Faust II

Buch Faust II

Stuttgart, Tübingen , 1832
Diese Ausgabe: Insel,


Worum es geht

Festmahl in fünf Gängen

„Wenn die Poesie ganz von der Welt verloren ginge, so könnte man sie aus diesem Stück wieder­her­stellen.“ Was Goethe einmal über ein Drama Calderóns sagte, sollte später für sein eigenes Hauptwerk gelten: Faust – Der Tragödie zweiter Teil ist ein Festschmaus in fünf Gängen, mit dich­ter­ischen Zutaten aus aller Welt und vielen Epochen, kunstvoll zubereitet vom unbe­strit­te­nen Meister seines Fachs. Beim Genuss der Speisen kann einem allerdings schon mal der Bissen im Hals stecken bleiben, etwa wenn Goethe dem Leser das Platzen einer waschechten Speku­la­tions­blase vor Augen führt. Oder man prustet vor Lachen angesichts der Sprachlist, mit der der alte Haudegen seinen prüden Zeitgenossen Orgasmen im Meer und schwule Teufel un­ter­jubelte. Er schien zu ahnen, dass sie sein Werk entweder missver­ste­hen oder gar nicht begreifen würden, und ordnete an, Faust II erst nach seinem Tod zu veröffentlichen. Seither hat sich manch ein The­ater­regis­seur daran die Zähne ausgebissen. Dabei ist der Stoff gar nicht so hart, wie oft behauptet wird: Man muss sich nur darauf einlassen, das re­ich­haltige Mahl mit Bedacht und ohne Seitenblick auf die Uhr zu genießen.

Take-aways

  • Faust II ist der zweite Teil von Goethes Hauptwerk, ein äußerst ehrgeiziges und gehaltvolles, aber auch schwieriges Stück.
  • Inhalt: Faust strebt wieder nach großen Taten: Mit Mephistos Hilfe versucht er sich als Geldbeschaf­fer für den Kaiser, als Bewahrer antiker Kunstschönheit, als Gegen­rev­o­lu­tionär und schließlich als Herr über die Natur. Immer scheitert er und lädt große Schuld auf sich. Dennoch wird Fausts Seele dank göttlicher Gnade gerettet.
  • Das Stück enthält An­spielun­gen auf mehr als 3000 Jahre Lit­er­aturgeschichte.
  • Goethe nannte es ein „episches Gedicht“, in dem sich das Leben selbst wider­spiegle.
  • Das Drama beschäftigte ihn ein Leben lang: Er entwarf den zweiten Teil von Faust als junger Mann und vollendete ihn als Greis.
  • Als er das Manuskript 1831 versiegeln ließ, befand sich die Welt an der Schwelle zum bürg­er­lich-in­dus­triellen Zeitalter.
  • Mit Fausts Rettung drückte Goethe seinen Glauben an das Fortwirken großer Geister nach ihrem Tod aus.
  • Deutsche Na­tion­al­is­ten verklärten Faust als Inbegriff des teu­tonis­chen Wesens.
  • Aufgrund seines Umfangs, seines Heers an Figuren und seiner zahlreichen Effekte gilt Faust II bis heute als praktisch unaufführbar.
  • Zitat: „Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, Du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Äonen untergehn.“
 

Zusammenfassung

Auf ein Neues

Faust liegt auf einem Rasen voller Blumen. Eine Elfenschar singt ihn in einen heilsamen Schlaf. Als er aufwacht, fühlt er sich wie neugeboren. Mephisto hat sich inzwischen als Hofnarr beim Kaiser eingeschlichen. Dieser ist in bester Laune – es ist Karneval – und hört sich in seinem Thronsaal nur widerwillig an, was seine Staatsräte über die Lage im Kaiserreich zu berichten haben: Korruption, Geset­zlosigkeit und höfische Prasserei nehmen überhand, das Volk hungert, die Soldaten meutern und der Staat ist pleite. Hier weiß nur noch der Teufel Rat: Warum nicht die vielen ungehobenen Bodenschätze zu Geld machen?

