Kapitalismus 4.0

Buch Kapitalismus 4.0

Die Geburtsstunde einer neuen Wirtschaftsordnung

FinanzBuch,
Auch erhältlich auf: Englisch


Rezension

Der Un­ter­gangsstim­mung zum Trotz: Der Kap­i­tal­is­mus ist keineswegs am Ende. Anatole Kaletsky glaubt an eine Kombination von Mark­t­prozessen und staatlicher Steuerung, um aus der Krise zu finden – in dieser Mischung, sagt er, liegt die Kraft. Kaletsky beleuchtet seine These von vielen Seiten, vor allem aber aus US-amerikanis­cher Perspektive. Was bei der Vielzahl von Prognosen und Analysen gleichermaßen beeindruckt wie irritiert, ist die durchwegs zu­ver­sichtliche Stimmung. Während der Autor das neue Wirtschaftsmod­ell ausführlich als Lösung beschreibt, kommen die Probleme, die es aufwerfen könnte, nur am Rande vor. Kaletsky stellt sicher die richtigen, un­dog­ma­tis­chen Fragen, hätte aber bei den Antworten gerne noch etwas konkreter werden dürfen. BooksInShort empfiehlt das Buch allen, die sich an der Krisende­batte mit Argumenten beteiligen wollen, die noch nicht zum All­ge­meingut gehören.

Take-aways

  • Anders als von manchen Ökonomen behauptet, sind die Regeln des Kap­i­tal­is­mus sehr anpassungsfähig.
  • Unser Wirtschaftssys­tem hat seit dem 19. Jahrhundert drei große Trans­for­ma­tio­nen erlebt. Wir befinden uns in der vierten.
  • Das neue System wird weder staatsgläubig noch mark­tradikal sein, sondern die beiden Haltungen pragmatisch vereinen.
  • Der Staat wird dabei ein­flussre­icher, aber die Staatsquote nicht größer.
  • Er definiert die Ziele, die gewin­nori­en­tierte Unternehmen verfolgen sollen, und reguliert die einzelnen Sektoren nach Gutdünken.
  • Gelingt es dem Westen nicht, diese Trans­for­ma­tion erfolgreich zu gestalten, werden China und andere Nicht­demokra­tien dominieren.
  • Länder wie Deutschland müssen sich von ihren Exportüberschüssen ve­r­ab­schieden, um künftige Weltwirtschaft­skrisen zu verhindern.
  • Trotz hoher Schulden: Die USA, Japan und Großbritannien können gar nicht bankrottge­hen.
  • Die Leitzinsen werden noch über viele Jahre unter 2 % bleiben.
  • Unsere Kinder werden reicher sein als wir; ihnen Schulden zu überlassen, ist kein Verbrechen.
 

Zusammenfassung

Mark­twirtschaft reloaded

Als die Bank Lehman Brothers zusam­men­brach, geriet zwar das Fi­nanzsys­tem ins Wanken, doch die Welt versank nicht im Chaos – auch wenn dies manche renommierte Ökonomen prophezeiten. Die Linken glaubten an den Fall des Systems, die Rechten befürchteten das Ende des freien Un­ternehmer­tums. Verglichen mit solchen Un­ter­gangsvi­sio­nen verlief die Krise recht glimpflich, ohne Ra­tionierun­gen und Revolten. Dennoch markiert das Ende der US-In­vest­ment­bank im September 2008 einen Wendepunkt. Mit dem Bankencrash endete eine bestimmte Form des globalen Kap­i­tal­is­mus – samt dazugehöriger Politik, Weltsicht und Leben­se­in­stel­lung. Selbst Alan Greenspan, einst Chef der US-Noten­bank und Schüler der Mark­tide­olo­gin Ayn Rand, gab zu, sich mit seinen mark­twirtschaftlichen Überzeu­gun­gen geirrt zu haben.

