Das Leben ist gefährlich
Das Leben ist eine endlose Aneinanderreihung von Katastrophen – das vermitteln uns zumindest die Nachrichten. Schon 1986 beschrieb Ulrich Beck in seinem Buch Risikogesellschaft die neuen Koordinaten einer Gesellschaft, die mit bislang nie gekannten Risiken leben muss: Technologien wie die Atomkraft bergen unsichtbare, grenzüberschreitende Gefahren, die das gesamte Ökosystem bedrohen und die man ohne Expertenwissen kaum noch durchschauen, geschweige denn bewältigen kann. Was in den 1980er Jahren zu einer breiten Welle ökologischen und sozialen Engagements geführt hat, ist schon ein Jahrzehnt später einem extrem distanzierten Blick auf die Welt gewichen: die Welt als Potenzial, der Mensch als cooler, zurückhaltender Zuschauer ohne innere Beteiligung. Das Leben im Hier und Jetzt wird hingenommen, das Glück auf die Zukunft verschoben. Der Alltag ist durchorganisierte Langeweile, den „Thrill“ holt man sich bei künstlich inszenierten Ereignissen wie Bungee-Jumping, aber bitte nur mit TÜV-Zertifikat, zur Sicherheit. Das Problem ist nur: Ein solches Leben in der Komfortzone ist langweilig und macht unzufrieden; das Eingehen von Risiken dagegen stärkt und macht glücklich.
Was ist riskant?
Von Risiken spricht man bei Entscheidungen und Handlungen, die zwar nicht unmittelbar bedrohlich sind, deren Ausgang man jedoch nicht abschätzen kann. Entscheidungen unter Unsicherheit also, die Veränderungspotenzial bergen. Veränderungen wiederum lassen uns niemals kalt, sondern werden von Emotionen begleitet: Je wichtiger die Veränderung, desto mehr Emotionen. Diese sind nicht mit Gefühlen zu verwechseln: Gefühle sind nur der Ausdruck eines inneren Zustands, beispielsweise Hunger. Emotionen dagegen sind ein hochkomplexes Konstrukt. Hier wird das Gefühl mit einer Wahrnehmung verbunden („Ich nehme den Hunger bewusst wahr“), mit einer Bewertung („Hunger ist unangenehm“) und mit einer Handlungsmotivation (Gang zum Kühlschrank). Emotionen sind umso intensiver, je stärker, realer und wichtiger ein Ereignis für uns ist. Die Einschätzungen von Risiken sind nicht objektiv, sondern höchst subjektiv und hängen u. a. von der persönlichen Betroffenheit, der Opferzahl pro Ereignis und der Freiwilligkeit eines eingegangenen Risikos ab.
Vermeiden und Versichern
Es gibt auch unvollständige Emotionen: Oft kommt es nicht zur Handlungsmotivation, man bleibt auf der vorherigen Stufe stecken und unternimmt nichts. Typisches Beispiel ist ein Raucher, der genau weiß, wie gefährlich sein Verhalten ist, aber trotzdem nicht damit aufhört. Hier sind Vermeidungsstrategien am Werk, die gesellschaftlich akzeptiert sind. Dazu gehören beispielsweise Aufschieben, Verleugnen, Schuldzuweisungen oder Eskapismus, aber auch die oben beschriebene Grundhaltung der Coolness. Alle diese Strategien führen dazu, dass wir nicht zum Handeln kommen, während aus vielleicht noch beherrschbaren Risiken nicht mehr beeinflussbare Tatsachen werden.
„Risikointelligenz beschreibt die Fähigkeit, das Leben erfolgreich zu meistern.“
Bewältigte Risiken machen stark und fördern die so genannte Resilienz, also die Fähigkeit, auch nach schweren Schicksalsschlägen wieder aufzustehen und das Leben erfolgreich zu meistern. Trotzdem versuchen wir eher, Risiken zu vermeiden, oder wir versichern uns dagegen – ein Leben mit Vollkasko verleiht uns trügerischere Sicherheit und sorgt dafür, dass die Risiken aus dem Blick geraten. Der angemessene Umgang mit Risiken ist aber wesentlich, wenn man die richtigen Entscheidungen treffen soll, sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ebene. Das klassische Intelligenzkonzept hilft dabei nicht weiter, auch nicht die anderen derzeit diskutierten Formen von Intelligenz, wie die soziale, die praktische, die operative oder die multiple Intelligenz. Es braucht einen neuen Intelligenzbegriff.
