­be­ri­an­is­chen Modell umgestalten. Dabei wird der öffentliche Dienst nicht etwa mark­tradikal abgeschafft, sondern ergeb­nisori­en­tiert und wirtschaftlich umgestaltet. Ein solches Modell verändert das Verhältnis von Bürger und Verwaltung. Dem Bürger wird plötzlich zugetraut, mit seinem Wissen zur Ef­fizien­zsteigerung beizutragen. Man geht auf seine Forderungen und Bedürfnisse ein, sein Feedback soll zur Qualitätssteigerung und Ser­vice­verbesserung beitragen. In diesem Bestreben liegt eine – vielleicht die einzige – Gemein­samkeit der Bürg­er­haushalte in Europa.

„Der Bürg­er­haushalt ist in Lateinamerika überwiegend ein Instrument der Armen. Er fördert die Beteiligung derer, die keine Stimme in den bestehenden In­sti­tu­tio­nen haben.“

So wurde der Bürg­er­haushalt zwar von der politischen Linken in Porto Alegre erfunden, in Lateinamerika „bottom-up“ durch Mo­bil­isierung der Armen durchge­setzt und von Glob­al­isierungskri­tik­ern nach Europa geholt. Aber dort wurde und wird er von anderen Kräften verbreitet, die eher zur gesellschaftlichen Mitte gehören. In Europa lassen sich mit dem Bürg­er­haushalt keine Massen mo­bil­isieren. Er ist in den be­nachteiligten Schichten nicht verankert und wird überwiegend „top-down“ eingeführt. Da Bürg­er­haushalte nicht gesetzlich normiert sind, werden die Regeln örtlich festgelegt und sind höchst verschieden. Ein Problem ist, dass die gewählten Mitglieder von Parlamenten und Stadträten in Europa, vor allem in Deutschland, in diesem neuen System oft einen Machtver­lust sehen. Im Wesentlichen kann man die Bürg­er­haushalte nach folgenden Fragen un­ter­schei­den:

  • Können sich nur or­gan­isierte Gruppen oder auch einzelne Bürger beteiligen?
  • Ist die Beteiligung öffentlich oder auf geladene, z. B. durch Losver­fahren ermittelte Teilnehmer beschränkt?
  • Wird über In­vesti­tio­nen, Di­en­stleis­tun­gen, Projekte, ganze Poli­tik­bere­iche oder über die allgemeine Haushalt­slage beraten?
  • Werden soziale Brennpunkte oder be­nachteiligte Bevölkerungs­grup­pen gefördert?
  • Dürfen die Bürger tatsächlich entscheiden oder nur ihre Meinung äußern?

Deutschland folgt Christchurch

Für die Bürg­er­haushalte in Deutschland stand nicht Porto Alegre, sondern Christchurch Pate. Die neuseeländische Stadt gilt seit 1993 als Best Practice für Ver­wal­tungsmod­ernisierung, an ihr ori­en­tierten sich viele deutsche Reformstädte. Zu den Re­formin­stru­menten gehört auch ein Bürg­er­haushalt. In Christchurch werden der Haushalt und die mit­tel­fristige Fi­nanz­pla­nung in gewählten Gremien diskutiert, die mit deutschen Ortsbeiräten ver­gle­ich­bar sind. Einzelne Bürger können schriftliche Vorschläge machen, die in öffentlichen Sitzungen diskutiert werden. Nach einem auf Transparenz und Kon­sul­ta­tion angelegten Verfahren entscheidet die gewählte politische Vertretung. Gegenüber den Bürgern wird Rechen­schaft darüber abgelegt, was aus ihren Vorschlägen geworden ist. Von dieser Idee ließ sich der Bürgermeister von Mönchweiler im Schwarzwald (2500 Einwohner) anstecken und führte Ende der 90er Jahre Deutsch­lands ersten Bürg­er­haushalt ein. 2003 gab es in Deutschland sieben Bürg­er­haushalte, bis 2008 waren es 20. Hinzu kamen ungefähr noch mal so viele breit angelegte Bürg­er­in­for­ma­tio­nen und -umfragen zum Haushalt.

