Die Produktivitätsfalle
Es ist eine paradoxe Situation: Da predigen Unternehmensführungen fast überall, dass der Kunde König sei. Doch schaut man genauer hin, gibt es kaum eine Firma, die die Anforderungen der Kunden in puncto Service wirklich erfüllt. Nicht eingehaltene Liefertermine oder unvollständige Lieferungen sind die Regel. Was läuft da schief?
„Mehr und mehr bestimmen die Kunden, welche Produkte sie zu welchen Preisen kaufen.“
Das Grundproblem liegt darin, dass die Unternehmen die Märkte von heute mit Managementmethoden von gestern bearbeiten. Längst ist aus der einstigen Verkäuferdominanz eine Käufervormachtstellung geworden. Konkret bedeutet das: Auf den meisten Märkten übersteigt das Angebot die Nachfrage. Damit bestimmen zunehmend die Käufer, welche Produkte zu welchen Bedingungen und Preisen umgesetzt werden. Für die Unternehmen heißt das, dass die alten Strategien zur Gewinnmaximierung nicht mehr greifen.
„Im Verkäufermarkt, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt, kommt es darauf an, die Produktivität immer weiter zu erhöhen.“
Bestand das oberste Ziel in Verkäufermärkten darin, laufend die Produktivität zu steigern, wird dieser Ansatz in Käufermärkten zur Wachstumsbremse. Durch den einseitigen Blick auf das maximale Auslasten von Maschinen und auf Kostensenkungspotenziale verliert der Produktionsprozess an Flexibilität. Um Kundenwünsche heute jedoch optimal bedienen zu können, sind in Käufermärkten eine hohe Veränderungsbereitschaft und schnelle Handlungsmöglichkeiten gefragt. Einen Weg, diese Fähigkeiten in Unternehmen zu etablieren, bietet der bislang in Deutschland noch wenig beachtete Managementansatz der Theory of Constraints.
Erfolgsfaktor Engpass
Unter der Theory of Constraints wird das Management von Engpässen verstanden. Das Besondere an diesem Ansatz: Im Vordergrund steht nicht das Beseitigen von Kapazitätsschwierigkeiten. Ziel ist vielmehr, den entscheidenden Fertigungsengpass aufzuspüren und alle anderen Aufgaben an diesem auszurichten. Grundlage dieser Methode ist das Verständnis des Herstellungsprozesses eines Produkts als Kette, in der es ein schwaches Glied gibt, das den gesamten Ablauf bestimmt. Wird der Druck an dieser Stelle zu groß, reißt die Kette und die Kunden werden nicht pünktlich beliefert.
„Nur wer flexibel produziert, kann die Kundenerwartungen auf Käufermärkten noch erfüllen.“
Der Engpass muss daher nicht unbedingt in der eigentlichen Produktion liegen. Er kann genauso im Vertrieb, der Materialanlieferung oder der Logistik auftauchen. Entscheidend für ein optimales Unternehmensergebnis ist, dass die Auslastung des Engpasses mit der Nachfrage in Einklang gebracht wird. Erst dann kann ein reibungsloser Fertigungsablauf über die gesamte Prozesskette gesichert werden. Das Engpassmanagement weist damit viele Ähnlichkeiten mit dem Ansatz des Lean Management auf. Während Letzteres jedoch durch ständige Verbesserungen ausgeglichene Kapazitäten über alle Anlagen und Aufgaben anstrebt, setzt die Theory of Constraints auf die Unterschiede und ihre Transparenz.
„In der Praxis hat sich das Buffermanagement als mächtiges und effektives Werkzeug herausgestellt, um die Abläufe in der Produktion zu optimieren.“
Der Grund für dieses Vorgehen liegt darin, dass die vorherrschende Reaktion, den Engpass etwa durch Kapazitätsausweitungen oder erhöhte Lagerbestände zu beseitigen, längst keine geeignete Lösung für Lieferschwierigkeiten mehr ist. Einerseits führt das Beseitigen eines Engpasses automatisch zu einem neuen Engpass an einem anderen Glied der Kette. Andererseits macht das Streben nach einer ausgeglichenen Auslastung aller Maschinen und Aufgaben ein Unternehmen anfällig für unerwartete Störungen wie technische Ausfälle, da es kaum noch Pufferzeiten gibt.
„Constraint-Management erfordert ein Umdenken auf allen Ebenen – bei der Geschäftsleitung ebenso wie bei Führungskräften und Mitarbeitern.“
Voraussetzung dafür, dass diese neue Sichtweise auf den Fertigungsprozess den Firmenerfolg steigert, sind drei Dinge:
- Das gesamte Unternehmen muss sich an dem einzigen Ziel der Gewinnerzielung ausrichten.
