Marktwirtschaft reloaded
Als die Bank Lehman Brothers zusammenbrach, geriet zwar das Finanzsystem ins Wanken, doch die Welt versank nicht im Chaos – auch wenn dies manche renommierte Ökonomen prophezeiten. Die Linken glaubten an den Fall des Systems, die Rechten befürchteten das Ende des freien Unternehmertums. Verglichen mit solchen Untergangsvisionen verlief die Krise recht glimpflich, ohne Rationierungen und Revolten. Dennoch markiert das Ende der US-Investmentbank im September 2008 einen Wendepunkt. Mit dem Bankencrash endete eine bestimmte Form des globalen Kapitalismus – samt dazugehöriger Politik, Weltsicht und Lebenseinstellung. Selbst Alan Greenspan, einst Chef der US-Notenbank und Schüler der Marktideologin Ayn Rand, gab zu, sich mit seinen marktwirtschaftlichen Überzeugungen geirrt zu haben.
Vernünftige Gründe für die Vorkriseneuphorie
In der Gesellschaft gibt es zyklische Veränderungen und langfristige Trends. Mit dem Blick auf eines von beiden wird das andere oft vernachlässigt. Darum ist es falsch, den Aufschwung vor der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise als Strohfeuer abzutun: Es handelte sich bei dem Boom nicht einfach um eine schuldenfinanzierte Illusion, die Euphorie hatte rationale, langfristig wirksame Grundlagen:
- den Zusammenbruch des Kommunismus samt Friedensdividende,
- das Wiedererstarken Asiens,
- die IT-Revolution und
- die Möglichkeit der freien Währungssteuerung aufgrund der Aufhebung des Goldstandards.
„Der globale Kapitalismus wird von nichts anderem ersetzt werden als vom globalen Kapitalismus.“
Es ist völlig normal, dass sich Boom und Bust, Auf- und Abschwung abwechseln. Das gilt auch für den jüngsten Konjunkturzyklus. Dass er desaströs endete, lag am fehlerhaften, marktradikalen Handeln der US-Regierung unter George W. Bush. Sie ließ sich von falschen Annahmen über die Effizienz der Märkte und dem monetaristischen Leitbild der Zentralbank in die Irre führen.
Die Wandelbarkeit des Kapitalismus
In der Wirtschaftstheorie wird oft behauptet, eine kapitalistische Wirtschaft benötige ein Regelwerk mit unveränderlichen Institutionen. Dem ist nicht so. Die Gesetze des Kapitalismus sind anpassungsfähig. Das beweist die Vergangenheit: Es gab bereits drei Transformationen, aktuell befinden wir uns mitten in der vierten. In jeder dieser Krisen veränderte sich das Verhältnis von Markt und Staat, von Wirtschaft und Politik.
- Kapitalismus 1.0: Von den Napoleonischen Kriegen bis ungefähr zum Ersten Weltkrieg wuchs der Wohlstand dank der industriellen Revolution sowie politischen Umwälzungen, ausgehend von Frankreich und Amerika. Kennzeichnend war ein Laissez-faire-Denken. Politik und Wirtschaft waren völlig separate Bereiche, lediglich verbunden durch Steuern, erhoben zur Kriegsfinanzierung, und durch Zölle zum Schutz politischer Interessen.
- Kapitalismus 2.0: Von der Großen Depression bis in die 1970er Jahre herrschte ein Konzept vor, das in den USA die Ankurbelung der Binnennachfrage („New Deal“) und gesellschaftspolitische Ziele („Great Society“) umfasste sowie in Europa die Idee vom Wohlfahrtsstaat. Verbreitet war der Glaube an den guten, fürsorglichen Vater Staat. Die hohe Inflation markierte das Ende dieser Phase.
- Kapitalismus 3.0: Der freie, marktfundamentalistische Kapitalismus, den Ronald Reagan und Margaret Thatcher anstrebten, kam ab den 1980er Jahren weltweit zum Zuge. Nach dieser regelrecht staatsfeindlichen Überzeugung waren die Unternehmen klug und weise, nicht die Regierungen. Dies führte zur derzeitigen Systemkrise.
Kapitalismus 4.0: Stärkerer, aber kleinerer Staat
Die aktuelle Häutung des Wirtschaftssystems führt zu einer Abkehr von marktradikaler Politik. Gleichzeitig wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass auch Regierungen Unrecht haben können. Keine der beiden Seiten ist unfehlbar, das zwingt beide zur Kooperation. Gelingt diese nicht, werden die westlichen Demokratien ihre Führungsrolle an autoritäre Staaten wie China verlieren. Die Überzeugung, wonach das Wirken der Marktkräfte für mehr Demokratie sorgt, ist nicht mehr haltbar.
