Lobbying, ein Bestandteil demokratischer Politik
Etwa 80 % der in den EU-Mitgliedsstaaten geltenden Gesetze werden in Brüssel beschlossen. Mit dem 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon beeinflusst die Union nationales Recht noch stärker als zuvor. Unternehmen sind darum gut beraten, sich nicht nur auf nationaler, sondern zunehmend auch auf europäischer Ebene bei Legislative und Exekutive Gehör zu verschaffen. Schließlich entstehen hier die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sie sich bewegen können, und damit auch Wettbewerbsvorteile oder -nachteile. Dieses Mitreden in politischen Dingen wird mit dem Begriff „Lobbying“ bezeichnet. Konkret verbergen sich dahinter die Beschaffung und Auswertung von Informationen über geplante Gesetze oder Richtlinien sowie die Beeinflussung von politischen Entscheidungsträgern. Seinen teilweise negativen Beigeschmack verdankt der Begriff einigen schwarzen Schafen, die mit Korruption und anderen zweifelhaften Methoden weit über das Ziel hinausgeschossen sind. Tatsächlich ist Lobbying ein wichtiger Bestandteil demokratischer Politik, deren Kern das Abstimmen verschiedener Interessen ist.
Funktionen des Lobbyings
Unternehmen versuchen natürlicherweise, ihre Interessen zu vertreten – auch und gerade in der Politik. Lobbying kann hierbei drei Funktionen haben:
- Dank aktueller Informationen über Trends entwickeln Sie eine Art Frühwarnsystem.
- Sie können Entscheidungsprozesse in der Politik aktiv begleiten.
- Sie betreiben Lobbying als Krisenmanagement.
„Lobbying ist kein obskures Strippenziehen und keine halbseidene Tätigkeit. Vielmehr handelt es sich um harte Arbeit.“
Um ein zuverlässiges Frühwarnsystem zu entwickeln, müssen Sie laufend Themen und Trends beobachten, die kritisch für Ihr Unternehmen werden könnten. Interessenvertretung fußt auf Vertrauen und muss langfristig betrieben werden. Dazu gehört ein stabiles Netzwerk mit politischen Entscheidern, PR-Agenten, Journalisten, Branchenkollegen und Fachanwälten. Interessenvertretung als Krisenmanagement ist deshalb so wichtig, weil eine unerwartete Entwicklung eine schnelle Reaktion erfordern kann. Ein Beispiel ist die 2003 eingeführte Steuer auf Alcopop-Getränke. Je besser vernetzt Sie in einer solchen Situation sind, desto effizienter und schneller können Sie in Entscheidungen eingreifen.
Die EU-Institutionen
Eine effiziente Interessenvertretung verlangt nach profunden Kenntnissen darüber, wie der EU-Apparat aufgebaut ist. Neben den EU-Organisationen wirken auch die Mitgliedsstaaten an der Gestaltung der Politik mit. Weil mit dem Vertrag von Lissabon aber das Unionsrecht über das Recht der Mitgliedsstaaten gestellt worden ist, sind EU-Gesetze auch national bindend. Reichweite und Bindungswirkung variieren je nach Rechtsnatur des Akts. Unternehmerische Interessenvertreter stehen vielen Ansprechpartnern zahlreicher Institutionen gegenüber. Die wichtigsten sind:
- Europäisches Parlament: Das Parlament vertritt die europäischen Völker und agiert damit als Vermittler zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU. Die Abgeordneten erarbeiten in Ausschüssen die fachlichen Beschlussvorlagen für das Plenum.
- Europäische Kommission: Die Kommission überwacht die Einhaltung des Unionsrechts und besitzt das Initiativrecht bei der EU-Gesetzgebung. Sie ist das Exekutivorgan der EU, sozusagen die EU-Regierung. Jeder der 27 EU-Staaten stellt einen Kommissar, an der Spitze steht der Kommissionspräsident.
- Europäischer Rat: Er ist das höchste Gremium der EU und bestimmt die allgemeinen Ziele sowie die strategischen Interessen der Gemeinschaft. Im Rat kommen die Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedsstaaten und der Präsident der Kommission zusammen.
- Rat der Europäischen Union: Dieses Gremium, auch Ministerrat genannt, legt die Politik der EU fest. In seiner Verantwortung stehen sämtliche Rechtsakte. Ausgestattet ist der Rat mit einem indirekten Initiativrecht gegenüber der Kommission, deren Mitglieder er auch ernennt. Der Rat wird aus Ministern der Mitgliedsländer gebildet, wobei je nach Politikbereich verschiedene Ratsformationen möglich sind.
