Schmetterlinge, Schwäne und Spekulanten
Alle Schwäne sind weiß – davon waren die Europäer überzeugt, bis sie Australien entdeckten und damit auch die dort lebenden schwarzen Schwäne. In der Finanzwelt stehen die Vögel für statistisch unwahrscheinliche Ereignisse, die in Zeiten hoher Volatilität alle Erfahrungswerte über den Haufen werfen. Investoren haben es mit drei Arten von Volatilität zu tun:
- Schmetterlingseffekt: Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann über eine Verkettung von Vorgängen einen Sturm über dem Ozean auslösen. Für die Finanzwelt heißt das: Keine Krise lässt sich exakt prognostizieren. Aber es gibt – vergleichbar mit der Meteorologie – Frühwarnindikatoren, etwa Managerlöhne, Veränderungen des Konkurrenzdrucks oder der Unternehmensstrategien.
- Herdentrieb: Wir machen unsere Meinung von der unserer Mitmenschen abhängig. Das kann durchaus rational sein. Doch Vorsicht, wenn eine große Anzahl von neuen und unerfahrenen Investoren plötzlich das Feld betritt, oder wenn der Kursverlauf einer Aktie so stark vom Normalwert abweicht, dass sie damit ihren „Aggregatszustand“ verlässt – vergleichbar mit Wasser, wenn es gefriert oder verdampft.
- Rückkoppelungsschleifen: Positive oder negative Rückkopplungen führen zu irrationalen Übertreibungen. Geht es an den Börsen aufwärts, steigt die Konsumlaune, was wiederum die Umsätze der Unternehmen wachsen lässt – der Aktienhöhenflug wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Geht es abwärts, schlägt die Stimmung um, Abwärtsspiralen werden zu Strudeln, die Kaufkraft sinkt, es kommt zu Entlassungen und Pleiten.
Denken in Wahrscheinlichkeiten
Man kann schwarze Schwäne nicht vorhersehen – aber ihre Eintrittswahrscheinlichkeit abschätzen. Wie das funktioniert, zeigt das Beispiel der Kreditkartenfirma Providian. Diese war Ende der 1990er Jahre ein Pionier auf dem Subprime-Kreditkartenmarkt. Kenneth Posner empfahl die Aktien von Providian zum Kauf. Bald allerdings zweifelten Kritiker an der Nachhaltigkeit eines Modells, das darauf aufbaute, Geringverdienern zu Wucherzinsen Geld zu leihen. Doch an der Börse lag das Unternehmen hoch im Kurs. 2000 verhängte die Bankregulierungsbehörde dann ein Bußgeld, weil die Firma ihre Kunden mit Lockvogelangeboten hinters Licht geführt habe. Ein hörbarer Warnschuss. Durch das Platzen der Internetblase bestand Rezessionsgefahr, die Zahlungsausfälle drohten anzuziehen und die Neukundengewinnung zu stocken. Wie wahrscheinlich ein Eintreten dieser Fälle war, beurteilte Posner anhand seiner eigenen Intuition und der ihm zugänglichen Daten. Daraus leitete er ein Wahrscheinlichkeitsdiagramm mit acht Eintrittsszenarien ab, die einen zwischen 5 $ und 80 $ variierenden Aktienkurs zur Folge gehabt hätten. Nun blinkten deutliche Warnsignale auf: Die Wahrscheinlichkeiten waren extrem asymmetrisch verteilt. 80 $ erschienen mit einer Eintrittswahrscheinlichkeit von 3,8 % fast utopisch, während das Risiko eines Crashs mit 33,8 % erschreckend real erschien. Und so kam es auch: 2001 stürzte die Aktie ins Bodenlose und verlor innerhalb von nur vier Monaten 96 % ihres Werts.
Selbstzweifel oder Selbstüberschätzung
Posner empfahl die Aktie rechtzeitig zum Verkauf und revidierte damit seine ursprüngliche Meinung über Providian. Vielen Investoren gelingt das nicht. Sie lassen sich von ihrem eigenen Urteil wie vom Licht einer Taschenlampe blenden und sind blind für alles, was im Dunkeln liegt. Treten Sie einen Schritt zurück und analysieren Sie Ihre Recherchearbeit, um ein Gleichgewicht zwischen Selbstzweifeln und Selbstüberschätzung zu finden: Haben Sie Themen isoliert, die das Investment beeinflussen? Besitzen Sie Informationen, die der Allgemeinheit nicht vorliegen? Und wissen Sie, was Ihre Konkurrenten denken? Es ist unmöglich, sämtliche verfügbaren Informationen zu berücksichtigen. Möglich ist aber, sie zielgerichteter zu nutzen:
- Erstellen Sie einen Medienspiegel und abonnieren Sie kostenpflichtige Publikationen.