„Der Kapitalismus überlebt, weil er biegsam ist, statt zu brechen.“
Angst vor der Allmacht der Politik ist nicht berechtigt. Dem öffentlichen Sektor wird schon allein wegen der Schulden und der demografischen Probleme gar nichts anderes übrig bleiben, als zu schrumpfen. Gleichzeitig wird die Verantwortung des Staates aber größer werden. Politiker werden mehr als bisher versuchen, die Märkte zu steuern: Der Staat definiert die Ziele, die gewinnorientierte Unternehmen verfolgen sollen, und reguliert die Sektoren je nach Bedarf unterschiedlich stark. Eine gemischte staatlich-private Wirtschaft ist prinzipiell nicht neu, wird aber von den Akteuren stärker als vorher auch akzeptiert.
Elemente des neuen Kapitalismus
Wodurch zeichnet sich der neue Kapitalismus aus?
- Statt gefährliche Finanzspekulationen zu verbieten oder ihnen völlig freien Lauf zu lassen, wie es in den Kapitalismusstadien 2.0 und 3.0 üblich war, setzt ein pragmatisches Konzept auf veränderte Anreize für die Wirtschaft, z. B. durch Besteuerung. Marktorientierte Staaten wie die USA müssen sich mit mehr Staatseingriffen anfreunden, während interventionistische Volkswirtschaften wie China oder Japan mehr Markt zulassen müssen.
- Staatliche Konjunkturanreize sind sinnvoll. Die makroökonomische Steuerung à la Keynes funktioniert. Dieses Bewusstsein muss sich in Politik und Wirtschaft durchsetzen – sonst werden wünschenswerte Konjunkturprogramme zu früh beendet.
- Es ist sinnvoll, alle Gesetze durch eine so genannte Sunset-Klausel zeitlich zu beschränken. Läuft ein Gesetz aus, muss immer wieder aufs Neue debattiert werden, ob eine Verlängerung angebracht ist.
- Die Gehälter von Bankern sowie die Bankdividenden sollten staatlich reguliert werden. Der Steuerzahler ist als Helfer in der Not quasi permanent stiller Teilhaber der Banken und hat darum Aufsichtsrechte.
- Handelsbilanzdefizite und -überschüsse sollten durch internationale Regulierung auf ein bestimmtes Maß begrenzt werden. Deutschland, China und Japan werden ihre Wirtschaftspolitik der Exportüberschüsse aufgeben müssen. Sonst droht die Gefahr, dass die verschuldeten Länder USA, Großbritannien und Spanien zum Ausgleich ihrer Handelsbilanz Strafzölle und Abwertungen anstreben.
- Der Trend zu mehr direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung ist nicht von Dauer. Er führt zu Populismus. Die repräsentative Demokratie wird den Erhalt des Kapitalismus sichern.
- Die Einkommensteuerprogression, die in den USA und Großbritannien trotz des jeweils antisozialistischen Selbstbilds vermutlich am höchsten ist, wird auf den Prüfstand gestellt. In Krisen führt sie nämlich zu einem extremen Einbruch der Steuereinnahmen.
- Das chinesische Wirtschaftsmodell hat – bei allen Erfolgen – gegenüber dem westlichen Kapitalismus viele Nachteile. Während die Modelle der europäischen Länder und der USA sich immer ähnlicher werden, nimmt der Kontrast dieser Länder gegenüber China zu.
Die Zinsen bleiben niedrig
Während manche Ökonomen von der Irrelevanz geld- und fiskalpolitischer Stimulationen sprechen, erkennen politische Entscheider, dass sie durchaus in der Lage sind, Zinssätze über lange Zeit nahe null zu halten oder Wechselkurse gezielt zu steuern. Zurzeit ist die Staatsverschuldung derartig hoch, dass ein Steigen der Zinsen wohl ein Finanzchaos auslösen würde. Regierungen und Zentralbanken werden so lange, wie sie nur können, einen Zinsanstieg verhindern. Bis mindestens 2015 ist in der Eurozone und in den USA kein Anstieg der Leitzinsen über 2 % zu erwarten. Wem das unnatürlich vorkommt, der sei daran erinnert, dass der Zins in Japan seit 1995 unter 1 % liegt und dass US-Anleihen von 1930 bis 1955 nie mehr als 2 % abwarfen.