Der Mum­men­schanz

Auf dem Maskenball des Kaisers geht es wild und ausgelassen zu: Als Gärtnerinnen und Gärtner verkleidete Hofbewohner bieten sich einander zur Paarung an. Furcht, Hoffnung und Klugheit kommen auf einem mit Teppichen geschmückten Elefanten herein­gerit­ten. Dann erscheint ein Knabe, der ein von Flügelpferden gezogenes Viergespann lenkt und Kleinode in die Luft schnippt. Als die Menge nach den Kost­barkeiten greift, verwandeln sie sich in ihren Händen in Käfer und Schmetter­linge. Auf dem Wagen sitzt Plutus, der Gott des Reichtums, und mit ihm eine abgemagerte Gestalt, die sich als Geiz vorstellt. Unter dem Geschrei der Weiber formt dieser aus billigem Schmuck einen glänzenden Phallus. Begleitet von tanzenden Faunen, Satyrn, Gnomen und Nymphen schreitet der große Hirtengott Pan herein. Die Zwerge erzählen von den Schätzen, die unter den Bergen auf ihn warten, und führen ihn an eine Feuerquelle. Pans Bartmaske geht in Flammen auf. Der ganze Saal droht zu verbrennen, bis Plutus dem Spuk mit einem magischen Unwetter ein Ende setzt. Die Maskerade wird aufgeklärt: Plutus ist Faust, der Geiz ist Mephisto und Pan ist der Kaiser.

„Denn wir sind Allegorien / Und so solltest du uns kennen.“ (Knabe zum Herold, S. 232)

Am nächsten Morgen treffen sich die drei im Lustgarten. Der Kaiser erfährt, dass seine neuen Freunde zur Sanierung der Staats­fi­nanzen Unmengen von Papiergeld unters Volk gebracht haben, das nur durch die noch nicht gehobenen Schätze gedeckt ist. Der Kaiser wittert Verrat: Er kann sich nicht an seine Zustimmung zu diesem Vorgehen erinnern. Als er jedoch von dem zügellosen Kaufen, Saufen und Fressen hört, das die „Zauber-Blätter“ bewirkt haben, ändert er seinen Sinn, denn die Staatss­chulden sind mit einem Schlag beglichen. Nur der alte Hofnarr, der un­ver­mit­telt wieder aufgetaucht ist, traut dem Spuk nicht. Er plant, sein Geld schnell in Grund und Boden anzulegen.

Der Geist der Helena

Nun wünscht der Kaiser, dass in einem okkul­tistis­chen Schauspiel die Geister des tro­janis­chen Königssohns Paris und der von ihm entführten griechis­chen Schönheit Helena her­auf­beschworen werden. Mephisto ziert sich: Hexen, Zwerge und Gespenster, die seien sein Metier. Aber antike Helden? Dieses „Heidenvolk“ hause in einer eigenen Hölle. Faust solle darum den bisher un­be­trete­nen Weg zu „den Müttern“ gehen, um sie zu suchen. Auf Mephistos Anweisung stampft er kurz auf und versinkt im Boden. Später, während der Geis­terbeschwörung im Rittersaal, steigt Faust an der Stelle wieder auf, an der er zuvor ver­schwun­den ist. Der Kaiser und die Hofge­sellschaft sehen nicht, dass die beiden sich für ihre Kunst einer Laterna magica bedienen, die mithilfe von Spiegeln, Objektiven und bemalten Glass­cheiben bewegte Spukbilder produziert. Faust wird nun selbst von der Illusion, die er mit produziert hat, überwältigt und versucht, Helena vor ihrem Entführer zu retten. Es folgt eine Explosion. Faust liegt am Boden, und die Geister verdampfen.