Risikointelligenz
Auch Emotionen können höchst rational sein, weil sie uns bisweilen eine effektive und zuverlässige Einschätzung von Situationen erlauben. Intelligenz umfasst also sowohl intellektuelle als auch emotionale Fähigkeiten, die sich gegenseitig ergänzen. Der Intellekt kann auf abstrakte Weise über die ganze Welt nachdenken – etwa über die drohende Klimakatastrophe. Emotionen dagegen ermöglichen uns, in Situationen, die uns ganz persönlich betreffen, blitzschnell zu reagieren, die nötigen Ressourcen bereitzustellen und ggf. Hilfe zu holen – etwa wenn wir angegriffen werden. Emotionen bringen uns zum Handeln, Gedanken nicht. Damit haben Emotionen eine wichtige evolutionäre Funktion: Sie sichern unser Überleben. Intellektuelle und emotionale Intelligenz stehen nicht nebeneinander, sondern greifen ineinander und bilden unser Kapital für den Umgang mit Risiken. Das ist das Konzept der Risikointelligenz.
„Wir müssen Entscheidungen treffen und können nicht alle Folgen absehen.“
Zur Geltung kommt Risikointelligenz beispielsweise im Expertenwissen, das über so genannte kognitive Schemata abgerufen wird. Unter Expertenwissen versteht man erworbenes, automatisiertes Wissen, das intuitiv und ohne Nachdenken angewandt werden kann, etwa beim Autofahren. Ein anderer Bereich ist das Erfahrungswissen. Es speist sich aus Erlebnissen, die wir über lange Jahre hinweg gemacht haben, und führt uns schneller und direkter zu den richtigen Ergebnissen als wissenschaftliche und theoretische Erkenntnisse. Ein dritter Fall von Risikointelligenz ist das Bauchgefühl, auch Intuition genannt.
Komplexität als Segen
Die Welt wird immer komplexer, stöhnen viele. Doch in Wirklichkeit ist Komplexität ein Segen, kein Problem. Sie ermöglicht es, andere Optionen, neue Lösungsansätze in den Blick zu bekommen. Was bei einfachen, linearen Zusammenhängen unmöglich oder schlicht falsch wäre, ist in komplexen Zusammenhängen eine Option unter vielen. Das bedeutet aber auch, dass man Unwissenheit und Ergebnisoffenheit akzeptieren und spontane, unerwartete Lösungen zulassen muss, die als Ergebnis von Rückkopplungsprozessen und komplexen Wechselwirkungen in selbst organisierten Systemen entstehen. Komplexität ist übrigens nicht dasselbe wie Kompliziertheit: Kompliziertheit besteht aus linearen Kausalketten, Komplexität dagegen ist ein System von Rückkopplungseffekten. Um mit Komplexität umzugehen, muss man neugierig und offen für Unerwartetes sein, man muss Unsicherheiten akzeptieren und bereit sein, einmal getroffene Annahmen zu revidieren. Genau das ist in unseren Unternehmen jedoch häufig nicht der Fall: Es dominieren Kennzahlen, Vorgaben, Hard Facts.
Komplexität bewältigen
Das Erfolgsgeheimnis von Firmen, die sich über Jahrzehnte am Markt behauptet haben, ist das so genannte anpassungsorientierte Management: die Fähigkeit, sich flexibel einer sich verändernden Umwelt anzupassen und dabei zugleich die eigene Identität zu bewahren. Ergebnisoffene Prozesse sind ein weiterer Weg: Verglichen mit festen Zielvorgaben scheinen sie zwar zunächst die Komplexität zu erhöhen, in Wirklichkeit ermöglichen sie aber überhaupt erst die Bewältigung von Komplexität, weil sie kreative Problemlösungen generieren und neue Wege offenlegen, die bei festen Vorgaben gar nicht in den Blick geraten. Weitere Erfolgsfaktoren sind Teamorientierung und Zukunftsplanung mit Szenarien statt mit Kennzahlen: Hier geht es um die Entwicklung alternativer Zukunftsbilder, wobei nicht nur die ökonomischen Aspekte, sondern auch die Robustheit des Szenarios ein Kriterium sein sollte. Planspiele leisten gute Dienste bei der Bewältigung komplexer, riskanter Situationen.
Risikointelligentes Verhalten
Um eine risikointelligente Führungskultur zu etablieren, brauchen Sie eine starke Persönlichkeit; Sie müssen sich selbst, ihre Grenzen und ihre Fähigkeiten gut kennen. Ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg ist die Erwartung von Selbstwirksamkeit: Ich bin nicht das Opfer der Umstände, sondern fühle mich in der Lage, mein Leben verantwortlich zu gestalten. Empathie und Einfühlungsvermögen sowie Kooperation mit anderen sind weitere Helfer beim risikointelligenten Verhalten.