Vernünftige Gründe für die Vorkrisene­uphorie

In der Gesellschaft gibt es zyklische Veränderungen und langfristige Trends. Mit dem Blick auf eines von beiden wird das andere oft vernachlässigt. Darum ist es falsch, den Aufschwung vor der aktuellen Finanz- und Wirtschaft­skrise als Strohfeuer abzutun: Es handelte sich bei dem Boom nicht einfach um eine schulden­fi­nanzierte Illusion, die Euphorie hatte rationale, langfristig wirksame Grundlagen:

  1. den Zusam­men­bruch des Kommunismus samt Friedens­div­i­dende,
  2. das Wieder­erstarken Asiens,
  3. die IT-Rev­o­lu­tion und
  4. die Möglichkeit der freien Währungss­teuerung aufgrund der Aufhebung des Gold­stan­dards.
„Der globale Kap­i­tal­is­mus wird von nichts anderem ersetzt werden als vom globalen Kap­i­tal­is­mus.“

Es ist völlig normal, dass sich Boom und Bust, Auf- und Abschwung abwechseln. Das gilt auch für den jüngsten Kon­junk­turzyk­lus. Dass er desaströs endete, lag am fehler­haften, mark­tradikalen Handeln der US-Regierung unter George W. Bush. Sie ließ sich von falschen Annahmen über die Effizienz der Märkte und dem mon­e­taris­tis­chen Leitbild der Zentralbank in die Irre führen.

Die Wan­del­barkeit des Kap­i­tal­is­mus

In der Wirtschaft­s­the­o­rie wird oft behauptet, eine kap­i­tal­is­tis­che Wirtschaft benötige ein Regelwerk mit unveränderlichen In­sti­tu­tio­nen. Dem ist nicht so. Die Gesetze des Kap­i­tal­is­mus sind anpassungsfähig. Das beweist die Ver­gan­gen­heit: Es gab bereits drei Trans­for­ma­tio­nen, aktuell befinden wir uns mitten in der vierten. In jeder dieser Krisen veränderte sich das Verhältnis von Markt und Staat, von Wirtschaft und Politik.

  1. Kap­i­tal­is­mus 1.0: Von den Napoleonis­chen Kriegen bis ungefähr zum Ersten Weltkrieg wuchs der Wohlstand dank der in­dus­triellen Revolution sowie politischen Umwälzungen, ausgehend von Frankreich und Amerika. Kennze­ich­nend war ein Lais­sez-faire-Denken. Politik und Wirtschaft waren völlig separate Bereiche, lediglich verbunden durch Steuern, erhoben zur Kriegs­fi­nanzierung, und durch Zölle zum Schutz politischer Interessen.
  2. Kap­i­tal­is­mus 2.0: Von der Großen Depression bis in die 1970er Jahre herrschte ein Konzept vor, das in den USA die Ankurbelung der Bin­nen­nach­frage („New Deal“) und gesellschaft­spoli­tis­che Ziele („Great Society“) umfasste sowie in Europa die Idee vom Wohlfahrtsstaat. Verbreitet war der Glaube an den guten, fürsorglichen Vater Staat. Die hohe Inflation markierte das Ende dieser Phase.
  3. Kap­i­tal­is­mus 3.0: Der freie, mark­t­fun­da­men­tal­is­tis­che Kap­i­tal­is­mus, den Ronald Reagan und Margaret Thatcher anstrebten, kam ab den 1980er Jahren weltweit zum Zuge. Nach dieser regelrecht staats­feindlichen Überzeugung waren die Unternehmen klug und weise, nicht die Regierungen. Dies führte zur derzeitigen Systemkrise.

Kap­i­tal­is­mus 4.0: Stärkerer, aber kleinerer Staat

Die aktuelle Häutung des Wirtschaftssys­tems führt zu einer Abkehr von mark­tradikaler Politik. Gle­ichzeitig wird sich die Erkenntnis durchsetzen, dass auch Regierungen Unrecht haben können. Keine der beiden Seiten ist unfehlbar, das zwingt beide zur Kooperation. Gelingt diese nicht, werden die westlichen Demokratien ihre Führungsrolle an autoritäre Staaten wie China verlieren. Die Überzeugung, wonach das Wirken der Marktkräfte für mehr Demokratie sorgt, ist nicht mehr haltbar.

„Der Kap­i­tal­is­mus überlebt, weil er biegsam ist, statt zu brechen.“

Angst vor der Allmacht der Politik ist nicht berechtigt. Dem öffentlichen Sektor wird schon allein wegen der Schulden und der de­mografis­chen Probleme gar nichts anderes übrig bleiben, als zu schrumpfen. Gle­ichzeitig wird die Ve­r­ant­wor­tung des Staates aber größer werden. Politiker werden mehr als bisher versuchen, die Märkte zu steuern: Der Staat definiert die Ziele, die gewin­nori­en­tierte Unternehmen verfolgen sollen, und reguliert die Sektoren je nach Bedarf un­ter­schiedlich stark. Eine gemischte staatlich-pri­vate Wirtschaft ist prinzipiell nicht neu, wird aber von den Akteuren stärker als vorher auch akzeptiert.