Ein Mensch entsteht

Mephisto trägt Faust in dessen altes Studierz­im­mer, legt ihn aufs Bett und zieht sich Fausts Mantel an. Der ehemalige Schüler Fausts und heutige Bac­calau­reus hält Mephisto für seinen alten Lehrer. Er strotzt vor Selb­st­be­wusst­sein und will nichts von dem gelten lassen, was Faust ihm einst beigebracht hat. Den amüsierten Mephisto beschimpft er als Hohlkopf und spricht ihm glatt die Da­seins­berech­ti­gung ab: „Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein.“ Später ex­per­i­men­tiert Fausts Assistent Wagner im Lab­o­ra­to­rium mit einem Glaskolben. „Es wird ein Mensch gemacht“, entgegnet er auf Mephistos Nachfrage. Im Kolben leuchtet und bewegt sich etwas. Nichts Geheimnisvolles sei mehr an der Natur, ruft Wagner erregt, nun könne der Mensch das Leben kristallisieren. Tatsächlich spricht ein künstlich erzeugtes Wesen, Homunkulus, aus der Phiole. Der Glaskolben schwebt zu Faust hinüber und der leuchtende Homunkulus erzählt Mephisto, was im Kopf des Schlafenden vorgeht: Faust sieht im Traum die Zeugung Helenas. Mephisto fordert das Männlein in der Phiole auf, den liebeskranken Faust zu heilen. Homunkulus will, dass Mephisto sich mit ihm und Faust auf den fliegenden Za­uber­man­tel setzt.

Klassische Walpur­gis­nacht

Die Luftfahrer erreichen die Pharsalis­chen Felder im nord­griechis­chen Thessalien. Faust wacht auf, als er griechis­chen Boden berührt, und ist erfreut. Mephisto hingegen fühlt sich nicht wohl ist in seiner Haut. Die antike Welt mit ihren Schreck­gestal­ten wie den Greifen, Sphinxen und vo­gelleibi­gen Sirenen ist ihm fremd. Auf der Suche nach einem erotischen Abenteuer macht er sich auf zu den Lamien, griechis­chen Vampiren, die in der Gestalt schöner Frauen daherkommen. In einer Vision sieht Faust erneut die Zeugung Helenas. Der Kentaur Chiron nimmt ihn auf seinen Rücken und erzählt ihm, dass auch Helena schon auf ihm gesessen habe. Nur ein Dichter könne sie wieder von den Toten auferwecken. Faust steigt ins Totenreich hinab, um genau das zu versuchen.

„Zu wissen sei es jedem ders begehrt: / Der Zettel hier ist tausend Kronen wert. / Ihm liegt gesichert als gewisses Pfand / Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland.“ (Kanzler, S. 249)

Auf einmal bebt die Erde. Seismos poltert und versetzt die Fabelwesen in Aufruhr. Das Erdbeben legt Gold frei, das die Greife sofort von den Ameisen holen lassen. Daraufhin erhebt sich das Zwergvolk der Pygmäen, wird aber durch einen Rachefeldzug der Kraniche des Ibykus niedergeschla­gen. Mephisto geht zur Höhle der hässlichen Phorkyaden, drei Schwestern, die sich gemeinsam einen einzigen Zahn und ein Auge teilen. Er leiht sich ihr Aussehen und freut sich, dass bei seinem gruseligen Anblick selbst die Teufel einen Schreck bekommen werden. Homunkulus indes möchte endlich dem Glaskolben entkommen und ein ganzer Mensch werden. Er steigt auf den Rücken eines Delfins, der ihn zur Meeresgöttin Galatee bringt, damit er sich mit dem Ozean vermähle. Die Phiole zerbricht an dem Muschel­wa­gen der Göttin, und Homunkulus wird eins mit dem Wasser. Das Meer erleuchtet hell. Sirenen und Nymphen singen dem Liebesgott Eros und den vier Elementen ein Loblied.

Klas­sisch-ro­man­tis­che Phan­tas­magorie

Helena kommt vom Strand her. Hinter ihr liegt das Gemetzel des tro­janis­chen Kriegs, den ihre Entführung ausgelöst hat. Ihr siegreicher Gatte Menelas hat sie vorgeschickt, damit sie ein Opfer vorbereite. Sie fürchtet, dass er sich an ihr rächen will. Vor dem verwaisten Palast zu Sparta sitzt die alte, hässliche Schaffnerin, hinter der sich Mephisto mit seiner ab­scheulichen Phorkyas-Maske verbirgt. Er hält Helena ihre vielen Liebhaber vor und deutet an, dass ihr die schick­sal­hafte Entführung durch Paris nicht gerade un­willkom­men war. Dann warnt er, der eifersüchtige Menelas wolle Helena köpfen und als Opfer darbringen. All das überzeugt Helena, mit Mephisto auf eine mit­te­lal­ter­liche Burg nicht weit von Sparta zu flüchten.