- Lassen Sie die Reaktionen anderer Markteilnehmer in die eigene Analyse einfließen, ohne sie zu kopieren.
- Trennen Sie wichtige von unnützen Informationen, indem Sie die entscheidenden Katalysatoren für die Kursentwicklung einer Aktie benennen.
- Hören Sie bei der Einschätzung neuer Entwicklungen und Einflussfaktoren auf Ihre Intuition. 2006 verhalf das Gefühl für die Bedeutung der Kreditausfallraten im Subprime-Hypothekengeschäft einem kleinen Hedgefonds zu enormen Gewinnen.
- Vermeiden Sie Informations-Inzest: Wenn Analysten, Finanzjournalisten und CEOs sich nur in den gleichen Kreisen bewegen, werden sie kollektiv blind für schwarze Schwäne.
- Betreuen Sie kleine Teams mit der Analyse konkreter Katalysatoren: Vier Augen sehen mehr als zwei!
Sturkopf oder Wendehals
Unser Bewusstsein spielt uns immer wieder böse Streiche und steht der optimalen Entscheidungsfindung im Weg. Etwa wenn wir alle Informationen, die unsere Überzeugungen widerlegen, geflissentlich ignorieren – und umgekehrt aktiv nach Informationen suchen, die Entscheidungen im Nachhinein bestätigen. Diese Form von kognitiver Dissonanz kann auf Investmententscheidungen einen verheerenden Einfluss haben. Die meisten Fondsmanager halten z. B. an Verlusten länger fest als an Gewinnen, weil ein Eingestehen der Verluste ihr Selbstbild ankratzt. Verschärft wird die Dissonanz dadurch, dass der Investor möglicherweise bis zum Totalausfall auf seiner heißen Position sitzenbleibt, wenn die Veränderungen sehr langsam vor sich gehen.
„In Zeiten extremer Volatilität ist das finanzielle Überleben oberstes Gebot.“
Langfristig denkende Value-Investoren ignorieren die kognitive Dissonanz, bleiben hart und kaufen sogar noch dazu, wenn die Kurse fallen. Sie können damit bei extremer Volatilität viel gewinnen oder viel verlieren. Kurzfristtrader versuchen sich selbst zu überlisten, indem sie Stop-Loss-Grenzen setzen. Ideal ist keine der beiden Methoden. Stellen Sie sich der kognitiven Dissonanz offensiv, indem Sie frühere Wahrscheinlichkeitsbäume revidieren und sich mit Kollegen austauschen. Behalten Sie immer die Volatilität im Auge: Ist sie hoch, sollten Sie Ihre Überzeugungen schnell überdenken. Bei niedriger Volatilität können Sie länger an ihnen festhalten.
Informationen auf Augenhöhe
Manager haben kein Interesse daran, ausgewogen über ihr Unternehmen zu informieren. Sie versuchen, Positives hervorzuheben und Negatives unter den Teppich zu kehren. So gehen Sie solchen asymmetrischen Informationen nicht auf den Leim:
- Quellen streuen: Befragen Sie Wettbewerber und Forschungsinstitute, und gleichen Sie deren Informationen mit jenen des Managements ab.
- Nonverbale Signale deuten: Verfolgen Sie Tonfall und Körpersprache von Managern, wenn diese auf unangenehme Fragen antworten, um kognitive Dissonanzen zu erkennen.
- Unstimmigkeiten aufdecken: Untersuchen Sie Bilanzen auf widersprüchliche Angaben und versteckte Bomben. In seinem Bericht für das zweite Quartal 2008 begründete der staatliche Hypothekenfinanzierer Freddie Mac seinen Optimismus z. B. mit der verzweifelt wirkenden Annahme, dass „die aktuellen Markttrends und Marktbedingungen auf dem amerikanischen Häusermarkt nicht von Dauer sein werden“.
