Erdbeben im Finanzsektor
Was die Menschen nicht kennen, können sie sich auch nicht vorstellen – sie halten es für unmöglich. Mit dieser Erkenntnis konfrontierte der Autor Nassim Nicholas Taleb Ende 2007 in einem Seminar die Manager des international führenden französischen Bankhauses Société Générale. Doch wie so oft bei Seminaren fühlten sich die Teilnehmer nicht persönlich betroffen, und so blieben Talebs Aussagen leere Worte. Die Manager weigerten sich, zu glauben, dass vergangene Entwicklungen nur begrenzt dazu taugen, die Zukunft vorherzusagen.
„Heute bin ich mir nicht sicher, ob das Krebsgeschwür im Inneren des Finanzsystems tatsächlich geheilt ist.“
So musste der Société-Vorstand Talebs Weisheiten auf bittere Weise am eigenen Leib erfahren – und zwar schon bald. Bereits Mitte Januar 2008 wurde die Geschäftspraxis der Bank von einem heftigen Erdbeben erschüttert: Nicht nur musste der Vorstand aufgrund der geplatzten US-Immobilienblase niedrigere Gewinne bekannt geben; das Management entdeckte auch einen internen Betrugsfall ungeahnten Ausmaßes, der beinahe die Bank und das gesamte globale Finanzsystem zu Fall gebracht hätte.
Am Abgrund
Bankchef Daniel Bouton steht sicherlich vor der schwersten Entscheidung seines Lebens, als er am Sonntag, dem 20. Januar 2008, seine Führungsmannschaft im Pariser Büro La Défense versammelt. Der Vorstandschef der Société Générale hat gerade erfahren, dass sein Unternehmen von einem so genannten Rogue-Trader unterwandert wurde, einem betrügerischen Händler, der unerlaubt mit Finanzprodukten und Scheintransaktionen spekulierte. Was soll Bouton nun tun, angesichts der gerade erst um einige Tage vorgezogenen Gewinnwarnung vor der Presse am folgenden Montag? Nach dem Verhör des Händlers und ersten hausinternen Nachforschungen beläuft sich der Betrugsverlust auf 1,4 Milliarden Euro – bei einem noch offenen Transaktionsvolumen von unvorstellbaren 50 Milliarden Euro. Im Vergleich: Das Eigenkapital der Bank beträgt nur 30 Milliarden Euro.
„Als Mitglied des Vorstands einer der größten Banken der Welt, die über 5 Milliarden Euro Gewinn macht, habe ich gesehen, wie eine ganze Mannschaft, ein ganzer Berufsstand einer fortschreitenden Verblendung verfiel.“
Der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein. Wegen der geplatzten US-Immobilienblase sind am Freitag weltweit die Börsen abgestürzt. Weitere Hiobsbotschaften könnten nicht nur die Société Générale, sondern das gesamte internationale Finanzsystem in eine schwere Krise stürzen. Unter der Führungsmannschaft um Daniel Bouton entbrennt eine heftige Diskussion, ob das Unternehmen damit an die Öffentlichkeit gehen soll. Zum Team zählen der Vorstandsvize Philippe Citerne, der Leiter des Aktien- und Derivathandels Luc François, der Finanzvorstand Frédéric Oudéa, der Chef der Investmentbank Jean-Pierre Mustier, sein Stellvertreter Christophe Mianné, der Generalsekretär Christian Schricke und der Kommunikationschef Hugues Le Bret. Die Stimmung schwankt zwischen Panik, Resignation und Trotz.
„Alle Kreditlinien der großen Banken hängen zusammen.“
Am Ende bewahrt der Vorstandsvorsitzende Daniel Bouton einen kühlen Kopf. Er entwirft einen umfangreichen Plan, der nicht nur die Verluste der Société minimieren, sondern auch die Welt vor einem Wirtschaftskollaps schützen soll. Aufgrund der Gefahr für das eigene Unternehmen sind die Manager berechtigt, die Informationen noch zurückzuhalten und mit der Gewinnwarnung erst am Donnerstag, dem ursprünglich geplanten Termin, an die Öffentlichkeit zu gehen. Einzig die Aufsichtsbehörden und der Bilanzausschuss werden eingeweiht. So bleiben vier Tage, um die offenen Positionen des Händlers an den Märkten aufzulösen. Darüber hinaus versucht die Führungsriege, Milliarden durch Verkäufe von Firmenanteilen und durch eine Kapitalerhöhung flüssig zu machen, um die Eigenkapitalbasis für die Zukunft zu stärken. Voraussetzung für das Gelingen ist allerdings, dass kein Gerücht nach außen dringt. Selbst der französische Präsident soll nicht informiert werden. Sickert nur die kleinste Andeutung an die Medien durch, so besteht die Gefahr, dass das Vertrauen in die Banken rasant sinkt. Gelder würden abgehoben, Aktienkurse würden fallen und dem weltweiten Markt würde die Liquidität entzogen, was zum Einbruch aller Volkswirtschaften führen könnte.