„Am Ende hängen wir doch ab / Von Kreaturen die wir machten.“ (Mephisto, S. 284)

Dort trifft sie Faust und ist entzückt von dessen schwärmender Rede. Die beiden liebkosen einander in Wort und Tat, als Phorkyas bzw. Mephisto eintritt und die Ankunft des wütenden Menelas ankündigt. Faust ruft seine Heerführer zum Kampf. Gemeinsam besiegen sie nicht nur den gehörnten Gatten, sondern erobern auch die gesamte Pelo­ponnes-Hal­binsel. Faust lässt sich daraufhin mit Helena in Arkadien nieder. Euphorion wird geboren, ein entzückender, aber auch wagemutiger Knabe. Seine Luftsprünge bereiten den Eltern Sorgen; er springt immer höher und setzt bald zu einem großen Flug an, um für die Freiheit der Griechen zu kämpfen. Doch nach wenigen Metern stürzt er ab, seinen Eltern zu Füßen. Helena nimmt Abschied von ihrem Geliebten und folgt ihrem Sohn in die Unterwelt. Ihr Kleid und ihr Schleier verwandeln sich in eine Wolke, auf der Faust davon­schwebt.

Krieg

Die Wolke trägt Faust auf einen Berggipfel. Mephisto kommt in Sieben­meilen­stiefeln da­hergestapft und erzählt von der Entstehung der Erde: Diese steilen Gipfel seien einst der Grund der Hölle gewesen, em­porgeschleud­ert von eruptiven Kräften. Faust wider­spricht: Seiner Meinung nach ist die Erde aus dem Meer her­vor­ge­treten. Der Teufel führt seinen Gefährten noch einmal in Versuchung, verspricht ihm Reichtum und schöne Frauen in Hülle und Fülle. Doch Faust dürstet nun danach, die Natur zu bezwingen. Er möchte dem Meer Land abgewinnen; Mephisto soll ihm dabei helfen. Da hört man in der Ferne Kriegstrom­meln. Ein Gegenkaiser hat dem Kaiser, dessen Reich nach einer In­fla­tion­skatas­tro­phe in Anarchie versinkt, den Krieg erklärt. Mephisto verspricht Faust, daraus Profit zu schlagen und ihm seinen Wunsch mithilfe der wüsten Geister Raufebold, Habebald und Haltefest zu erfüllen.

„Ganz eigen ist’s mit mythol­o­gis­cher Frau; / Der Dichter bringt sie, wie er’s braucht zur Schau: / Nie wird sie mündig, wird nicht alt, / Stets ap­peti­tlicher Gestalt, / Wird jung entführt, im Alter noch umfreit; / G’nug, den Poeten bindet keine Zeit.“ (Chiron, S. 299)

Den kaiser­lichen Truppen droht bereits die Niederlage, als Mephisto das Blatt mit Unterstützung seiner Handlanger wendet. Der Kaiser ahnt, dass es beim Sieg nicht mit rechten Dingen zuging. Doch er grübelt nicht lang, teilt sein Land unter vier Fürsten auf und stellt die alte Ordnung wieder her. Nun fordert der Erzbischof seinen Tribut: Der Kaiser sei mit dem Satan im Bunde gewesen und könne sich von dieser Sünde nur reinwaschen, wenn er die Geistlichkeit fürstlich entlohne. Auch von den künftigen Ländereien, die Faust der Küste abgewinnen will, fordert er nachdrücklich seinen Anteil.