„Bildung ist das Gebiet, auf dem das private Angebot wahrscheinlich am schnellsten zunehmen und aus dem sich der Staat am schnellsten zurückziehen wird.“
Zentralbanken in aller Welt streben inzwischen nach aktiver Wirtschaftsförderung. Kürzen die Staaten ihre Haushalte, werden Zentralbanken durch billiges Geld mithelfen, Rezessionen zu verhindern. Niedrige Zinsen sorgen dafür, dass Unternehmen trotz Kreditverknappung und Kapazitätsüberhängen Investitionen tätigen können. Da die Wirtschaft ihre Kapazitätsgrenzen bis zu fünf Jahre nach der aktuellen Krise nicht ausschöpfen wird, kommt es so lange auch nicht zu einer Inflation. Es stimmt zwar, dass einer Inflation immer ein Zuwachs der Geldmenge vorangeht. Aber nicht jeder Geldmengenanstieg führt zu einer Inflation. Dennoch wird dieser falsche Umkehrschluss immer wieder in den Medien verbreitet.
Der Dollar bleibt stark
Es wird keine neue Weltwährung geben, sondern flexible, aber gelenkte Wechselkurse. Der Dollar wird nicht kollabieren. Kein Land der Welt würde es hinnehmen, wenn seine Währung gegenüber dem Dollar in den nächsten Jahren um 30 oder 50 % aufwerten würde. Ein solcher Wertverlust des Dollar ist also nicht zu erwarten. Der Kurs des Dollar ist zudem viel weniger mit der geopolitischen Bedeutung der USA verknüpft, als gemeinhin angenommen wird. Die USA hat zwar wirtschaftliche Probleme, besitzt aber bessere Aussichten als die einzigen hoch entwickelten Konkurrenten: die Eurozone und Japan. Dort sind die Probleme nämlich noch größer.
Staatsinsolvenzen sind unwahrscheinlich
Das Risiko von Staatsinsolvenzen wird oft übertrieben. Die USA, Japan und Großbritannien können nicht bankrottgehen. Ihre Schulden haben sie nämlich fast ausschließlich in eigener Währung aufgenommen. Somit können sie diese immer zurückzahlen – durch das Anwerfen der Notenpresse. Kaum jemand hat zur Kenntnis genommen, dass sich das US-Handelsbilanzdefizit in der Krise von 2007 bis 2009 reduzierte und die Auslandsverschuldung relativ niedrig lag. Es ist zwar nötig, die Staatsverschuldung nicht ausufern zu lassen, um die Handlungsfähigkeit der Regierungen nicht zu gefährden. Da unsere Enkel aber sehr wahrscheinlich deutlich vermögender sein werden als wir, ist es kein Problem, ihnen Kreditschulden zu hinterlassen, die unser Leben verbessern. Im Dickens-Roman David Copperfield sagt Mr. Micawber wiederholt: „Irgendetwas wird schon rechtzeitig auftauchen.“ So merkwürdig dies klingt, so richtig ist es in Bezug auf die Zukunft des Kapitalismus. Heutige Probleme werden gelöst werden, auch wenn wir noch keine Antworten parat haben. Diese Erwartungshaltung ist rationaler als apokalyptische Endzeitszenarien wie im Film Mad Max.
Reformbedarf im Sozialbereich
Die steigenden Gesundheitskosten sind eine große Herausforderung, vor allem in den USA, wo diese Kosten seit Jahren aus dem Ruder laufen. General Motors und Chrysler gingen letztlich bankrott, weil sie die Krankenversicherung ihrer Mitarbeiter nicht mehr stemmen konnten. Gegenüber internationalen Wettbewerbern, die staatlich finanzierte Gesundheitssysteme haben, sind die US-Konzerne im Nachteil. Wie die Gesundheitsausgaben werden auch die Kosten für Altersvorsorge und Ausbildung stark zulegen. Das liegt an der Alterung der Bevölkerung und an der steigenden Wissensabhängigkeit der Wirtschaft. Im Hochschulsektor werden viele Länder ihre Hochschulen am US-Modell ausrichten. Ob privat oder staatlich – die Diagnose einer Bildungskrise, in der sich fast jedes Land glaubt, beflügelt die Experimentierlaune. Das Wachstum im Sozialbereich darf Regierungen aber nicht dazu verleiten, den Staatssektor zu vergrößern, denn dies wäre der größte Treiber für eine Inflation.