Risikointelligenz

Buch Risikointelligenz

Econ,


Rezension

Das Leben ist voller Risiken. Wie schaffen wir es in einem hochriskan­ten Umfeld, trotz Un­sicher­heit gute Entschei­dun­gen zu treffen? Das Schlüsselwort heißt Risikoin­tel­li­genz. Laut Brigitte Witzer ist das die Fähigkeit, in hochkom­plexen, unsicheren Situationen den eigenen Weg zu finden. Was genau darunter zu verstehen ist, erklärt die Autorin leicht lesbar und erläutert es mit Beispielen risikoin­tel­li­gen­ten Verhaltens. Allerdings operiert sie recht willkürlich mit den un­ter­schiedlich­sten the­o­retis­chen Konzepten, von emotionaler Intelligenz bis Co-Abhängigkeit. Manchmal verdeckt dieses In­stru­men­tar­ium den Kern der Sache eher, als dass es ihn offenlegt. Auch fragt man sich bisweilen, ob die „Ergeb­nisof­fen­heit“, für die Witzer plädiert, nicht einfach ein anderes Wort für Gleichgültigkeit oder Ka­pit­u­la­tion ist. Als neuer Denkansatz taugt das Buch aber allemal. BooksInShort empfiehlt es allen, die sich beruflich oder privat für die Bewältigung von Risiken in­ter­essieren. Also wirklich allen.

Take-aways

  • Bei vielen Entschei­dun­gen wissen wir nicht, ob wir am Ende Erfolg haben werden.
  • Risiken sind potenzielle Veränderungen, und Veränderungen bewegen uns emotional.
  • Emotionale Intelligenz ist ein wichtiger Bestandteil der Intelligenz: Zusammen mit der in­tellek­tuellen Intelligenz sichert sie unser Überleben.
  • Wichtiger als wis­senschaftliches Wissen sind Erfahrung, Expertise und Intuition.
  • Von Bedeutung ist außerdem Wider­stand­skraft bei Niederlagen (Resilienz).
  • Komplexität ist ein Vorzug, kein Problem. Sie ermöglicht es, neue Per­spek­tiven und Hand­lung­sop­tio­nen zu finden.
  • Komplexe Systeme funk­tion­ieren nicht linear, sondern mit Rück­kop­plung­sprozessen und spontanen Wech­sel­wirkun­gen.
  • Er­fol­gs­fak­toren für risikobe­haftete Entschei­dun­gen sind Ergeb­nisof­fen­heit, Vernetzung und Kooperation.
  • Risikoin­tel­li­gentes Handeln bedeutet, die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ängste, aber auch die persönlichen Stärken zu kennen und zu analysieren.
  • Vo­raus­set­zung dafür ist ein re­al­is­tis­cher Blick auf die Welt, die es zu akzeptieren gilt.
 

Zusammenfassung

Das Leben ist gefährlich

Das Leben ist eine endlose Aneinan­der­rei­hung von Katas­tro­phen – das vermitteln uns zumindest die Nachrichten. Schon 1986 beschrieb Ulrich Beck in seinem Buch Risiko­ge­sellschaft die neuen Koordinaten einer Gesellschaft, die mit bislang nie gekannten Risiken leben muss: Tech­nolo­gien wie die Atomkraft bergen unsichtbare, grenzüberschre­i­t­ende Gefahren, die das gesamte Ökosystem bedrohen und die man ohne Ex­perten­wis­sen kaum noch durch­schauen, geschweige denn bewältigen kann. Was in den 1980er Jahren zu einer breiten Welle ökologischen und sozialen Engagements geführt hat, ist schon ein Jahrzehnt später einem extrem dis­tanzierten Blick auf die Welt gewichen: die Welt als Potenzial, der Mensch als cooler, zurückhaltender Zuschauer ohne innere Beteiligung. Das Leben im Hier und Jetzt wird hingenommen, das Glück auf die Zukunft verschoben. Der Alltag ist dur­chor­gan­isierte Langeweile, den „Thrill“ holt man sich bei künstlich in­sze­nierten Ereignissen wie Bungee-Jump­ing, aber bitte nur mit TÜV-Zer­ti­fikat, zur Sicherheit. Das Problem ist nur: Ein solches Leben in der Komfortzone ist langweilig und macht unzufrieden; das Eingehen von Risiken dagegen stärkt und macht glücklich.

Was ist riskant?

