Dem Schwarzen Schwan auf der Spur

Buch Dem Schwarzen Schwan auf der Spur

Extremsituationen prognostizieren und von ihnen profitieren

FinanzBuch,
Auch erhältlich auf: Englisch


Rezension

Nassim Taleb hat die Trauerschwäne berühmt gemacht. Kenneth Posner seziert die Vögel nun bis auf die Knochen: Warum bleiben schwarze Schwäne so lange unsichtbar, bis sie ganze Unternehmen oder gar Fi­nanzsys­teme in den Abgrund reißen? Was hindert Analysten und Wirtschaft­sex­perten daran, dort zu forschen, wo der Lichtkegel ihrer Taschen­lam­pen nicht hinfällt? Anstatt dem kollektiven Wahnsinn mit Starrsinn oder Statistik zu begegnen, rät der Autor, die in volatilen Zeiten nahenden Schwäne intuitiv am Geräusch ihres Flügelschlags zu erkennen. Enttäuscht wird, wer eine fun­da­men­tale Sys­temkri­tik von ihm erwartet: Als ehemaliger Staranalyst bei Morgan Stanley hat Posner kein Problem mit man­isch-de­pres­siven Finanzmärkten, und von verschärfter Regulierung hält er gar nichts. Schließlich, so betont er am Ende, seien schwarze Schwäne nicht unbedingt ein Grund zur Trauer – man kann sich auf ihren Schwingen auch zum Speku­la­tion­ser­folg tragen lassen. Unbedingt traurig ist dagegen das nachlässige Lektorat der deutschen Übersetzung, das selbst inhaltliche Fehler wie vertauschte Jahreszahlen übersah. BooksInShort empfiehlt das Buch Investoren und Analysten, die beim nächsten Schwan-Ereig­nis lieber eine Party feiern als ihr Geld zu Grabe tragen möchten.

Take-aways

  • Schwarze Schwäne sind statistisch un­wahrschein­liche Ereignisse, die in volatilen Zeiten großen fi­nanziellen Schaden anrichten.
  • Man kann sie nicht vorhersagen, aber ihre Ein­trittswahrschein­lichkeit lässt sich schätzen.
  • Wahrschein­lichkeitsbäume – kombiniert mit Intuition – liefern gute Resultate.
  • Haben Sie Mut, Überzeu­gun­gen zu revidieren: Dogmatiker sind schwarzen Schwänen hilflos aus­geliefert.
  • Isolieren Sie aus der In­for­ma­tions­flut die Katalysatoren, die den Wert einer Aktie am meisten bee­in­flussen.
  • Suchen Sie nach versteckten Bomben in Bilanzen und verlegenen Blicken von CEOs.
  • Quan­ti­ta­tive Analy­se­mod­elle sind hilfreich, können aber keine Kausalzusam­menhänge herstellen. Das muss der Mensch tun.
  • Aus diesem Grund wurde die Sprengkraft des Sub­prime-De­sasters jahrelang unterschätzt.
  • Eine In­vest­mentstrate­gie versagt immer dann, wenn sie zu viele Nachahmer findet.
  • Reagieren Sie rechtzeitig auf Veränderungen. Abwarten kann tödlich sein.
 

Zusammenfassung

Schmetter­linge, Schwäne und Spekulanten

Alle Schwäne sind weiß – davon waren die Europäer überzeugt, bis sie Australien entdeckten und damit auch die dort lebenden schwarzen Schwäne. In der Finanzwelt stehen die Vögel für statistisch un­wahrschein­liche Ereignisse, die in Zeiten hoher Volatilität alle Er­fahrungswerte über den Haufen werfen. Investoren haben es mit drei Arten von Volatilität zu tun:

  1. Schmetter­lingsef­fekt: Der Flügelschlag eines Schmetter­lings kann über eine Verkettung von Vorgängen einen Sturm über dem Ozean auslösen. Für die Finanzwelt heißt das: Keine Krise lässt sich exakt prog­nos­tizieren. Aber es gibt – ver­gle­ich­bar mit der Me­te­o­rolo­gie – Frühwarnindika­toren, etwa Managerlöhne, Veränderungen des Konkur­ren­z­drucks oder der Un­ternehmensstrate­gien.
  2. Herdentrieb: Wir machen unsere Meinung von der unserer Mitmenschen abhängig. Das kann durchaus rational sein. Doch Vorsicht, wenn eine große Anzahl von neuen und uner­fahre­nen Investoren plötzlich das Feld betritt, oder wenn der Kursverlauf einer Aktie so stark vom Normalwert abweicht, dass sie damit ihren „Ag­gre­gat­szu­s­tand“ verlässt – ver­gle­ich­bar mit Wasser, wenn es gefriert oder verdampft.
  3. Rück­kop­pelungss­chleifen: Positive oder negative Rück­kop­plun­gen führen zu ir­ra­tionalen Übertrei­bun­gen. Geht es an den Börsen aufwärts, steigt die Konsumlaune, was wiederum die Umsätze der Unternehmen wachsen lässt – der Aktienhöhenflug wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Geht es abwärts, schlägt die Stimmung um, Abwärtsspiralen werden zu Strudeln, die Kaufkraft sinkt, es kommt zu Ent­las­sun­gen und Pleiten.

Denken in Wahrschein­lichkeiten

Man kann schwarze Schwäne nicht vorhersehen – aber ihre Ein­trittswahrschein­lichkeit abschätzen. Wie das funk­tion­iert, zeigt das Beispiel der Kred­itkarten­firma Providian. Diese war Ende der 1990er Jahre ein Pionier auf dem Sub­prime-Kred­itkarten­markt. Kenneth Posner empfahl die Aktien von Providian zum Kauf. Bald allerdings zweifelten Kritiker an der Nach­haltigkeit eines Modells, das darauf aufbaute, Ger­ingver­di­enern zu Wucherzin­sen Geld zu leihen. Doch an der Börse lag das Unternehmen hoch im Kurs. 2000 verhängte die Bankreg­ulierungs­behörde dann ein Bußgeld, weil die Firma ihre Kunden mit Lock­vo­ge­lange­boten hinters Licht geführt habe. Ein hörbarer Warnschuss. Durch das Platzen der In­ter­net­blase bestand Rezes­sion­s­ge­fahr, die Zahlungsausfälle drohten anzuziehen und die Neukun­dengewin­nung zu stocken. Wie wahrschein­lich ein Eintreten dieser Fälle war, beurteilte Posner anhand seiner eigenen Intuition und der ihm zugänglichen Daten. Daraus leitete er ein Wahrschein­lichkeits­di­a­gramm mit acht Ein­trittsszenar­ien ab, die einen zwischen 5 $ und 80 $ vari­ieren­den Aktienkurs zur Folge gehabt hätten. Nun blinkten deutliche Warnsignale auf: Die Wahrschein­lichkeiten waren extrem asym­metrisch verteilt. 80 $ erschienen mit einer Ein­trittswahrschein­lichkeit von 3,8 % fast utopisch, während das Risiko eines Crashs mit 33,8 % er­schreck­end real erschien. Und so kam es auch: 2001 stürzte die Aktie ins Bodenlose und verlor innerhalb von nur vier Monaten 96 % ihres Werts.

Selb­stzweifel oder Selbstüberschätzung

Posner empfahl die Aktie rechtzeitig zum Verkauf und revidierte damit seine ursprüngliche Meinung über Providian. Vielen Investoren gelingt das nicht. Sie lassen sich von ihrem eigenen Urteil wie vom Licht einer Taschen­lampe blenden und sind blind für alles, was im Dunkeln liegt. Treten Sie einen Schritt zurück und analysieren Sie Ihre Recherc­hear­beit, um ein Gle­ichgewicht zwischen Selb­stzweifeln und Selbstüberschätzung zu finden: Haben Sie Themen isoliert, die das Investment bee­in­flussen? Besitzen Sie In­for­ma­tio­nen, die der All­ge­mein­heit nicht vorliegen? Und wissen Sie, was Ihre Konkur­renten denken? Es ist unmöglich, sämtliche verfügbaren In­for­ma­tio­nen zu berücksichtigen. Möglich ist aber, sie ziel­gerichteter zu nutzen:

  • Erstellen Sie einen Me­di­en­spiegel und abonnieren Sie kostenpflichtige Pub­lika­tio­nen.
  • Lassen Sie die Reaktionen anderer Mark­teil­nehmer in die eigene Analyse einfließen, ohne sie zu kopieren.
  • Trennen Sie wichtige von unnützen In­for­ma­tio­nen, indem Sie die entschei­den­den Katalysatoren für die Kursen­twick­lung einer Aktie benennen.
  • Hören Sie bei der Einschätzung neuer En­twick­lun­gen und Ein­flussfak­toren auf Ihre Intuition. 2006 verhalf das Gefühl für die Bedeutung der Kred­i­taus­fall­raten im Sub­prime-Hy­pothekengeschäft einem kleinen Hedgefonds zu enormen Gewinnen.
  • Vermeiden Sie In­for­ma­tions-Inzest: Wenn Analysten, Fi­nanzjour­nal­is­ten und CEOs sich nur in den gleichen Kreisen bewegen, werden sie kollektiv blind für schwarze Schwäne.
  • Betreuen Sie kleine Teams mit der Analyse konkreter Katalysatoren: Vier Augen sehen mehr als zwei!

Sturkopf oder Wendehals

Unser Bewusstsein spielt uns immer wieder böse Streiche und steht der optimalen Entschei­dungs­find­ung im Weg. Etwa wenn wir alle In­for­ma­tio­nen, die unsere Überzeu­gun­gen widerlegen, geflissentlich ignorieren – und umgekehrt aktiv nach In­for­ma­tio­nen suchen, die Entschei­dun­gen im Nachhinein bestätigen. Diese Form von kognitiver Dissonanz kann auf In­vest­mententschei­dun­gen einen ver­heeren­den Einfluss haben. Die meisten Fonds­man­ager halten z. B. an Verlusten länger fest als an Gewinnen, weil ein Eingestehen der Verluste ihr Selbstbild ankratzt. Verschärft wird die Dissonanz dadurch, dass der Investor möglicher­weise bis zum To­ta­laus­fall auf seiner heißen Position sitzen­bleibt, wenn die Veränderungen sehr langsam vor sich gehen.

„In Zeiten extremer Volatilität ist das finanzielle Überleben oberstes Gebot.“

Langfristig denkende Value-In­ve­storen ignorieren die kognitive Dissonanz, bleiben hart und kaufen sogar noch dazu, wenn die Kurse fallen. Sie können damit bei extremer Volatilität viel gewinnen oder viel verlieren. Kurzfrist­trader versuchen sich selbst zu überlisten, indem sie Stop-Loss-Gren­zen setzen. Ideal ist keine der beiden Methoden. Stellen Sie sich der kognitiven Dissonanz offensiv, indem Sie frühere Wahrschein­lichkeitsbäume revidieren und sich mit Kollegen austauschen. Behalten Sie immer die Volatilität im Auge: Ist sie hoch, sollten Sie Ihre Überzeu­gun­gen schnell überdenken. Bei niedriger Volatilität können Sie länger an ihnen festhalten.

In­for­ma­tio­nen auf Augenhöhe

Manager haben kein Interesse daran, ausgewogen über ihr Unternehmen zu informieren. Sie versuchen, Positives her­vorzuheben und Negatives unter den Teppich zu kehren. So gehen Sie solchen asym­metrischen In­for­ma­tio­nen nicht auf den Leim:

  • Quellen streuen: Befragen Sie Wet­tbe­wer­ber und Forschungsin­sti­tute, und gleichen Sie deren In­for­ma­tio­nen mit jenen des Managements ab.
  • Nonverbale Signale deuten: Verfolgen Sie Tonfall und Körpersprache von Managern, wenn diese auf unangenehme Fragen antworten, um kognitive Dissonanzen zu erkennen.
  • Un­stim­migkeiten aufdecken: Untersuchen Sie Bilanzen auf widersprüchliche Angaben und versteckte Bomben. In seinem Bericht für das zweite Quartal 2008 begründete der staatliche Hy­potheken­fi­nanzierer Freddie Mac seinen Optimismus z. B. mit der verzweifelt wirkenden Annahme, dass „die aktuellen Markttrends und Mark­tbe­din­gun­gen auf dem amerikanis­chen Häusermarkt nicht von Dauer sein werden“.
  • Interviews mit di­ag­nos­tis­cher Kraft führen: Wenn Sie Manager interviewen, fragen Sie nicht nach Prognosen, sondern danach, wie und warum die Un­ternehmensführer dazu gelangt sind. Ratlose Blicke als Antwort darauf sprechen manchmal Bände.