- Alle Handlungen und Aufgaben werden allein vom Markt bestimmt.
- Das Engpassmanagement wird von allen Mitarbeitern verstanden und umgesetzt.
Das Engpassmanagement in der Praxis
Die Einführung der Theory of Constraints erfolgt idealerweise in fünf Schritten. Neben der zentralen Aufgabe der Engpassidentifizierung muss zu Beginn eine umfassende Mitarbeiterschulung erfolgen. Zudem wird das Projekt mithilfe des Buffermanagements dauerhaft im Unternehmen etabliert. Die einzelnen Punkte im Überblick:
1. Die Unterstützung der Mitarbeiter sichern
Das Engpassmanagement bedeutet einen Bruch mit bequemen Gewohnheiten und bekannten Sichtweisen. Deshalb ist es unerlässlich, die gesamte Belegschaft umfassend mit dem neuen Ansatz bekannt zu machen. Nur wenn die Mitarbeiter die Vorzüge der Methode verstehen und leben können, lässt sich ihre langfristige Unterstützung gewinnen. Neben Informationsveranstaltungen, regelmäßigen Diskussionsrunden und praktischen Trainings etwa anhand von Simulationssoftware sollten Sie auch eine klare Vision sowie einen ausführlichen Projektplan entwickeln.
2. Den Engpass identifizieren
Dies ist die Kernaufgabe der Theory of Constraints. Um den entscheidenden Engpass des gesamten Unternehmensablaufs zu ermitteln, müssen die Mitarbeiter ähnlich wie Detektive vorgehen. Das bloße Auswerten von Kennzahlen reicht dabei meistens nicht aus, da die tatsächlichen Abläufe durch die Daten meist nicht genau widergespiegelt werden. Auch gibt es keine Checkliste, um dem schwächsten Prozessglied auf die Spur zu kommen. Die Mitarbeiter müssen deshalb vor allem die Abläufe und ihre Materialbestände ganz genau beobachten. So sind die vor einem Arbeitsschritt zur Verfügung stehenden Ressourcen ein wichtiger Indikator für einen Engpass. Grundsätzlich gilt aber: Das Engpassmanagement heißt auch Irrtümer willkommen. Denn die Auswahl eines falschen Engpasses ist für den Erfolg des Ansatzes kein Problem: Egal welchen Arbeitsschritt das Projektteam als schwächstes Glied definiert, der richtige Engpass tritt während der Umsetzung der Methode automatisch ans Licht.
3. Den gesamten Fertigungsprozess am Engpass ausrichten
Ist der Engpass erst einmal ermittelt, gilt es, alle anderen Tätigkeiten an ihm zu orientieren. Das Mittel dabei ist das so genannte Drum-Buffer-Rope-Modell. Drum oder Taktgeber bezeichnet dabei den Engpass. Buffer oder Puffer ist die eingeplante Zeit, die das Material von seiner grundsätzlichen Verfügung bis zum Arbeitsbeginn am Engpass benötigt. Und Rope oder Seil bezeichnet die unmittelbare Verbindung der Engpasskapazität zur Materialeinspeisung anhand der Planung. Der große Vorzug dieses Modells ist die Reduktion der Produktion auf einen einzigen Fertigungsplan, der ganz einfach über Excel-Tabellen gesteuert werden kann. Dies erleichtert die Festlegung eines angemessenen Zeitpuffers, sodass der Engpass immer über genügend Material verfügt. Die Ausrichtung des Fertigungsprozesses am Engpass hat zur Folge, dass alle anderen Arbeitsschritte nicht mehr voll ausgelastet sind. In der Theory of Constraints ist diese Konsequenz allerdings gewollt, denn diese Unterauslastungen bilden so genannte Schutzkapazitäten, damit der Engpass immer ausreichend mit Ressourcen versorgt wird. Eine vorrangige Aufgabe der Verantwortlichen des Engpassmanagements ist es daher, diese Schutzkapazitäten zu verteidigen und sie nicht Einsparungen zum Opfer fallen zu lassen.