- Gerichtshof der EU: Der Gerichtshof ist die Judikative der EU. Er ist für alle Rechtsakte zuständig. Gegen die hier gefällten Urteile kann keine Berufung eingelegt werden.
Möglichkeiten der Interessenvertretung
An der Rechtsetzung sind in der EU gewöhnlich mindestens zwei oder drei Institutionen beteiligt. Normalerweise geht die Initiative von der Kommission aus, während Parlament und Rat mitentscheiden, wobei das Mitspracherecht des Parlaments mit dem Vertrag von Lissabon deutlich gewachsen ist. An der Entscheidungsfindung sind auch Fachausschüsse beteiligt, in denen Sachverständige und nationale Beamte mitwirken. Wer seine Interessen in der EU vertreten will, sollte wegen der Komplexität des Gebildes die wichtigsten Institutionen im Visier haben, allen voran den Rat den Europäischen Union mit seiner gesetzgebenden Gewalt. Weil der Rat auch Impulse für zahlreiche Entscheidungen gibt, lohnt es sich, ein für ein Unternehmen wichtiges Thema durch einen nationalen Vertreter in den Rat zu bringen. Dieser spricht es dann im Rat an und kann so ein Gesetz auf den Weg bringen.
„Politik ist, besonders unter den Rahmenbedingungen der Demokratie, immer von Auseinandersetzung, Aushandeln, Abstimmungen und Kompromissfindung geprägt.“
Auch die Kommission darf auf keinen Fall vernachlässigt werden, gestaltet sie doch letztlich die Richtlinien und Verordnungen. Einflussnahme ist hier am besten bei der Leitung einer Generaldirektion möglich. Außerdem können Sie die Beamten des für Sie relevanten Fachreferats mit Informationen versorgen. Wegen seiner gewachsenen Macht sollten Sie auch das Parlament berücksichtigen. Immerhin kann es Gesetzesvorhaben inhaltlich beeinflussen. Hier empfiehlt sich der Kontaktaufbau zu Abgeordneten und zu dauerhaften Arbeitsgruppen sowie die Teilnahme an Expertengesprächen und öffentlichen Anhörungen.
Akteure
Interessenvertreter oder Lobbyisten lassen sich grundsätzlich in kollektive und nicht kollektive Akteure unterteilen. Kollektive Akteure sind beispielsweise Verbände, nicht kollektive sind Unternehmensrepräsentanzen oder Governmental-Relations-Agenturen. Verbände eignen sich gut als Informationsquelle für Branchenthemen. Auch können sie die Interessen eines Mitgliedsunternehmens, beispielsweise bei Anhörungen, vertreten; allerdings muss sich das Unternehmen immer dem Verbandsinteresse unterwerfen.
„Es ist eine Tatsache, dass die Güte und Überzeugungskraft eines Sacharguments nie im ‚luftleeren Raum‘ bewertet wird, sondern immer in Abhängigkeit des Umfeldes, aus dem das Argument kommt.“
Effizienter, aber auch weitaus teurer sind eigene Unternehmensrepräsentanzen. Laut Register der Europäischen Kommission beliefen sich beispielsweise die Lobbyausgaben der Deutschen Telekom im Jahr 2008 auf 1,2 Millionen Euro. Mit der Repräsentanz geben Sie Ihrem Unternehmen in Brüssel ein Gesicht. Der Vorteil des Repräsentanten gegenüber dem Verband liegt zudem darin, dass er an die Weisungen des Unternehmens gebunden ist und ausschließlich in dessen Interesse handelt, also keine Kompromisse eingehen muss. Bedenken Sie aber, dass hierbei alle Kontakte in einer Hand liegen.
„Der Interessenvertreter kann in einem White Paper unter Beweis stellen, dass sein Anliegen nicht nur einem Partikularinteresse seines Auftraggebers entspricht, sondern weitergehende Sachargumente für seine Position streiten.“
Die Tätigkeit des Repräsentanten wie auch die einer Governmental-Relations-Agentur hat eher prozessualen als inhaltlichen Charakter: Beide knüpfen und halten Kontakte. Für die inhaltliche Arbeit können Sie auf Public-Affairs-Agenturen und Rechtsanwaltskanzleien zurückgreifen. Diese überwachen die politischen Diskussionen und Verfahren, analysieren Profile und Positionen von Parlamentariern, entwickeln Kommunikationskonzepte und organisieren Veranstaltungen, beispielsweise politische Podiumsdiskussionen. Ein Seniorberater kostet 1400–1800 € pro Tag.