- Interviews mit diagnostischer Kraft führen: Wenn Sie Manager interviewen, fragen Sie nicht nach Prognosen, sondern danach, wie und warum die Unternehmensführer dazu gelangt sind. Ratlose Blicke als Antwort darauf sprechen manchmal Bände.
Analyse schützt vor Irrtum nicht
Die Aktie von MasterCard hatte beim Börsengang im Jahr 2006 enormes Kurssteigerungspotenzial. Aber es bestanden auch juristische Risiken, da große Einzelhändler sich gegen die hohen Gebühren wehrten und den Kreditkartenfirmen kartellrechtliche Verstöße vorwarfen. In dieser Situation war es wichtig, folgende Themen zu analysieren: Umsatzwachstum und langfristige Aussichten auf dem globalen Markt, operativer Leverage-Effekt (das Verhältnis zwischen Umsätzen und Ausgaben), Wettbewerb, Marktanteile, Gebührenteilung mit den Banken und schließlich das juristische Risiko.
„Bald wird ein neuer Schwarm junger Schwäne die Flügel spreizen. Wenn das System ein neues Gleichgewicht findet, kann es wieder eine Reihe positiver Überraschungen geben.“
Da die Aktie nach dem Börsengang weit tiefer notierte, als Kenneth Posner es ihr langfristig zutraute, empfahl er sie zum Kauf. Tatsächlich: Ihr Wert verdoppelte sich innerhalb des ersten halben Jahres auf 85 $. Nun aber hielt er sie für überbewertet, auch weil das juristische Risiko nach wie vor bestand. Also riet er zum Verkaufen. Eine schlechte Entscheidung: In den darauf folgenden sechs Monaten verdoppelte sich ihr Preis noch einmal auf 180 $. Das Modell hatte u. a. deshalb versagt, weil der Analyst einen wesentlichen Aspekt außer Acht ließ: MasterCard hatte sich von einem Privatunternehmen zu einem börsennotierten gewandelt und damit seinen Managern mehr Anreize für eine bessere Performance geboten.
Der menschliche Faktor
Das computerbasierte Monte-Carlo-Modell ermöglicht die Erstellung eines riesigen Wahrscheinlichkeitsbaums, der viel größer ist als die, die Sie per Hand zeichnen könnten. Am Ende spuckt es eine Vielzahl von Szenarien aus, die auf Zufallsvariablen basieren. Die Kausalzusammenhänge zwischen diesen Variablen kann ein quantitativ arbeitendes Programm jedoch nicht selbstständig herstellen – das muss der Mensch leisten. Genau hieran mangelte es bei der Einschätzung der CDOs (Collateralized Debt Obligations), die für den größten schwarzen Schwan der vergangenen Jahrzehnte verantwortlich gemacht werden: Deren Bewertung basierte auf der irrigen Annahme, dass die verschiedenen Assets in einem Anleiheportfolio aus landesweiten Hypotheken, Kreditkartenschulden, Auto- und Studienkrediten nicht stark miteinander korrelierten, also kaum alle auf einmal ausfallen würden. Heerscharen von Analysten, Bankern und Mitarbeitern der Ratingagenturen hatten gleich mehrere Kausalzusammenhänge übersehen.
Der nächste Schwan kommt bestimmt
Wenn eine große Zahl von Menschen auf der Basis gleichartiger Informationen die gleichen Entscheidungen trifft, lösen sie dadurch, ohne es zu merken, eine Eigendynamik aus. Das war im August 2007 der Fall, als der so genannte Quant-Schock die Märkte erzittern ließ: Investoren, die ihre Computer mithilfe von algorithmischen Strategien blitzschnell Kauf- und Verkaufsentscheidungen treffen ließen, erlitten massive Verluste. Die Strategie hatte bei geringer Volatilität und steigenden Kursen jahrelang gut funktioniert. Sobald aber immer mehr Konkurrenten sie nachahmten, die ganze Herde also in die gleiche Richtung trampelte, versagte sie. Eine Investmentstrategie ist nur so lange gut, wie noch genügend Investoren eine andere verfolgen. Die Mitarbeiter von Goldman Sachs hatten das erkannt, als sie auf den Zusammenbruch des Subprimemarktes wetteten und so ihr Institut vor dem Schlimmsten bewahrten. Sie hatten den schwarzen Schwan kommen sehen.