„Das eigentlich Er­staunliche ist, dass trotz der Diskurse über Mod­ernisierung die Effekte auf diesem Gebiet meist marginal bleiben.“

Deutsche Bürg­er­haushalt­skom­munen wollen ihre Di­en­stleis­tun­gen durch Par­tizipa­tion evaluieren und ihren Haushalt transparent machen. Mehrere Kommunen nutzen den Bürg­er­haushalt zu einer breiten Information über die allgemeine Haushalt­slage und fragen die Bürger nach ihrer Meinung zur Haushalt­skon­so­li­dierung. Einige legen den Bürg­er­haushalt so an, dass ein Bürger nur dann einen Vorschlag machen kann, wenn er die Mittel an anderer Stelle wegnimmt. Andere stellen für Vorschläge ein begrenztes zusätzliches Budget zur Verfügung. Gemeinsam ist ihnen, dass sie immer stärker das Internet zur Kom­mu­nika­tion nutzen. Die persönliche Kom­mu­nika­tion in Ver­samm­lun­gen wird zunehmend nur noch als Ergänzung eingesetzt.

Kritische Würdigung des deutschen Bürg­er­haushalts

Nach dem glob­al­isierungskri­tis­chen Welt­sozial­fo­rum, das 2001 in Porto Alegre stattfand, verbreitete sich auch in Deutschland die Idee, den Bürg­er­haushalt für die soziale Stad­ten­twick­lung und für Umverteilung zu nutzen. Durchge­setzt haben sich diese Ziele nicht; die deutschen Bürg­er­haushalte sind überwiegend ein Instrument der Ver­wal­tungsmod­ernisierung geblieben. Um eine Umverteilung zugunsten bedürftiger Bevölkerungs­grup­pen oder be­nachteiligter Stadtquartiere geht es dabei kaum.

„Wäre es nicht sinnvoll, den Beteili­gung­sprozess auf die Finanzen der kommunalen Unternehmen auszudehnen, da von ihnen ein immer größerer Teil der In­vesti­tio­nen getätigt wird?“

Die erhofften Mod­ernisierungsschübe durch den Bürg­er­haushalt haben nicht stattge­fun­den oder sind sehr gering geblieben. Es stellt sich die Frage, ob man Reformen nicht auch mit anderen In­stru­menten erreicht hätte. Jedenfalls sind die Beiträge des Bürg­er­haushalts zur Mod­ernisierung hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Möglicher­weise liegt das an der Ver­wal­tungs­dom­i­nanz: In den Verfahren können sich die Bürger kaum ar­tikulieren, etwa wegen geringer Redezeiten in Ver­samm­lun­gen oder zu wenig Platz für schriftliche Kommentare bei Umfragen. Es gibt wenige kon­tinuier­lich tagende Foren und dafür viele einmalige „Bürg­er­haushalt­sev­ents“.

„Es gibt vielver­sprechende Ansätze, mit denen die Entwicklung in Richtung einer bürg­eror­i­en­tierten Mod­ernisierung, der Vertiefung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit gestärkt werden kann.“

Die Bürg­er­haushalte – wie auch andere Formen der Par­tizipa­tion – haben nicht wie in Lateinamerika zu einer breiten Beteili­gungs­be­we­gung geführt. In Europa, ins­beson­dere in Deutschland, ist der Bürg­er­haushalt kein Instrument der Be­nachteiligten. Es engagieren sich überwiegend die mittleren Schichten der Bevölkerung. Auch gegen Poli­tikver­drossen­heit hat sich der Bürg­er­haushalt nicht in der erhofften Weise bewährt – zumindest besteht kein Unterschied bezüglich der Wahlbeteili­gung in Kommunen mit oder ohne Bürg­er­haushalt. An einem kritischen Punkt ist auch die In­ter­net­dom­i­nanz der deutschen Bürg­er­haushalte: Das Internet macht sie noch ver­wal­tungslastiger, als sie ohnehin bereits sind. Als alleinige Beteili­gungsplat­tform ist es deshalb ungeeignet. Es bietet sich nur als Ergänzung der Kom­mu­nika­tion in Ver­samm­lun­gen an.

Ausblick

Obwohl es also Grund zur Kritik an den Bürg­er­haushal­ten in Deutschland gibt, ist die Verbindung von Mod­ernisierung und Par­tizipa­tion nicht generell infrage zu stellen. Ein Bürg­er­haushalt hat In­no­va­tionspoten­zial, er kann zur Le­git­i­ma­tion und Im­age­verbesserung von Politik und Verwaltung beitragen. Die deutschen Bürg­er­haushalte müssen allerdings entsprechend weit­er­en­twick­elt werden und eine soziale Dimension erhalten.

Über die Autoren

Yves Sintomer ist Professor für Soziologie an einer Pariser Universität. Carsten Herzberg und Anja Röcke arbeiten als Wis­senschaftler in Berlin. Gemeinsam führten sie eine Un­ter­suchung über europäische Bürg­er­haushalte für das Berliner Centre Marc Bloch, die Hum­boldt-Uni­ver­sität und die Hans-Böck­ler-Stiftung durch.