Von Risiken spricht man bei Entschei­dun­gen und Handlungen, die zwar nicht unmittelbar bedrohlich sind, deren Ausgang man jedoch nicht abschätzen kann. Entschei­dun­gen unter Un­sicher­heit also, die Veränderungspoten­zial bergen. Veränderungen wiederum lassen uns niemals kalt, sondern werden von Emotionen begleitet: Je wichtiger die Veränderung, desto mehr Emotionen. Diese sind nicht mit Gefühlen zu verwechseln: Gefühle sind nur der Ausdruck eines inneren Zustands, beispiel­sweise Hunger. Emotionen dagegen sind ein hochkom­plexes Konstrukt. Hier wird das Gefühl mit einer Wahrnehmung verbunden („Ich nehme den Hunger bewusst wahr“), mit einer Bewertung („Hunger ist unangenehm“) und mit einer Hand­lungsmo­ti­va­tion (Gang zum Kühlschrank). Emotionen sind umso intensiver, je stärker, realer und wichtiger ein Ereignis für uns ist. Die Einschätzungen von Risiken sind nicht objektiv, sondern höchst subjektiv und hängen u. a. von der persönlichen Be­trof­fen­heit, der Opferzahl pro Ereignis und der Frei­willigkeit eines einge­gan­genen Risikos ab.

Vermeiden und Versichern

Es gibt auch unvollständige Emotionen: Oft kommt es nicht zur Hand­lungsmo­ti­va­tion, man bleibt auf der vorherigen Stufe stecken und unternimmt nichts. Typisches Beispiel ist ein Raucher, der genau weiß, wie gefährlich sein Verhalten ist, aber trotzdem nicht damit aufhört. Hier sind Ver­mei­dungsstrate­gien am Werk, die gesellschaftlich akzeptiert sind. Dazu gehören beispiel­sweise Aufschieben, Verleugnen, Schuldzuweisun­gen oder Eskapismus, aber auch die oben beschriebene Grund­hal­tung der Coolness. Alle diese Strategien führen dazu, dass wir nicht zum Handeln kommen, während aus vielleicht noch be­herrschbaren Risiken nicht mehr bee­in­fluss­bare Tatsachen werden.

„Risikoin­tel­li­genz beschreibt die Fähigkeit, das Leben erfolgreich zu meistern.“

Bewältigte Risiken machen stark und fördern die so genannte Resilienz, also die Fähigkeit, auch nach schweren Schick­salss­chlägen wieder aufzustehen und das Leben erfolgreich zu meistern. Trotzdem versuchen wir eher, Risiken zu vermeiden, oder wir versichern uns dagegen – ein Leben mit Vollkasko verleiht uns trügerischere Sicherheit und sorgt dafür, dass die Risiken aus dem Blick geraten. Der angemessene Umgang mit Risiken ist aber wesentlich, wenn man die richtigen Entschei­dun­gen treffen soll, sowohl auf der in­di­vidu­ellen als auch auf der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ebene. Das klassische In­tel­li­gen­zkonzept hilft dabei nicht weiter, auch nicht die anderen derzeit disku­tierten Formen von Intelligenz, wie die soziale, die praktische, die operative oder die multiple Intelligenz. Es braucht einen neuen In­tel­li­genzbe­griff.

Risikoin­tel­li­genz

Auch Emotionen können höchst rational sein, weil sie uns bisweilen eine effektive und zuverlässige Einschätzung von Situationen erlauben. Intelligenz umfasst also sowohl in­tellek­tuelle als auch emotionale Fähigkeiten, die sich gegenseitig ergänzen. Der Intellekt kann auf abstrakte Weise über die ganze Welt nachdenken – etwa über die drohende Kli­makatas­tro­phe. Emotionen dagegen ermöglichen uns, in Situationen, die uns ganz persönlich betreffen, blitzschnell zu reagieren, die nötigen Ressourcen bere­itzustellen und ggf. Hilfe zu holen – etwa wenn wir angegriffen werden. Emotionen bringen uns zum Handeln, Gedanken nicht. Damit haben Emotionen eine wichtige evolutionäre Funktion: Sie sichern unser Überleben. In­tellek­tuelle und emotionale Intelligenz stehen nicht nebeneinan­der, sondern greifen ineinander und bilden unser Kapital für den Umgang mit Risiken. Das ist das Konzept der Risikoin­tel­li­genz.

