Original oder Kopie
Innovation gilt heute als der Schlüssel zum Erfolg. Ein Unternehmen, das langfristig auf dem Markt bestehen will, muss kreativ sein und ständig in die Entwicklung neuer Produkte investieren, so lautet das Credo. Doch in Wirklichkeit ist Innovation nicht unbedingt der Königsweg. Etwas Neues zu entwickeln, kostet viel Zeit und Geld – und kaum ist das Produkt auf dem Markt, wird es von der Konkurrenz auch schon nachgeahmt. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Innovationen bringen zwar durchaus Erfolg, aber oft nicht dem Unternehmen, das sie entwickelt und gegen alle Widerstände auf dem Markt einführt, sondern den Nachfolgern, die das neue Produkt kopieren, sobald es seine Kinderkrankheiten überstanden hat. So hieß z. B. die erste Fast-Food-Kette nicht McDonald’s, sondern White Castle. McDonald’s kopierte das Konzept erfolgreich, White Castle kennt heute kaum noch jemand. Die Kreditkarte war eine Entwicklung von Diners Club, doch die Marktführer heißen heute MasterCard, Visa und American Express.
Erfolgreich als Nachahmer
Noch ist die Nachahmung in den Wirtschaftswissenschaften verpönt. Aber auch wenn die gängige Managementliteratur dem Thema meistens kritisch gegenübersteht: Kopieren ist durchaus eine Erfolgsstrategie. Und wie alle Strategien kann man sie lernen und muss sie pflegen. Beim Nachahmen geht es übrigens nicht darum, illegal Fälschungen zu produzieren. Es werden ganz legal Produkte hergestellt, die bereits vorhandenen ähnlich sind und dem Nachahmer einen ähnlichen Erfolg versprechen. Nachahmer haben einige Vorteile: Sie müssen keinen Cent in teure Forschung und Entwicklung stecken. Sie können erst einmal entspannt zusehen, welche Chancen das neue Produkt auf dem Markt hat und was sich vielleicht noch verbessern ließe. Und sobald die Kunden sich an das Produkt gewöhnt haben, bringen sie etwas ganz Ähnliches, vielleicht sogar Besseres auf den Markt. Ein guter Ausgangspunkt für den Erfolg.
Nachahmung ist überall
In der Natur wird ganz selbstverständlich überall nachgeahmt. Nachahmung ist sogar ein lebenswichtiger Vorgang. Viele Lebewesen lernen, indem sie andere Lebewesen imitieren; sie vermeiden auf diese Weise Fehler, die andere vor ihnen gemacht haben und die sogar tödlich enden konnten. Auch Babys lernen vom ersten Tag an durch Imitation. Ebenso selbstverständlich haben Menschen und Nationen zu allen Zeiten fremde Errungenschaften kopiert, wenn sie sie für fortschrittlich und nützlich hielten. Was in anderen Bereichen also ganz selbstverständlich ist, ist merkwürdigerweise in der Wirtschaft verpönt: Unternehmen sind stolz darauf, als innovativ zu gelten, geben es aber nicht gerne zu, wenn sie von anderen etwas übernehmen.
„Die Nachahmung ist ein fundamentaler Bestandteil des biologischen und sozialen Lebens.“
Die Globalisierung führt dazu, dass neue Entwicklungen innerhalb kürzester Zeit weltweit bekannt werden. Das heißt aber auch, dass Unternehmen in aller Welt mit den neuesten Entwicklungen Schritt halten müssen, sonst sind sie bald nicht mehr wettbewerbsfähig und werden vom Markt verdrängt. Also bleibt ihnen nicht viel anderes übrig, als möglichst schnell etwas Ähnliches anzubieten, um den Anschluss nicht zu verlieren. Die Folge davon ist, dass neue Produkte immer rascher kopiert werden. Ein Unternehmen, das eine Innovation auf den Markt bringt, kann sich heutzutage nicht lange auf seinem Erfolg ausruhen. Firmen aus China oder Indien setzen alles daran, die Produkte aus westlichen Ländern nachzuahmen und billiger zu liefern. Auf diese Weise verdrängen sie große Traditionsunternehmen mehr und mehr vom Markt.