„Wie stark eine Emotion ist, hängt davon ab, wie wichtig die jeweilige Veränderung im Einzelnen erlebt wird.“
Entscheidend ist das Wissen um die eigenen Stärken, um das, was Sie auf Ihrem bisherigen Lebensweg erfolgreich gemacht hat. Risikointelligenz bedarf einer starken mentalen Präsenz, d. h. eines Bewusstseins seiner selbst, dessen, wo man hier und jetzt gerade steht. Dazu braucht man Zugang zu den eigenen Gefühlen, aber auch die Fähigkeit, angemessen mit ihnen umzugehen. Nicht um esoterische Selbstfindung geht es, sondern um eine unverstellte Sicht der Realität. Dazu gehört auch der offene Blick auf Risiken, d. h. eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem, was passieren kann, und eine realistische Einschätzung dieser Risiken. Orientieren Sie sich an einem Pokerprofi, der immer wieder nüchtern berechnet, wie riskant ein bestimmter Spielzug für ihn ist. Nur wer die Wirklichkeit akzeptiert, kommt ins Handeln und kann Risiken intelligent begegnen.
Zwischenmenschliches
Ohne die nötigen Ressourcen ist Erfolg immer unwahrscheinlich. Worin diese Ressourcen jeweils bestehen, hängt von der Situation ab. Ein Verhandlungsführer bei einer Geiselnahme etwa holt sich andere Expertenmeinungen ein als jemand, der über Tarife verhandelt. Es geht darum, selbst jederzeit handlungsfähig zu sein – und doch sind Vernetzung und Kooperation wichtige Voraussetzungen für den Erfolg, auch und gerade in Risikosituationen. Nicht umsonst verlassen sich viele, die beruflich mit hohen Risiken umgehen, auf ein eingespieltes, langjähriges Team, in dem jeder jedem voll vertraut.
„Wir können erkennen, dass Komplexität nicht ein Problem, sondern vielmehr eine clevere Lösung ist.“
Gute Kommunikation, d. h. die Fähigkeit, unsere Bedürfnisse angemessen mitzuteilen, ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor risikointelligenten Handelns. Ein sehr hilfreiches Instrument ist das Feedback, das uns hilft, unsere Spielräume zu erweitern, und damit den Raum für neue Wege schafft. Wichtig ist auch der Zugang zu den eigenen inneren Ressourcen, Bedürfnissen, Kompetenzen, persönlichen Werten und Wünschen. Allerdings lernen wir den richtigen Umgang mit Gefühlen kaum und haben folglich Mühe damit. Besonders schwer tun wir uns, wenn wir um etwas bitten müssen.
„Richtig trainieren lässt sich Risikointelligenz leider nicht.“
Statt Verantwortung für das eigene Leben dominiert bei vielen Menschen ein Schuld- und Opfergefühl. Risikointelligente Menschen übernehmen die Verantwortung für ihre Gefühle und ihr Leben. Sie klären ihre Beziehungen von Zeit zu Zeit und entscheiden dann, ob ihnen eine bestimmte Beziehung noch guttut oder nicht. Wer wahrhaftig ist und wer zu sich selbst und zu seinen Gefühlen steht, wer die eigenen Interessen und Ziele authentisch vertritt, der handelt risikointelligent.
Wie man risikointelligent wird
Risikointelligenz kann man nicht lernen. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer Haltung zur Welt, die Ungewissheit akzeptiert und den eigenen Grenzen und Bedingtheiten ins Auge sieht. Nur so kann man Ängste abbauen und Blockaden überwinden. Wer sich über sich selbst, über die eigenen Bedürfnisse und Wünsche im Klaren ist, wer die Unsicherheit von ergebnisoffenen Prozessen akzeptieren kann, wer sich von Niederlagen nicht dauerhaft aus dem Konzept bringen lässt, wer sich ggf. Hilfe und Unterstützung holen kann, wird am Ende Erfolg haben. Dabei hilft die Intuition, die sich umso stärker entwickelt, je öfter sie benutzt wird – und natürlich das im Lauf des Lebens erworbene Erfahrungs- und Expertenwissen, das uns ermöglicht, rasch Entscheidungen zu treffen. Risikointelligenz ist also alles in allem keine Frage der formalen Bildung, sondern des gelebten Lebens.