Instrumente
Zu den wichtigsten Instrumenten der Lobbyarbeit gehören Veranstaltungen, Telefonate, E-Mails, persönliche Gespräche, Stellungnahmen und White Papers. Das White Paper ist ein Argumentationspapier, dessen Urheber nicht genannt wird. Der politische Entscheidungsträger findet hier Argumente für anstehende Entscheidungen und kann das Papier mit anderen diskutieren, ohne dessen Herkunft preiszugeben. So trägt der Entscheidungsfindungsprozess nicht das Stigma der Beeinflussung durch einen Interessenvertreter. Würde beispielsweise ein Generikahersteller davon sprechen, dass die Verschreibung von Generika kostengünstiger für das Gesundheitssystem ist als Originalmedikamente, würde der Entscheidungsträger sofort puren Eigennutz vermuten und den Nutzen des Vorschlags für die Allgemeinheit anzweifeln.
Lobbying konkret
Ein Lobbyingprozess durchläuft in der Regel fünf Schritte:
- Zuerst definieren Sie Ihre Ziele und prüfen, ob die Inhalte politisch durchsetzbar sind. Dazu ein Beispiel: Ein Branchenverband hatte von einer in Arbeit befindlichen Richtlinie gehört, die seine Mitgliedsunternehmen in eine schwächere Wettbewerbsposition rücken würde. Eine daraufhin beauftragte Governmental-Relations-Agentur nahm nicht nur die relevanten Kontakte auf, sondern wurde auch inhaltlich tätig. So stellte sie fest, dass die vom Verband gesetzten Ziele nicht durchsetzbar waren, und erarbeitete neue Kernziele.
- Entwickeln Sie einen Plan und legen Sie die Ansprechpartner fest. Im Beispielfall sollte in ein Gesetzgebungsverfahren eingegriffen werden, darum mussten die Europäische Kommission, der Rat der EU und das Europäische Parlament kontaktiert werden. Neben der Kontaktaufnahme wurde eine Überwachung der Arbeiten an der Richtlinie in die Wege geleitet, und für offene rechtliche Fragen sprach man eine Brüsseler Anwaltskanzlei an.
- Entwerfen Sie ein White Paper und stellen Sie es den Adressaten zu. Im vorliegenden Fall war es wichtig, darin die Bedeutung des Anliegens für ganz Europa herauszustellen. Auf den ersten Blick betraf es nämlich nur einen Mitgliedsstaat und stieß darum auf wenig politisches Gehör.
- Flankieren Sie die Wirkung des White Papers durch unterstützende Maßnahmen wie den stetigen Informationsaustausch mit den Entscheidungsträgern.
- Belgeiten Sie die Entscheidungsprozesse. So initiierte beispielsweise die Agentur persönliche Gespräche mit dem Generaldirektor Binnenmarkt. Auch der Rat und das Parlament wurden kontaktiert. Bei Letzterem musste vor allem der Berichterstatter im Rechtsausschuss angesprochen werden, da dieser die Vorlage für das Plenum erarbeitet hatte. Im Ergebnis hat der Verband es geschafft, den Richtlinienentwurf nach seinen Vorstellungen zu beeinflussen.
Vergleich EU – USA
In den USA gehört Lobbyismus seit Langem zum politischen Alltag. Während sich die Arbeitsweisen der europäischen und der amerikanischen Interessenvertreter inzwischen weitgehend angeglichen haben, gibt es einen gravierenden Unterschied in der Regulierung: 1995 wurden in den USA strenge Vorschriften zur Registrierung von Lobbyisten eingeführt. Besonders nennenswert ist die vorgeschriebene Offenlegung von Entgelten, mit der sich die EU noch sehr schwertut. Zwar gibt es auch in der Union ein Lobbyistenregister, die Eintragung ist jedoch jedem freigestellt. Die Medien, heute schon ein wichtiger Faktor im amerikanischen Lobbying, dürften in Zukunft auch in Europa vermehrt miteinbezogen werden.