Elemente des neuen Kap­i­tal­is­mus

Wodurch zeichnet sich der neue Kap­i­tal­is­mus aus?

  • Statt gefährliche Fi­nanzspeku­la­tio­nen zu verbieten oder ihnen völlig freien Lauf zu lassen, wie es in den Kap­i­tal­is­mussta­dien 2.0 und 3.0 üblich war, setzt ein prag­ma­tis­ches Konzept auf veränderte Anreize für die Wirtschaft, z. B. durch Besteuerung. Mark­to­ri­en­tierte Staaten wie die USA müssen sich mit mehr Staat­se­in­grif­fen anfreunden, während in­ter­ven­tion­is­tis­che Volk­swirtschaften wie China oder Japan mehr Markt zulassen müssen.
  • Staatliche Kon­junk­tu­ran­reize sind sinnvoll. Die makroökonomische Steuerung à la Keynes funk­tion­iert. Dieses Bewusstsein muss sich in Politik und Wirtschaft durchsetzen – sonst werden wünschenswerte Kon­junk­tur­pro­gramme zu früh beendet.
  • Es ist sinnvoll, alle Gesetze durch eine so genannte Sun­set-Klausel zeitlich zu beschränken. Läuft ein Gesetz aus, muss immer wieder aufs Neue debattiert werden, ob eine Verlängerung angebracht ist.
  • Die Gehälter von Bankern sowie die Bankdiv­i­den­den sollten staatlich reguliert werden. Der Steuerzahler ist als Helfer in der Not quasi permanent stiller Teilhaber der Banken und hat darum Auf­sicht­srechte.
  • Han­dels­bi­lanzde­fizite und -überschüsse sollten durch in­ter­na­tionale Regulierung auf ein bestimmtes Maß begrenzt werden. Deutschland, China und Japan werden ihre Wirtschaft­spoli­tik der Exportüberschüsse aufgeben müssen. Sonst droht die Gefahr, dass die ver­schulde­ten Länder USA, Großbritannien und Spanien zum Ausgleich ihrer Han­dels­bi­lanz Strafzölle und Abwertungen anstreben.
  • Der Trend zu mehr direkter Demokratie und Bürg­er­beteili­gung ist nicht von Dauer. Er führt zu Populismus. Die repräsentative Demokratie wird den Erhalt des Kap­i­tal­is­mus sichern.
  • Die Einkom­men­steuer­pro­gres­sion, die in den USA und Großbritannien trotz des jeweils an­ti­sozial­is­tis­chen Selbstbilds vermutlich am höchsten ist, wird auf den Prüfstand gestellt. In Krisen führt sie nämlich zu einem extremen Einbruch der Steuere­in­nah­men.
  • Das chinesische Wirtschaftsmod­ell hat – bei allen Erfolgen – gegenüber dem westlichen Kap­i­tal­is­mus viele Nachteile. Während die Modelle der europäischen Länder und der USA sich immer ähnlicher werden, nimmt der Kontrast dieser Länder gegenüber China zu.

Die Zinsen bleiben niedrig

Während manche Ökonomen von der Irrelevanz geld- und fiskalpoli­tis­cher Stim­u­la­tio­nen sprechen, erkennen politische Entscheider, dass sie durchaus in der Lage sind, Zinssätze über lange Zeit nahe null zu halten oder Wech­selkurse gezielt zu steuern. Zurzeit ist die Staatsver­schul­dung derartig hoch, dass ein Steigen der Zinsen wohl ein Finanzchaos auslösen würde. Regierungen und Zen­tral­banken werden so lange, wie sie nur können, einen Zinsanstieg verhindern. Bis mindestens 2015 ist in der Eurozone und in den USA kein Anstieg der Leitzinsen über 2 % zu erwarten. Wem das unnatürlich vorkommt, der sei daran erinnert, dass der Zins in Japan seit 1995 unter 1 % liegt und dass US-Anleihen von 1930 bis 1955 nie mehr als 2 % abwarfen.