Wissen weltweit
Dank moderner Informationstechnologien ist es einfacher geworden, auch komplexes Wissen festzuhalten und weiterzugeben. In internationalen Kooperationen teilen Unternehmen ihr Know-how mit ihren Partnern, die es dann selbstverständlich weiterhin nutzen. Oftmals gründen auch ehemalige Mitarbeiter eines innovativen Unternehmens ihre eigene Firma und setzen dort ihr Wissen ein. Unternehmen investieren viel Energie, um die Nachahmung ihrer Produkte zu verhindern. Vielleicht wären sie besser bedient, wenn sie selbst zum Nachahmer würden. Denn vor Imitatoren gibt es kaum einen tauglichen Schutz. Marken galten einst als eine wirksame Waffe, haben aber schon lange ihren Nimbus verloren; ein gutes Beispiel dafür ist der stetig wachsende Markt für Generika. Auch ein Patent bietet keinen richtigen Schutz – der Nachahmer stellt einfach ein ähnliches Produkt her, das er dann seinerseits zum Patent anmelden kann.
Ganz oder gar nicht
Es reicht allerdings nicht aus, ein erfolgreiches Modell halbherzig nachzuahmen. Die Fluggesellschaft Southwest beispielsweise kopierte ein Billigfliegerkonzept von Anbietern, die zuvor damit gescheitert waren. Southwest hingegen war erfolgreich, sehr zum Ärger der etablierten Fluggesellschaften. Einige von ihnen starteten nun den Versuch, die erfolgreiche Idee zu kopieren, wollten aber auch ihr angestammtes Geschäft nicht aufgeben. Also schufen sie neben ihrer eigentlichen Tätigkeit einfach eine Billigsparte. Doch diese halbherzigen Ansätze blieben letzten Endes erfolglos, weil sie das Modell nicht im seiner Gänze übernahmen, sondern nur einzelne Teile davon kopierten. Wenn nun beispielsweise eine Fluglinie ihren Piloten allgemein hohe Löhne zahlte, musste sie das auch in ihrer Billigsparte tun, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Kosten. Erfolgreicher waren Anbieter wie Ryanair, die das System von Southwest von Grund auf kopierten und es auf einen anderen Markt übertrugen. Generell stehen die Chancen für Nachahmer am besten, wenn sie das gesamte Modell kopieren. Nur einzelne Elemente übernehmen zu wollen, ist ein riskanter Ansatz.
Der Weg zur Nachahmung
Wie wird Ihr Unternehmen zum erfolgreichen Nachahmer? Zunächst einmal muss der Wille zur Nachahmung in der Unternehmenskultur verankert sein. Das klingt einfacher, als es ist. Denn in der Regel formulieren Unternehmen den Stolz auf ihre Innovationsfähigkeit, aber nicht auf die Fähigkeit, die Innovationen anderer zu kopieren. Diese Einstellung gilt es zu ändern. Wenn Sie sich zutrauen, das zu schaffen, gehen Sie als Nächstes auf die Suche nach Erfolg versprechenden Ideen und Modellen. Schauen Sie dabei nicht nur auf erfolgreiche Unternehmen, auch wenn das auf den ersten Blick verlockend scheint. Nehmen Sie gerade auch die erfolglosen, gescheiterten Unternehmungen in den Blick. Vielleicht versteckt sich dort eine gute Geschäftsidee, die Sie weiterentwickeln können. Hat die Firma Fehler gemacht, die Sie vermeiden können? Versuchen Sie, Erfolg versprechende Modelle zu identifizieren.
Das Vorbild verstehen
Wenn Sie mit dem Imitieren erfolgreich sein möchten, reicht es nicht, etwas einfach zu kopieren. Sie müssen vor allem das so genannte Korrespondenzproblem lösen: Wie können Sie etwas so auseinandernehmen und in einem anderen Kontext wieder zusammensetzen, dass die positiven Eigenschaften erhalten bleiben? Wie die Erfahrung zeigt, ist das gar nicht so einfach. Sie müssen das ursprüngliche Modell mit seinen Zusammenhängen gründlich analysieren, um es erfolgreich kopieren zu können. Wie ist das Geschäftsmodell in sein Umfeld eingebettet, und wie lassen sich diese Strukturen auf Ihre Situation übertragen? Wo liegen die Unterschiede? Halten Sie sich möglichst nur an ein einziges Konzept und widerstehen Sie der Versuchung, die Vorzüge verschiedener Anbieter kombinieren zu wollen, also etwa den Service eines exklusiven Unternehmens mit dem Preismodell eines Discounters. Mit solchen Experimenten werden Sie scheitern. Analysieren Sie Ihr Vorbild so ausführlich wie möglich, ehe Sie etwas Ähnliches schaffen.