Das Krisenmanagement
Mit diesem düsteren Szenario im Hinterkopf macht sich das Société-Management an die Arbeit. Erklärungen für Geschäftspartner, Anteilseigner, Kunden, Mitarbeiter und die Presse werden vorbereitet, die rechtfertigen sollen, wie es trotz umfassender Kontrollen zu so einem Desaster kommen konnte. Weiter muss aufgedeckt werden, über welches Ausmaß sich die Tätigkeiten des betrügerischen Händlers erstrecken. Außerdem gilt es, eine Perspektive zu entwickeln, damit die Bank auch in Zukunft wirtschaftlich stark bleibt. Basis dafür soll eine Kapitalerhöhung von 5 Milliarden Euro sein, für die Vorstandschef Bouton den amerikanischen Konkurrenten Morgan Stanley als Partner gewinnen will.
„Seit einer Woche haben wir eine solche Achterbahnfahrt der Gefühle durchgemacht, noch verstärkt durch die Pflicht zur Geheimhaltung, schlaflose Nächte, immer neue Wendungen der Affäre, dass ein Panzer um uns gewachsen ist.“
Die Manager stehen unter enormem Druck. Aber ihr Plan scheint aufzugehen: Bis Mittwoch dringt keine Information an die Öffentlichkeit. Die offenen Positionen des betrügerischen Händlers können vollständig aufgelöst werden. Morgan Stanley gibt grünes Licht für die Kapitalerhöhung. Die französische Zentralbank stimmt zu, die Aktie der Société Générale nach dem Gang an die Öffentlichkeit vom Handel auszusetzen. Und die Ratingagenturen sagen zu, die Bank nur um eine Stufe herabzusetzen. Die Hoffnung keimt auf, dass man aus der ganzen Angelegenheit unbeschadet herauskommt. Einzig der Élysée-Palast, der inzwischen benachrichtigt wurde, empfindet das Nichtinformieren des Präsidenten als Affront.
Die Angriffe
Donnerstag, 24. Januar 2008. Es ist der Tag der Entscheidung. Wie wird die Welt auf die Neuigkeiten der Société Générale reagieren? Zuerst informiert Daniel Bouton per Mail alle Mitarbeiter. Bei vielen machen sich trotz der schnellen Reaktion des Vorstands Entsetzen und Angst vor einem Verlust des Arbeitsplatzes breit. Um elf Uhr wartet dann der Gang in die Höhle des Löwen: Die Pressekonferenz steht an. Und neben den üblichen Fachjournalisten ist diesmal auch das Heer der Boulevardmedien anwesend. Zunächst scheint alles glatt zu laufen. Bouton berichtet von den schnellen Maßnahmen des Vorstands, der Auflösung der betrügerischen Transaktionen, der Begrenzung des damit verbundenen Verlustes auf 5 Milliarden Euro, einem Gewinn für das Geschäftsjahr 2007 trotz des Vorfalls, der bevorstehenden Kapitalerhöhung und den damit verbundenen guten Zukunftsaussichten der Bank.
„Die Angst ist an jeder Geste, jedem Blick abzulesen. Niemand schafft es, sie zu verbergen.“
Der Vorstandsvorsitzende erwähnt auch, dass die Führungsriege ihren Rücktritt angeboten, der Verwaltungsrat des Unternehmens aber abgelehnt habe. Das strikte wirtschaftliche Denken und die offensichtlichen Erfolge des Krisenmanagements erwecken jedoch bei den Journalisten nicht das erhoffte Verständnis. Im Gegenteil, zwei Fragen bringen die Stimmung zum Kippen: Wie heißt der Betrüger? Wurde er angezeigt? Die Sichtweise der Öffentlichkeit haben die Manager in ihr Kalkül nicht mit einbezogen, und das soll sich nun rächen. Als Bouton den Namen nicht preisgeben will und sagt, dass der Betrüger auf freiem Fuß sei und man gerade erst Anzeige erstattet habe, gehen die Journalisten zum Angriff über. Die Geschichte vom Betrug wird in Zweifel gezogen. Und dem Vorstand wird unterstellt, dass er die eigenen Fehler auf einen kleinen Händler abwälzen wolle.