Herr über die Natur

Ein Wanderer findet in der ärmlichen Hütte der beiden Alten Philemon und Baucis ein Dach über dem Kopf. Die Hütte, die früher am Meer stand, ist das einzige Überbleibsel aus der Zeit vor einem gi­gan­tis­chen De­ich­pro­jekt. Wo einst nur Wasser war, erblühen nun Wiesen und Gärten. Den Alten ist beim Gedanken an den Deichbau nicht wohl. Tagsüber, berichtet Baucis, kamen die Arbeiten scheinbar kaum voran, während nachts die „Flämmchen“ schwärmten und der Damm am nächsten Tag ein gutes Stück größer war. Die Alten gehen zur Kapelle, um zu beten. Ihr Läuten lässt den inzwischen greisen Faust im Ziergarten seines Palastes laut fluchen. Hütte und Kapelle sind ihm ein Dorn im Auge, sie versperren ihm den Blick auf das neu gewonnene Land und sind eine schmähliche Erinnerung an die Grenzen seiner Macht. Als Mephisto mit seinen drei Gesellen heransegelt und kistenweise Diebesbeute ablädt, besänftigt das Faust kaum. Er fordert einen unge­hin­derten Blick auf seinen „Welt-Besitz“, und deshalb soll Mephisto die beiden Alten aus dem Weg schaffen.

„Du bist ein wahrer Jungfern-Sohn, / Eh du sein solltest bist du schon!“ (Proteus zu Homunkulus, S. 327)

In der Nacht brennen Hütte und Kapelle. Mephisto berichtet höhnisch, dass die wider­spen­sti­gen Alten nicht freiwillig gehen wollten und deshalb ebenso wie der Wanderer im Feuer verbrannten. Faust will seinen Auftrag allerdings nicht so gemeint haben und leugnet seine Mitschuld am Tod der drei. Dann schweben vier schat­ten­haft graue Weiber aus dem Feuerdunst zum Palast, in dem Faust lebt: Mangel, Schuld, Not und Sorge. Die ersten drei können nicht hinein­ge­lan­gen. Doch die Sorge schlüpft durchs Schlüsselloch. Faust verflucht den Teufelsbund und die unseligen Geister, die er rief. Er sieht aber keinen Weg, sich von ihnen zu lösen. Die Sorge haucht ihn an. Darauf erblindet er und verwechselt die Dunkelheit mit der Nacht. Er drängt darauf, sein Lebenswerk endlich zu vollenden, und ruft die Arbeiter zum Deichbau herbei.

Fausts Rettung

Stattdessen kommen die Totengeis­ter Mephistos, die Lemuren, um Fausts Grab zu schaufeln. Der Blinde spricht unbeirrt weiter von seiner Vision, dem Meer Land für Millionen freier Menschen abzugewin­nen, in deren Mitte er wohnen will. Für Mephistos Bemerkung, man spreche „von keinem Graben, doch vom Grab“, ist er taub. Dann sinkt er in sich zusammen und stirbt. Die Lemuren fangen ihn auf und Mephisto triumphiert – zu früh, denn vor der Öffnung des gräulichen Höllenrachens schwebt eine Engelsschar heran und streut dem Teufel Rosen in die Augen. Sogleich brennt er vor Wollust auf diese „ap­peti­tlichen Racker“, die den Moment seiner Liebestoll­heit ausnutzen und mit Fausts Seele fortziehen.

„Ein altes Wort bewährt sich leider auch an mir: / Daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint.“ (Helena, S. 384)

In einer Bergschlucht sprechen Eremiten über die Liebe und das Leben. Dann erscheinen die Engel mit Fausts un­sterblicher Seele und schließlich die Mater Gloriosa mit einem Chor der Büßerinnen. Eine davon ist Gretchen. Sie erlöst Faust mit ihrer Liebe vom unreinen, irdischen Rest, der noch an seiner Seele klebt. Die Mater Gloriosa fordert Gretchen auf, sich zu ihr zu erheben; Faust werde der Liebenden folgen, wenn er sie sehe. Am Ende singt der Chor, dass das Geschehene nur ein Gleichnis für das Unbeschreib­liche sei.