„Bildung ist das Gebiet, auf dem das private Angebot wahrschein­lich am schnellsten zunehmen und aus dem sich der Staat am schnellsten zurückziehen wird.“

Zen­tral­banken in aller Welt streben inzwischen nach aktiver Wirtschaftsförderung. Kürzen die Staaten ihre Haushalte, werden Zen­tral­banken durch billiges Geld mithelfen, Rezessionen zu verhindern. Niedrige Zinsen sorgen dafür, dass Unternehmen trotz Kred­itverk­nap­pung und Kapazitätsüberhängen In­vesti­tio­nen tätigen können. Da die Wirtschaft ihre Kapazitätsgrenzen bis zu fünf Jahre nach der aktuellen Krise nicht ausschöpfen wird, kommt es so lange auch nicht zu einer Inflation. Es stimmt zwar, dass einer Inflation immer ein Zuwachs der Geldmenge vorangeht. Aber nicht jeder Geld­men­ge­nanstieg führt zu einer Inflation. Dennoch wird dieser falsche Umkehrschluss immer wieder in den Medien verbreitet.

Der Dollar bleibt stark

Es wird keine neue Weltwährung geben, sondern flexible, aber gelenkte Wech­selkurse. Der Dollar wird nicht kollabieren. Kein Land der Welt würde es hinnehmen, wenn seine Währung gegenüber dem Dollar in den nächsten Jahren um 30 oder 50 % aufwerten würde. Ein solcher Wertverlust des Dollar ist also nicht zu erwarten. Der Kurs des Dollar ist zudem viel weniger mit der geopoli­tis­chen Bedeutung der USA verknüpft, als gemeinhin angenommen wird. Die USA hat zwar wirtschaftliche Probleme, besitzt aber bessere Aussichten als die einzigen hoch en­twick­el­ten Konkur­renten: die Eurozone und Japan. Dort sind die Probleme nämlich noch größer.

Staatsin­sol­ven­zen sind un­wahrschein­lich

Das Risiko von Staatsin­sol­ven­zen wird oft übertrieben. Die USA, Japan und Großbritannien können nicht bankrottge­hen. Ihre Schulden haben sie nämlich fast ausschließlich in eigener Währung aufgenommen. Somit können sie diese immer zurückzahlen – durch das Anwerfen der Notenpresse. Kaum jemand hat zur Kenntnis genommen, dass sich das US-Han­dels­bi­lanzde­fizit in der Krise von 2007 bis 2009 reduzierte und die Aus­landsver­schul­dung relativ niedrig lag. Es ist zwar nötig, die Staatsver­schul­dung nicht ausufern zu lassen, um die Handlungsfähigkeit der Regierungen nicht zu gefährden. Da unsere Enkel aber sehr wahrschein­lich deutlich vermögender sein werden als wir, ist es kein Problem, ihnen Kred­itschulden zu hin­ter­lassen, die unser Leben verbessern. Im Dick­ens-Ro­man David Copperfield sagt Mr. Micawber wiederholt: „Irgendetwas wird schon rechtzeitig auftauchen.“ So merkwürdig dies klingt, so richtig ist es in Bezug auf die Zukunft des Kap­i­tal­is­mus. Heutige Probleme werden gelöst werden, auch wenn wir noch keine Antworten parat haben. Diese Er­wartung­shal­tung ist rationaler als apoka­lyp­tis­che Endzeit­szenar­ien wie im Film Mad Max.

Re­formbe­darf im Sozial­bere­ich

Die steigenden Gesund­heit­skosten sind eine große Her­aus­forderung, vor allem in den USA, wo diese Kosten seit Jahren aus dem Ruder laufen. General Motors und Chrysler gingen letztlich bankrott, weil sie die Kranken­ver­sicherung ihrer Mitarbeiter nicht mehr stemmen konnten. Gegenüber in­ter­na­tionalen Wet­tbe­wer­bern, die staatlich finanzierte Gesund­heitssys­teme haben, sind die US-Konzerne im Nachteil. Wie die Gesund­heit­saus­gaben werden auch die Kosten für Al­tersvor­sorge und Ausbildung stark zulegen. Das liegt an der Alterung der Bevölkerung und an der steigenden Wissensabhängigkeit der Wirtschaft. Im Hochschulsek­tor werden viele Länder ihre Hochschulen am US-Modell ausrichten. Ob privat oder staatlich – die Diagnose einer Bil­dungskrise, in der sich fast jedes Land glaubt, beflügelt die Ex­per­i­men­tier­laune. Das Wachstum im Sozial­bere­ich darf Regierungen aber nicht dazu verleiten, den Staatssek­tor zu vergrößern, denn dies wäre der größte Treiber für eine Inflation.

Über den Autor

Anatole Kaletsky ist Ko­r­re­spon­dent der britischen Zeitung Times in London und Gründer einer in Hongkong ansässigen In­vest­ment­firma. Von 1976 bis 1990 war er Chef des Büros der Financial Times in New York.