„Um die Bank und ihre Unabhängigkeit zu retten, haben wir alle Angriffe abgewehrt, die politischen, medialen, finanziellen und juristischen.“
Als britische Journalisten den Namen des Betrügers, Jérôme Kerviel, bereits am Mittag veröffentlichen, werden die Anschuldigungen noch lauter. Die Vorwürfe gehen von Komplizenschaft des Vorstands bis zum Insiderhandel. Als der Vorstandschef Kerviel in einem Interview als Terrorist bezeichnet, wird dieser von der Öffentlichkeit sogar als Held gefeiert. Für den Vorstand beginnt ein Kampf an mehreren Fronten. Die Bevölkerung soll davon überzeugt werden, dass die Manager die Bank und das Finanzsystem gerettet haben. Gleichzeitig gilt es, so schnell wie möglich alle Voraussetzungen für die Kapitalerhöhung zu erfüllen. Doch als auch die Politiker, allen voran Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, anfangen, Daniel Bouton persönlich für das Chaos verantwortlich zu machen, schwindet die Erfolgsaussicht auf eine höhere Eigenkapitalbasis. Plötzlich ist sogar eine Übernahme durch den französischen Konkurrenten BNP Paribas im Gespräch. Und schließlich bröckelt der Zusammenhalt im Vorstand, als Philippe Citerne beginnt, hinter dem Rücken von Bouton gegen die Kapitalerhöhung mit Morgan Stanley zu arbeiten. Der steigende Druck strapaziert die Nerven der Manager bis zum Äußersten.
Die Hetzjagd
Von allen Seiten strömen Ende Januar die Rücktrittsforderungen auf Bouton ein. Kerviel wird derweil als kleiner Händler gefeiert, der Opfer eines Bankensystems sei, das nach immer mehr Profit strebe. In den ersten beiden Februarwochen muss sich der Société-Vorstand mit zahlreichen Angriffen gegen die geplante Kapitalerhöhung auseinandersetzen. Zudem wird vonseiten der Politik und der Konkurrenz immer wieder die angebliche Notwendigkeit einer Fusion mit BNP Paribas in die Öffentlichkeit getragen. Doch die Standhaftigkeit des Société-Vorstands zahlt sich aus: Am 10. Februar erhält das Unternehmen die Genehmigung der Finanzmarktaufsicht für die Kapitalerhöhung.
„Die Bank ist rekapitalisiert und das gigantische Finanzloch in knapp einem Monat geschlossen worden.“
Daniel Bouton muss den großen Anstrengungen allerdings zunehmend Tribut zollen: Der Vorstandschef kann nicht mehr abschalten. Seit Tagen hat er nicht geschlafen, weil er sich für das gesamte Unternehmen verantwortlich fühlt und ständig über die nächsten Schritte nachdenkt. Zudem haben die öffentlichen Forderungen nach seiner Abdankung als Firmenchef nicht nachgelassen. Auf der Roadshow für die neue Aktienausgabe in London ist Bouton schließlich so erschöpft, dass er nicht mehr klar denken kann und beginnt, unzusammenhängend zu reden.
„Nicolas Sarkozy kommt einfach nicht darüber hinweg, dass ihn Daniel Bouton nicht sofort über die Probleme bei seiner Bank informiert hat.“
Am 9. März besteht der Société-Vorstand erfolgreich eine weitere Etappe: Die Kapitalerhöhung ist abgeschlossen. Das Unternehmen hat die Finanzierung gesichert und das Vertrauen der Märkte zurückgewonnen. Eine Fusion ist kein Thema mehr. Vorstandschef Daniel Bouton ist jedoch am Ende. Längst ist er in ärztlicher Behandlung. Am 14. März bittet er daher den Verwaltungsrat um eine Entscheidung über seine weitere Zukunft. Den Vorschlag dazu unterbreitet er selbst: Er tritt als Vorstandsvorsitzender zurück und bleibt Vorsitzender des Verwaltungsrats. Sein Nachfolger an der Unternehmensspitze wird der Finanzvorstand Frédéric Oudéa, den er bis zur nächsten Hauptversammlung in seinem neuen Amt begleiten will. Der Verwaltungsrat stimmt zu, und nach zwei Monaten Chaos tritt wieder so etwas wie Ruhe in dem französischen Bankhaus ein.
Der unsanfte Abgang
Wie vorausschauend Daniel Boutons Krisenmanagement war, zeigt sich Mitte September 2008: Da muss die amerikanische Bank Lehman Brothers Konkurs anmelden, und das gesamte internationale Finanzsystem gerät ins Wanken. Nur eiligst von den Regierungen installierte Rettungsschirme in Milliardenhöhe können die einsetzende Weltwirtschaftskrise abdämpfen und das System stabilisieren. In dieser Situation bestätigt sich, dass die Société Générale durch ihre Eigenkapitalerhöhung gegenüber der Konkurrenz gut gerüstet ist.
„Jetzt bezahlt Daniel für die fetten Jahre. Er hat zu früh zu viel gefordert.“
Im März 2009 wird Daniel Bouton erneut zur Zielscheibe der Medien. Die Veröffentlichung von hohen Boni für ihn selbst und den Rest der Unternehmensführung in Zeiten fallender Aktienkurse, Unternehmenspleiten und steigender Arbeitslosigkeit erregt den Protest der Öffentlichkeit. Die Banker, allen voran Daniel Bouton, werden zum Sündenbock erklärt. Als auch noch die Beschäftigten der Société Générale ihren Unmut über das Verhalten der Manager äußern, ist das Vertrauen zu der Bank erneut in Gefahr. Um das Unternehmen zu schützen, tritt der ehemalige Vorstandsvorsitzende ohne Abfindung zurück.