Zum Text

Aufbau und Stil

Der zweite Faust-Teil ist noch weniger als der erste einer einzigen Dramenform oder Dich­tungstra­di­tion zuzuordnen. Vielmehr gleicht er einer Art Enzyklopädie des Weltthe­aters, mit sämtlichen Gattungen, Vers- und Aus­drucks­for­men, die Goethe im Lauf seines langen Lebens studiert hat. Jeder der fünf Akte hat ein Eigenleben. Von der fürs klassische Drama geforderten Einheit von Zeit, Ort und Handlung ist nichts mehr übrig. Goethe selbst sprach von einem dem men­schlichen Leben ähnelnden „epischen Gedicht“. Viele der Chor­pas­sagen entwarf er als Singspiele; das Stück sollte als Oper auf die Bühne gebracht werden. Sein virtuoses Spiel mit Metren und Reimkon­struk­tio­nen folgt immer einer in­haltlichen Logik: Die klassische Schönheit der Helena etwa kommt im sechshe­bi­gen jambischen und reimlosen Vers des antiken griechis­chen Dramas zum Ausdruck. Ihre Liebe zum mit­te­lal­ter­lichen Faust wird hörbar, als sie beginnt, ihm in deutschen Reimen zu antworten. Gewagte Themen versteckt der Dichter in Sprach­bildern, etwa wenn Homunkulus „um die Muschel flammt“ und sich dann in die Meeresgöttin „ergießet“. Goethes Sprache ist kraftvoll und musikalisch auf eine Art, die sich in der stillen Lektüre kaum erschließt.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Es gibt im Faust II keine zentrale Idee, die alles zusammenhält. Vielmehr wirken in sich abgeschlossene „Wel­tenkreise“ (Eckermann) aufeinander ein, die zusammen das Drama des Menschseins abbilden: Faust scheitert als Wis­senschaftler und Liebender, als Nationalökonom und Ästhet, als Politiker und Herrscher über die Natur. //
  • Der Teufel verliert Fausts Seele in letzter Sekunde an die „ewig weibliche“ Liebe. Warum? Nicht weil dieser sich zu Lebzeiten geläutert hätte, wie manche Faust-Verklärer meinten. Sein männlich-ti­tanis­ches Streben hat nur Tod und Verderben gebracht. In der un­ver­di­en­ten Rettung drückt sich vielmehr Goethes Glaube aus, dass der Geist tätiger Menschen nach ihrem Tod fortwirke.
  • //Fausts einziger Verdienst liegt in seiner utopischen Energie: Mephistos „reinem Nicht“ (sic) und „Ewig-Leerem“ setzt er im Augenblick seines Todes die Hoffnung entgegen, dass sein Wirken „nicht in Äonen untergehn“ werde.
  • Goethe lässt die Figuren mehrmals sagen, dass sie Allegorien sind. Helenas und Fausts Liebe etwa steht für den Versuch, Klassik und Romantik, das Edle und das Barbarische miteinander zu vermählen. Daraus geht mit Euphorion die moderne Poesie hervor. Dieser will in seiner Subjektivität zu hoch hinaus und stürzt ab – eine Anspielung auf Lord Byron, der im griechis­chen Frei­heit­skampf gegen die Osmanen ums Leben kam.
  • Faust II ist ein Gleichnis für den Übergang von der Feudal- zur Bürg­erge­sellschaft: Anfangs tanzen die dekadenten Höflinge auf dem Vulkan eines kaputten Staatswe­sens. Als das „Wunder“ der inflationären Geld­ver­mehrung scheitert, kommt es zur Revolution – die durch Fausts und Mephistos Zutun allerdings erst einmal scheitert.
  • Goethe spielt im Drama auf die zeitgenössische Debatte über die Er­dentste­hung an: Die „Vulkanisten“ sahen die Erdoberfläche als Ergebnis eruptiver Energien, während die „Neptunisten“ ein langsames Her­vortreten aus dem Meer annahmen. Goethe hielt es mit der letzteren, har­monis­cheren Theorie, ebenso wie er gewaltsame Rev­o­lu­tio­nen aller Art ablehnte.

