Identitätsentwicklung durch Coaching
Coaching ist eine Maßnahme zur Persönlichkeitsentwicklung. Mittlerweile als professionelle Managementberatung anerkannt, hat sie in den letzten Jahren rasante Verbreitung gefunden. Im Vordergrund stehen die Optimierung von Potenzialen und die Förderung individueller Kompetenzen bei Führungskräften. Dass Führungspersonen die Hauptzielgruppe sind, ist nicht zufällig: Sie sind umgeben von Vorgesetzten, die Qualität erwarten, von Kollegen, die ihnen den Posten neiden, und von individuell zu führenden Mitarbeitern mit steigenden Ansprüchen. Oft ist der Anlass eines Coaching eine Krise oder ein spezifisches Anliegen, das an die Führungsperson gestellt wird. Der Coach übernimmt die Aufgabe eines neutralen Prozessberaters.
„So wie der Körper besteht auch unsere Persönlichkeit aus Strukturen und Prozessen, die ‚nature‘ (Gene) und ‚nurture‘ (Erfahrung) widerspiegeln.“
Persönlichkeit ist wissenschaftlich betrachtet ein wertfreier Begriff und besteht aus vielen verschiedenen Facetten. Jeder Mensch kommuniziert Teile seiner Persönlichkeit mit seiner individuellen Selbstdarstellung an die Umwelt. Wurde sie früher als unveränderbar angesehen, so geht man heute davon aus, dass sich die Identität ein Leben lang entwickelt. Dieses Wissen wird im Coaching aktiv genutzt, in der Absicht, eine stimmige Führungsidentität aufzubauen. Diese ist wie folgt definiert:
- Wesensgemäß: Die Selbstdarstellung ist authentisch und stimmt mit dem Selbstbild der Führungsperson überein.
- Situationsgerecht: Die Führungsperson passt ihr Handeln dem Kontext an und beachtet dabei sowohl Interaktionspartner als auch die eigene Person.
- Metakommunikativ: Die Führungsperson ist bereit, die Wirkung ihres Verhaltens gemeinsam mit den betroffenen Personen anzuschauen.
„Mitarbeiter sind die häufigsten Interaktionspartner von Führungskräften und prägen somit deren Selbstverständnis maßgeblich.“
Im Spannungsfeld wechselnder Anforderungen müssen Sie als Führungskraft aber auch Konstanz zeigen und eine grundlegende und stabile Identität vermitteln. Nur so werden Sie als glaubwürdig wahrgenommen.
Umsetzung des Persönlichkeitscoachings
Der Coaching-Prozess beginnt bereits vor der ersten Sitzung von Klient und Coach. Zuerst muss die Führungskraft das Bedürfnis nach einer individuellen Unterstützung erkennen. Im Erstgespräch entscheidet sich dann, ob die Voraussetzungen für eine gemeinsame Arbeit gegeben sind. In der Umsetzungsphase geht es um die Problemlösung: Ausgehend vom Ist-Zustand macht man sich daran, einen angestrebten Soll-Zustand zu erreichen. Hier steht die Frage im Zentrum: „Wo stehe ich und wo möchte ich hin?“ Zur erfolgreichen Umsetzung bieten sich verschiedene Methoden an, z. B. erlebnisaktivierende Rollenspiele, Feedbackgespräche oder der systematische Abgleich zwischen Selbst- und Fremdbild. Diese Methoden sind eingebettet in einen aus acht Schritten bestehenden Prozess.
Schritt 1: Auswahl der Coaching-Themen
Die Themenauswahl konzentriert sich zunächst auf die zentralen Anliegen. Danach muss die Führungskraft zusammen mit dem Coach den Blickwinkel auf die Gesamtpersönlichkeit erweitern. Problembereiche, Anliegen und Erwartungen werden hinterfragt und priorisiert. Bei der Auswahl der Themen ist zu beachten, dass diese im vorgegebenen Rahmen des Coachings behandelbar sind, dass prinzipiell eine Veränderung möglich ist und dass eine solche auch wirklich einen Unterschied zum Status quo darstellt. Insgesamt sollten nicht mehr als drei Themen bearbeitet werden.
Schritt 2: Aktivierung realer Selbstbilder
Nun gilt es, systematisch zu hinterfragen, welches Bild der Coaching-Teilnehmer von sich selbst als Führungsperson hat. Ziel ist es, reale Selbstbilder zu aktivieren: Dadurch können die Ressourcen bestimmt werden, die den Klienten weiterbringen, aber auch Faktoren, die das Veränderungsverhalten u. U. hemmen. Im Coaching geht es jedoch primär um die Nutzung der Ressourcen. Unsere realen Selbstbilder umfassen jene Eigenschaften,
- die uns als Person derzeit ausmachen,
- die wir uns aufgrund von Erfahrungen zuschreiben und
- die uns durch Rückmeldungen bestätigt werden.