„Wir müssen Entschei­dun­gen treffen und können nicht alle Folgen absehen.“

Zur Geltung kommt Risikoin­tel­li­genz beispiel­sweise im Ex­perten­wis­sen, das über so genannte kognitive Schemata abgerufen wird. Unter Ex­perten­wis­sen versteht man erworbenes, au­toma­tisiertes Wissen, das intuitiv und ohne Nachdenken angewandt werden kann, etwa beim Autofahren. Ein anderer Bereich ist das Er­fahrungswis­sen. Es speist sich aus Erlebnissen, die wir über lange Jahre hinweg gemacht haben, und führt uns schneller und direkter zu den richtigen Ergebnissen als wis­senschaftliche und the­o­retis­che Erken­nt­nisse. Ein dritter Fall von Risikoin­tel­li­genz ist das Bauchgefühl, auch Intuition genannt.

Komplexität als Segen

Die Welt wird immer komplexer, stöhnen viele. Doch in Wirk­lichkeit ist Komplexität ein Segen, kein Problem. Sie ermöglicht es, andere Optionen, neue Lösungsansätze in den Blick zu bekommen. Was bei einfachen, linearen Zusammenhängen unmöglich oder schlicht falsch wäre, ist in komplexen Zusammenhängen eine Option unter vielen. Das bedeutet aber auch, dass man Un­wis­senheit und Ergeb­nisof­fen­heit akzeptieren und spontane, unerwartete Lösungen zulassen muss, die als Ergebnis von Rück­kop­plung­sprozessen und komplexen Wech­sel­wirkun­gen in selbst or­gan­isierten Systemen entstehen. Komplexität ist übrigens nicht dasselbe wie Kom­pliziertheit: Kom­pliziertheit besteht aus linearen Kausalket­ten, Komplexität dagegen ist ein System von Rück­kop­plungsef­fek­ten. Um mit Komplexität umzugehen, muss man neugierig und offen für Uner­wartetes sein, man muss Un­sicher­heiten akzeptieren und bereit sein, einmal getroffene Annahmen zu revidieren. Genau das ist in unseren Unternehmen jedoch häufig nicht der Fall: Es dominieren Kennzahlen, Vorgaben, Hard Facts.

Komplexität bewältigen

Das Er­fol­gs­ge­heim­nis von Firmen, die sich über Jahrzehnte am Markt behauptet haben, ist das so genannte an­pas­sung­sori­en­tierte Management: die Fähigkeit, sich flexibel einer sich verändernden Umwelt anzupassen und dabei zugleich die eigene Identität zu bewahren. Ergeb­nisof­fene Prozesse sind ein weiterer Weg: Verglichen mit festen Zielvor­gaben scheinen sie zwar zunächst die Komplexität zu erhöhen, in Wirk­lichkeit ermöglichen sie aber überhaupt erst die Bewältigung von Komplexität, weil sie kreative Problemlösungen generieren und neue Wege offenlegen, die bei festen Vorgaben gar nicht in den Blick geraten. Weitere Er­fol­gs­fak­toren sind Teamor­i­en­tierung und Zukun­ft­s­pla­nung mit Szenarien statt mit Kennzahlen: Hier geht es um die Entwicklung al­ter­na­tiver Zukun­fts­bilder, wobei nicht nur die ökonomischen Aspekte, sondern auch die Robustheit des Szenarios ein Kriterium sein sollte. Planspiele leisten gute Dienste bei der Bewältigung komplexer, riskanter Situationen.

Risikoin­tel­li­gentes Verhalten

Um eine risikoin­tel­li­gente Führungskul­tur zu etablieren, brauchen Sie eine starke Persönlichkeit; Sie müssen sich selbst, ihre Grenzen und ihre Fähigkeiten gut kennen. Ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg ist die Erwartung von Selb­st­wirk­samkeit: Ich bin nicht das Opfer der Umstände, sondern fühle mich in der Lage, mein Leben ve­r­ant­wortlich zu gestalten. Empathie und Einfühlungsvermögen sowie Kooperation mit anderen sind weitere Helfer beim risikoin­tel­li­gen­ten Verhalten.