His­torischer Hintergrund

An der Schwelle zu einer neuen Welt

Goethe vollendete Faust – Der Tragödie zweiter Teil 1831 – zeitgleich mit dem Beginn des Eisen­bahnzeital­ters in Deutschland. Die ungeheuren politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen, die die in­dus­trielle Revolution mit sich bringen würde, konnte er nur erahnen. Er wusste aber, dass er an der Schwelle zu einer neuen Epoche stand.

1830 siegten während der Julirev­o­lu­tion in Frankreich die liberalen Kräfte, und in ganz Europa kam es daraufhin zu Aufständen. Der Aufstieg des Bürgertums führte in den Nationalökonomien zunehmend zur Umstellung von Sachwerten auf abstrakte Geld- und Tauschwerte. An der niederländischen und nord­deutschen Küste wurden gigantische Hafenbau- und Landgewin­nung­spro­jekte angegangen; ebenso nahmen Pläne für den Bau riesiger Wasserstraßen wie den Suez-, Panama- und Rhein-Donau-Kanal Gestalt an.

Entstehung

Faust ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Lebenswerk: Zwischen dem Moment, als der kleine Johann Wolfgang gespannt das Mar­i­onet­tenthe­ater über den mit­te­lal­ter­lichen Teufelsbündner verfolgte, und den letzten Korrekturen am Faust II wenige Wochen vor seinem Tod vergingen mehr als 75 Jahre. Aus dem Werk sprechen der Übermut des Leipziger Studenten, die Ex­per­i­men­tier­freude des Frankfurter Stürmers und Drängers, der For­manspruch des Weimarer Klassikers und die Altersmilde des unermüdlich schaffenden Greises. Goethe stützte sich auf unzählige Vorlagen, vom jüdischen Buch Hiob über antike Dramen bis hin zu William Shake­speares Hamlet und Lord Byrons Lyrik. Er schöpfte freizügig aus dem reichen Fundus einer mehr als 3000 Jahre alten Lit­er­aturgeschichte, denn Goethe war überzeugt von dem, was er einmal zu seinem Vertrauten Johann Peter Eckermann sagte: „Nur durch die Aneignung fremder Schätze entsteht ein Großes.“

Obwohl die Konzeption des zweiten Teils bis in die Zeit des Urfaust, also bis 1775, zurückreicht, machte Goethe sich erst 50 Jahre später wieder ernsthaft an die Arbeit. Zunächst nahm er sich den Schlussakt vor, dann vollendete er den dritten Akt und ließ ihn 1827 unter dem Titel Helena, klas­sisch-ro­man­tis­che Phan­tas­magorie vorab veröffentlichen. Die positive Kritik ermutigte ihn weit­erzu­machen, auch wenn es ihm zunehmend schwerfiel. Aber immer, wenn er sich etwas anderem zuwendete, geschah es, dass Faust ihn „von der Seite anschielt und die bittersten Vorwürfe macht“ – wie er 1828 einem Freund schrieb. Ende 1831 ließ er das fertige Manuskript versiegeln. Er wollte sich das Urteil seiner Zeitgenossen ersparen. Allerdings tröstete sich Goethe mit dem Gedanken, dass jene, auf die es wirklich ankam, alle jünger waren als er und dass sie „das für sie Bereitete und Aufgesparte zu meinem Andenken genießen werden“.

Wirkungs­geschichte

Auf eine In­sze­nierung mussten seine jüngeren Freunde allerdings noch lange warten: Erst 22 Jahre nach der Veröffentlichung wurde der zweite Teil in Hamburg uraufgeführt. Damals wie heute stellte er The­ater­ma­cher vor eine ungeheure Her­aus­forderung, was selbst Goethe 1829 eingestand: Die Mum­men­schanz-Szene etwa würde „ein sehr großes Theater erfordern, und es ist fast nicht denkbar“. Überhaupt sah er es nicht als „bret­ter­rechtes“ Stück – kein Wunder, sollen darin doch u. a. ein leib­haftiger Elefant und die Göttin Galatee auf einer echten Seebühne auftreten, zusätzlich zu den fast 90 Gruppen und insgesamt 230 Spielfig­uren. Für die Expo 2000 in Hannover inszenierte Peter Stein auf 18 Bühnenräumen den ersten ungestrich­enen „Gesamtfaust“, was einschließlich der Pausen stolze 21 Stunden dauerte.