Analyse schützt vor Irrtum nicht

Die Aktie von MasterCard hatte beim Börsengang im Jahr 2006 enormes Kurssteigerungspoten­zial. Aber es bestanden auch juristische Risiken, da große Einzelhändler sich gegen die hohen Gebühren wehrten und den Kred­itkarten­fir­men kartell­rechtliche Verstöße vorwarfen. In dieser Situation war es wichtig, folgende Themen zu analysieren: Um­satzwach­s­tum und langfristige Aussichten auf dem globalen Markt, operativer Lever­age-Ef­fekt (das Verhältnis zwischen Umsätzen und Ausgaben), Wettbewerb, Mark­tan­teile, Gebührenteilung mit den Banken und schließlich das juristische Risiko.

„Bald wird ein neuer Schwarm junger Schwäne die Flügel spreizen. Wenn das System ein neues Gle­ichgewicht findet, kann es wieder eine Reihe positiver Überraschun­gen geben.“

Da die Aktie nach dem Börsengang weit tiefer notierte, als Kenneth Posner es ihr langfristig zutraute, empfahl er sie zum Kauf. Tatsächlich: Ihr Wert verdoppelte sich innerhalb des ersten halben Jahres auf 85 $. Nun aber hielt er sie für überbewertet, auch weil das juristische Risiko nach wie vor bestand. Also riet er zum Verkaufen. Eine schlechte Entschei­dung: In den darauf folgenden sechs Monaten verdoppelte sich ihr Preis noch einmal auf 180 $. Das Modell hatte u. a. deshalb versagt, weil der Analyst einen wesentlichen Aspekt außer Acht ließ: MasterCard hatte sich von einem Pri­vatun­ternehmen zu einem börsen­notierten gewandelt und damit seinen Managern mehr Anreize für eine bessere Performance geboten.

Der menschliche Faktor

Das com­put­er­basierte Monte-Carlo-Mod­ell ermöglicht die Erstellung eines riesigen Wahrschein­lichkeits­baums, der viel größer ist als die, die Sie per Hand zeichnen könnten. Am Ende spuckt es eine Vielzahl von Szenarien aus, die auf Zu­fallsvari­ablen basieren. Die Kausalzusam­menhänge zwischen diesen Variablen kann ein quantitativ arbeitendes Programm jedoch nicht selbstständig herstellen – das muss der Mensch leisten. Genau hieran mangelte es bei der Einschätzung der CDOs (Col­lat­er­al­ized Debt Obligations), die für den größten schwarzen Schwan der vergangenen Jahrzehnte ve­r­ant­wortlich gemacht werden: Deren Bewertung basierte auf der irrigen Annahme, dass die ver­schiede­nen Assets in einem An­lei­he­p­ort­fo­lio aus lan­desweiten Hypotheken, Kred­itkarten­schulden, Auto- und Stu­di­enkred­iten nicht stark miteinander ko­r­re­lierten, also kaum alle auf einmal ausfallen würden. Heerscharen von Analysten, Bankern und Mi­tar­beit­ern der Ratin­ga­gen­turen hatten gleich mehrere Kausalzusam­menhänge übersehen.

Der nächste Schwan kommt bestimmt

Wenn eine große Zahl von Menschen auf der Basis gle­ichar­tiger In­for­ma­tio­nen die gleichen Entschei­dun­gen trifft, lösen sie dadurch, ohne es zu merken, eine Eigen­dy­namik aus. Das war im August 2007 der Fall, als der so genannte Quant-Schock die Märkte erzittern ließ: Investoren, die ihre Computer mithilfe von al­go­rith­mis­chen Strategien blitzschnell Kauf- und Verkauf­sentschei­dun­gen treffen ließen, erlitten massive Verluste. Die Strategie hatte bei geringer Volatilität und steigenden Kursen jahrelang gut funk­tion­iert. Sobald aber immer mehr Konkur­renten sie nachahmten, die ganze Herde also in die gleiche Richtung trampelte, versagte sie. Eine In­vest­mentstrate­gie ist nur so lange gut, wie noch genügend Investoren eine andere verfolgen. Die Mitarbeiter von Goldman Sachs hatten das erkannt, als sie auf den Zusam­men­bruch des Sub­primemark­tes wetteten und so ihr Institut vor dem Schlimmsten bewahrten. Sie hatten den schwarzen Schwan kommen sehen.

Über den Autor

Kenneth A. Posner war viele Jahre als Senior Analyst und Managing Director bei Morgan Stanley tätig, wo er vor allem Aktien aus dem Fi­nanzsek­tor bewertete. Seit 2009 arbeitet er für die In­vest­ment­firma North American Financial Holdings.