„Wie stark eine Emotion ist, hängt davon ab, wie wichtig die jeweilige Veränderung im Einzelnen erlebt wird.“

Entschei­dend ist das Wissen um die eigenen Stärken, um das, was Sie auf Ihrem bisherigen Lebensweg erfolgreich gemacht hat. Risikoin­tel­li­genz bedarf einer starken mentalen Präsenz, d. h. eines Be­wusst­seins seiner selbst, dessen, wo man hier und jetzt gerade steht. Dazu braucht man Zugang zu den eigenen Gefühlen, aber auch die Fähigkeit, angemessen mit ihnen umzugehen. Nicht um esoterische Selb­stfind­ung geht es, sondern um eine un­ver­stellte Sicht der Realität. Dazu gehört auch der offene Blick auf Risiken, d. h. eine wirkliche Au­seinan­der­set­zung mit dem, was passieren kann, und eine re­al­is­tis­che Einschätzung dieser Risiken. Orientieren Sie sich an einem Pokerprofi, der immer wieder nüchtern berechnet, wie riskant ein bestimmter Spielzug für ihn ist. Nur wer die Wirk­lichkeit akzeptiert, kommt ins Handeln und kann Risiken intelligent begegnen.

Zwis­chen­men­schliches

Ohne die nötigen Ressourcen ist Erfolg immer un­wahrschein­lich. Worin diese Ressourcen jeweils bestehen, hängt von der Situation ab. Ein Ver­hand­lungsführer bei einer Geiselnahme etwa holt sich andere Ex­perten­mei­n­un­gen ein als jemand, der über Tarife verhandelt. Es geht darum, selbst jederzeit handlungsfähig zu sein – und doch sind Vernetzung und Kooperation wichtige Vo­raus­set­zun­gen für den Erfolg, auch und gerade in Risikosi­t­u­a­tio­nen. Nicht umsonst verlassen sich viele, die beruflich mit hohen Risiken umgehen, auf ein einge­spieltes, langjähriges Team, in dem jeder jedem voll vertraut.

„Wir können erkennen, dass Komplexität nicht ein Problem, sondern vielmehr eine clevere Lösung ist.“

Gute Kom­mu­nika­tion, d. h. die Fähigkeit, unsere Bedürfnisse angemessen mitzuteilen, ist ein wesentlicher Er­fol­gs­fak­tor risikoin­tel­li­gen­ten Handelns. Ein sehr hilfreiches Instrument ist das Feedback, das uns hilft, unsere Spielräume zu erweitern, und damit den Raum für neue Wege schafft. Wichtig ist auch der Zugang zu den eigenen inneren Ressourcen, Bedürfnissen, Kompetenzen, persönlichen Werten und Wünschen. Allerdings lernen wir den richtigen Umgang mit Gefühlen kaum und haben folglich Mühe damit. Besonders schwer tun wir uns, wenn wir um etwas bitten müssen.

„Richtig trainieren lässt sich Risikoin­tel­li­genz leider nicht.“

Statt Ve­r­ant­wor­tung für das eigene Leben dominiert bei vielen Menschen ein Schuld- und Opfergefühl. Risikoin­tel­li­gente Menschen übernehmen die Ve­r­ant­wor­tung für ihre Gefühle und ihr Leben. Sie klären ihre Beziehungen von Zeit zu Zeit und entscheiden dann, ob ihnen eine bestimmte Beziehung noch guttut oder nicht. Wer wahrhaftig ist und wer zu sich selbst und zu seinen Gefühlen steht, wer die eigenen Interessen und Ziele authentisch vertritt, der handelt risikoin­tel­li­gent.

Wie man risikoin­tel­li­gent wird

Risikoin­tel­li­genz kann man nicht lernen. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer Haltung zur Welt, die Ungewis­sheit akzeptiert und den eigenen Grenzen und Be­d­ingth­eiten ins Auge sieht. Nur so kann man Ängste abbauen und Blockaden überwinden. Wer sich über sich selbst, über die eigenen Bedürfnisse und Wünsche im Klaren ist, wer die Un­sicher­heit von ergeb­nisof­fe­nen Prozessen akzeptieren kann, wer sich von Niederlagen nicht dauerhaft aus dem Konzept bringen lässt, wer sich ggf. Hilfe und Unterstützung holen kann, wird am Ende Erfolg haben. Dabei hilft die Intuition, die sich umso stärker entwickelt, je öfter sie benutzt wird – und natürlich das im Lauf des Lebens erworbene Erfahrungs- und Ex­perten­wis­sen, das uns ermöglicht, rasch Entschei­dun­gen zu treffen. Risikoin­tel­li­genz ist also alles in allem keine Frage der formalen Bildung, sondern des gelebten Lebens.

Über die Autorin

Brigitte Witzer war Geschäftsführerin bei Bertelsmann und Professorin an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig. Inzwischen arbeitet sie als Coach und Inhaberin eines Be­ratung­sun­ternehmens.