Nachahmung als Strategie
Es hört sich ziemlich einfach an, etwas nachzuahmen, was es bereits gibt. Aber hüten Sie sich davor, den Prozess des Nachahmens auf die leichte Schulter zu nehmen. Viele Firmen wenden das Kopieren als Notlösung an, wenn eigene Strategien gescheitert sind. Gehen Sie die Sache durchdachter an: Integrieren Sie die Nachahmung in Ihre Unternehmensstrategie. Was auch immer Sie für die Nachahmung auswählen, es muss zu Ihrer Gesamtstrategie passen. Innovation und Nachahmung haben eine Menge gemeinsam: Auch Innovatoren erfinden nicht alles neu, sondern greifen auf Vorhandenes zurück. Wie die Nachahmer brauchen die Innovatoren möglichst umfassende Informationen und müssen das Umfeld des neuen Produkts analysieren, ehe sie aktiv werden können. Denken Sie daran, dass sich manche Produkte leichter nachahmen lassen als andere. Gebrauchsgüter sind z. B. leichter zu imitieren als Medikamente oder Chemikalien, wofür die gesetzlichen Vorschriften viel rigoroser sind.
Der richtige Zeitpunkt
Nicht zuletzt stellt sich auch die Frage, zu welchem Zeitpunkt Sie nachahmen möchten. Sie haben drei Möglichkeiten:
- Sie können ein „schneller Zweiter“ sein, der eine Innovation so rasch wie möglich kopiert. Das bringt Ihnen einen entscheidenden Vorteil: Sie sind anderen Nachahmern einen Schritt voraus – ein guter Ausgangspunkt, um in einen neuen Markt einzusteigen. Möglicherweise verhindern Sie damit die Bildung eines Monopols. Doch Sie brauchen auch die Ressourcen, um entsprechend rasch zu reagieren. Daher eignet sich diese Strategie eher für große Unternehmen.
- Als „Angreifer von hinten“ treten Sie eher spät in den Markt ein. Auch das kann Vorteile bringen: Sie haben Zeit, das neue Produkt erst einmal zu beobachten und einen günstigen Zeitpunkt für den Markteintritt abzuwarten. Vielleicht gelingt es Ihnen, das Nachahmerprodukt zu einem deutlich günstigeren Preis anzubieten. Allerdings haben Sie als Angreifer von hinten auch mit mehr Konkurrenten zu kämpfen.
- Als „Pionierimporteur“ sind Sie der Erste, der eine Idee in einen anderen Markt oder eine andere Region importiert. Das macht Ihnen vieles einfacher, aber Sie sollten besonders auf das Korrespondenzproblem achten und das Umfeld genau analysieren, ehe Sie Ihr Vorbild adaptieren.
In Nachahmung investieren
Entscheiden Sie sich nur dann für eine Nachahmung, wenn Sie sicher sind, dass sie auch erfolgreich sein wird. Denn auch wenn Imitation wesentlich weniger kostet als Innovation, kommen doch erhebliche Kosten auf Sie zu. Stellen Sie sicher, dass Sie überhaupt in der Lage sind, eine gute Kopie zu produzieren. Wenn Sie sich irgendwann später eingestehen müssen, dass Sie es nicht schaffen, haben Sie vermutlich schon viel Geld verbrannt. Außerdem müssen Sie von Anfang an mit mehr Konkurrenz als der Innovator rechnen – Konkurrenz in Form weiterer Nachahmer. Achten Sie außerdem auf rechtliche Aspekte. Und noch etwas gilt es zu bedenken: Auch Ihr Image verändert sich, wenn Sie als Nachahmer bekannt werden.
Hindernisse überwinden
Manche Unternehmen sind sich ihrer Vormachtposition so sicher, dass sie ohne Weiteres Informationen über ihre Produkte nach außen geben. Nutzen Sie solche Gelegenheiten, auch wenn Sie keine vollständigen Informationen erhalten. Lücken können Sie möglicherweise durch eigenes Know-how füllen. Achten Sie darauf, ob Firmen eine Zusammenarbeit aufkündigen: Ein ehemaliger Partner kann ein wichtiger Informant sein. Wirtschaftswissenschaftler vertreten oft die Auffassung, hohe Wechselkosten würden ausreichen, um Kunden vom Wechsel zu einem Nachahmerprodukt abzuhalten. Doch in der Praxis sieht das oft anders aus. Außerdem können Sie die Wechselkostenhürde umgehen, indem Sie Nachfolgeprodukte anbieten, die mit dem ursprünglichen Produkt kompatibel sind. Eine starke Marke ist in vielen Fällen noch immer ein guter Schutz vor Nachahmung. Doch wenn es Ihnen gelingt, ein ähnliches Produkt anzubieten, das besser oder günstiger ist als das Original, werden Sie sich auch gegenüber einer starken Marke behaupten können.