Am Faust sind viele Regisseure gescheitert und einige über sich hin­aus­gewach­sen. Das Stück gilt als wichtigstes Drama deutscher Sprache, es spendet Zitate für alle Lebenslagen und wurde schon früh als Na­tion­al­heilig­tum verklärt. Ideologen aller Farb­schat­tierun­gen vere­in­nahmten den alten Doktor für sich: als schwarz-weiß-roten Prototyp des deutschen Tatmenschen nach der Reichsgründung 1871, als braunen Na­tion­al­helden während der Nazizeit und schließlich als roten Klassenkämpfer in der DDR. Während des Ersten Weltkriegs gab es sogar eine Faust-Adaption als Tor­nister­lektüre für pa­tri­o­tis­che Soldaten. Der alte Goethe hat sich vermutlich mehr als einmal im Grabe umgedreht, denn er sah sein Werk als Geschenk an alle Menschen und träumte von einer „europäischen, ja allgemeinen Weltlit­er­atur“, die zum Verständnis zwischen den Völkern und zum friedlichen Zusam­men­leben beitragen sollte.

Über den Autor

Johann Wolfgang von Goethe wird am 28. August 1749 in Frankfurt am Main geboren und wächst in einer gesellschaftlich angesehenen und wohlhaben­den Familie auf. Nach dem Pri­vatun­ter­richt im Elternhaus nimmt der 16-Jährige auf Wunsch seines Vaters ein Jurastudium in Leipzig auf, das er 1770 in Straßburg mit dem Lizentiat beendet. Dort macht er die Bekan­ntschaft von Johann Gottfried Herder und verfasst erste Gedichte. In Frankfurt eröffnet Goethe eine Kanzlei, widmet sich aber vermehrt seiner Dichtung. 1773 publiziert er das Drama Götz von Berlichin­gen, ein Jahr später den Briefroman Die Leiden des jungen Werther; beide Werke machen ihn berühmt. 1775 bittet ihn der Herzog Carl August nach Weimar; Goethe macht dort eine schnelle Karriere als Staats­beamter. Nach zehn Jahren Pflichterfüllung am Hof reist er 1786 nach Italien. Diese „ital­ienis­che Reise“ markiert einen Neuanfang für sein Werk. 1788 kehrt Goethe nach Weimar zurück, veröffentlicht sein Drama Egmont und lernt Christiane Vulpius kennen, mit der er bis zur Heirat 1806 in „wilder Ehe“ zusam­men­lebt. Nach anfänglichen Differenzen freundet er sich 1794 mit Friedrich Schiller an, in dessen Zeitschrift Die Horen Goethe mehrere Gedichte veröffentlicht. Die beiden Dichter verbindet fortan eine enge Fre­und­schaft, auf der die Weimarer Klassik und ihr an der griechis­chen Antike ori­en­tiertes Welt- und Men­schen­bild aufbaut. Als „Uni­ver­sal­ge­nie“ zeigt sich Goethe an vielen Wis­senschaften in­ter­essiert: Er ist Maler, entwickelt eine Farbenlehre, stellt zoologische, min­er­al­o­gis­che und botanische Forschungen an, wobei er die Theorie einer „Urpflanze“ entwickelt. 1796 erscheint der Bil­dungsro­man Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1808 das Drama Faust I und 1809 der Roman Die Wahlver­wandtschaften. Ab 1811 arbeitet Goethe an seiner Au­to­bi­ografie Dichtung und Wahrheit. Kurz vor seinem Tod vollendet er Faust II. Am 22. März 1832 stirbt er im Alter von 83 Jahren in Weimar. Er gilt bis zum heutigen Tag als der wichtigste Dichter der deutschen Literatur. Sein lyrisches Werk, seine Dramen und Romane liegen als Überset­zun­gen in allen Welt­sprachen vor.