4. Den Engpass bearbeiten
Falls aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung die Nachfrage deutlich die Kapazität des Engpasses übersteigt, besteht Handlungsbedarf, um alle Kunden weiterhin pünktlich bedienen zu können. Zunächst muss sichergestellt werden, dass die Mitarbeiter umfassend geschult und motiviert sind, damit sie nicht selbst zum Engpass werden. Als Nächstes sollten Sie dafür sorgen, dass der Engpass optimal ausgenutzt wird. Konkret bedeutet das: Störungen vermeiden, Pausen überbrücken, Rüstzeiten minimieren, fehlerhafte Teile sofort aussortieren und wenn nötig, einzelne Fertigungen auslagern. Falls diese Maßnahmen nicht ausreichen, um die Nachfrage zu decken, bleibt nur die Möglichkeit, die Kapazität des Engpasses zu erhöhen. Verschwindet damit der Engpass, beginnt ein neuer Zyklus auf der Suche nach dem dann schwächsten Glied in der Fertigungskette.
5. Das Buffermanagement
Ein optimales Ergebnis kann das Engpassmanagement nur mit einem gesicherten Materialfluss erzielen. Genügend Zeitpuffer in der Anlieferung und ausreichende Bestände sind daher eine wichtige Voraussetzung, um die Kunden zufriedenstellend beliefern zu können. Die Steuerung erfolgt dabei mithilfe des Buffermanagements, der Einplanung von Zeitpuffern. Es dient nicht nur dazu, die Aufgaben des Engpasses dauerhaft zu gewährleisten, sondern auch die gesamte Prozesskette ständig zu verbessern. Grundlage des Buffermanagements ist die tägliche Besprechung am Engpass über die aktuelle Situation des Arbeitsplatzes. Der effektivste Puffer lässt sich dann anhand dieser Beobachtungen bestimmen, indem das Niveau des Materialflusses sukzessive abgesenkt wird. In dem Moment, in dem die ersten Störungen im Prozess auftreten, ist die Puffergrenze überschritten. Ziel des Buffermanagements ist es, die Produktionsdurchlauf- und Lieferzeiten auf das niedrigste mögliche Niveau zu reduzieren.
Das Engpassmanagement als Basis der Unternehmensstrategie
Um die Theory of Constraints dauerhaft in die Firmenabläufe zu integrieren und ständig weiterzuentwickeln, ist ein generelles Umdenken erforderlich. So muss die Unternehmensstrategie konsequent an den Prinzipien des Engpassmanagements ausgerichtet werden. Der erste Punkt dabei ist ein Kulturwandel, der gewohnte Einstellungen wie das Streben nach höchstmöglicher Produktivität, das Vermeiden von Stillständen oder die Angst vor Überkapazitäten abbaut. Auch ist es erforderlich, alle Mitarbeiter auf das einzige übergeordnete Ziel der Gewinnerzielung einzuschwören. Alle Arbeitsprozesse müssen an einem neuen, vom Produktivitätsdenken unabhängigen Kennzahlensystem ausgerichtet werden. Das Engpassmanagement unterscheidet dabei zwei Kategorien: Servicegrad- und wertmäßige Kennzahlen. Zu Ersteren zählen etwa der Lieferanten- und Kundenservicegrad, der Planerfüllungsgrad Materialversorgung oder Lieferrückstände. Wertmäßige Kennzahlen sind dagegen der Materialdurchsatz, der Materialbestand oder die Lagerumschlagshäufigkeit.
„Ein synchronisiertes Zielmanagement funktioniert nur, wenn alle Führungskräfte und Mitarbeiter vom übergeordneten Gewinnziel überzeugt sind und dieses Ziel gemeinsam unterstützen.“
Weitere wichtige Veränderungen betreffen die Unternehmensorganisation. Da es nur noch einen Fertigungsplan gibt, wird auch nur ein Planer benötigt. Zudem etabliert die Theory of Constraints mit dem Buffermanager eine neue Schlüsselposition. Beide Stellen müssen sorgfältig besetzt werden. Da es in den meisten Firmen üblicherweise eine Reihe von Fertigungsplanern für unterschiedliche Abläufe gibt, müssen für diese freigesetzten Mitarbeiter neue Aufgaben gefunden werden – dies ist wichtig, denn wenn Sie die Leute einfach entlassen, ist das Engpassmanagement für die Mitarbeiter sofort negativ besetzt; außerdem verlieren Sie möglicherweise sehr erfahrene Fachleute. Schließlich muss die Unternehmensstrategie auch offen für psychologische Themen sein: Eine so einschneidende Änderung wie das Engpassmanagement ruft immer zahlreiche Emotionen wie Euphorie oder Ängste oder auch Neiddebatten hervor. Werden diese Aspekte nicht ernst genommen, hat auch das beste Produktionskonzept keine Chance.