„Vieles dreht sich im Coaching-Prozess um die Frage: Wer bin ich?“
Bei der Definition unserer realen Selbstbilder spielen Emotionen eine große Rolle. Wir wollen uns vor schlechten Gefühlen schützen und tendieren daher dazu, unser Selbst zu beschönigen, indem wir positive Wahrnehmungsfilter einsetzen. Im Coaching sind die verschiedenen Selbstbilder systematisch als Stärken und Schwächen zu bewerten. Daneben kommen standardisierte Persönlichkeitsfragebögen und die Einbeziehung von Selbst- und Fremdbeschreibungen infrage. Eine ehrliche Selbstreflexion ist in dieser Phase wichtig.
Schritt 3: Aktivierung möglicher und normativer Selbstbilder
Neben realen Selbstbildern verfügen wir auch über eine Vielzahl von möglichen und normativen Selbstbildern, d. h. neben der Frage „Wie bin ich?“ werden wir auch von den Fragen „Wie möchte ich sein?“ und „Wie sollte ich sein?“ beeinflusst. Zusammen bilden diese Aspekte das Selbstkonzept. Es umfasst alle abrufbaren subjektiven Annahmen zu unserer Person. Damit sich die Führungskraft mit normativen und möglichen Selbstbildern auseinandersetzen kann, muss sie sich der Ideale bewusst werden, die ihre tägliche Arbeit beeinflussen. Die Idealvorstellung, die jemand von sich hat, kann sehr motivieren, aber sie weicht u. U. auch stark vom Status quo ab. Zur Aktivierung potenzieller Selbstbilder hat sich neben strukturierten Interviews vor allem das Modell des „inneren Teams“ durchgesetzt: Hierbei stellt man sich fiktive Teammitglieder vor, die unterschiedliche Aspekte oder Idealvorstellungen der eigenen Person konkretisieren. Die Führungskraft schlüpft nacheinander in die definierten Rollen und entwickelt so ein Verständnis für unterschiedliche Standpunkte.
Schritt 4: Erfassung von Fremdbildern und Abgleich mit Selbstbildern
Für den Veränderungsprozess besonders wichtig ist die Gegenüberstellung von Fremd- und Selbstbildern. Fremdbilder können – ebenso wie Selbstbilder – real, möglich oder normativ sein. Sie werden durch folgende Faktoren beeinflusst:
- Selektive Wahrnehmung: Wir filtern die für uns relevanten Informationen aus; die Wahrnehmung wird damit sehr subjektiv. Erwartungen werden meist bestätigt.
- Persönliche Konstrukte, individuelle Erwartungen und Werte: Neue Erfahrungen werden in vorgefertigte Schubladen und Kategorien eingefügt.
- Erklärungssuche: Während wir unsere eigenen Handlungen von bestimmten Situationen abhängig machen, ordnen wir den Handlungen anderer Personen gewisse Charaktereigenschaften zu.
- Zentrale Eigenschaften: Bestimmte Charaktermerkmale werden stärker gewichtet als andere.
„Der Coach übernimmt die Funktion des ‚sozialen Spiegels‘ für die Führungskräfte.“
Im Coaching soll der Führungskraft der Vergleich von Fremd- und Selbstbild transparent gemacht werden. Der Übereinstimmungsgrad von Innensicht und Außensicht ist häufig sehr gering, da Führungskräfte ihr Verhalten oftmals zu positiv einschätzen.
Schritt 5: Klärung von Selbstdarstellungsmustern
Im fünften Schritt geht es um die dynamische Interaktion zwischen innen und außen: darum, wie Selbstbilder vermittelt werden und wie andere darauf reagieren. Die Reaktion ist im Grunde eine Rückprojektion und gibt der Führungskraft Hinweise zum Fremdbild. Die Vermittlung von Selbstbildern – die Selbstdarstellung – ist allgegenwärtig und unvermeidlich, sobald Menschen interagieren. Es gilt, sich die Selbstdarstellung bewusst zu machen und sie ggf. zu verändern. Oft läuft die Selbstdarstellung unbewusst ab. Es gibt aber auch Situationen, in denen wir den Eindruck, den wir auf andere machen, bewusst kontrollieren:
- wenn wir überzeugt sind, dass ein gewisser Eindruck auf den Gesprächspartner für das Erreichen persönlicher, wichtiger Ziele relevant ist,
- wenn der Öffentlichkeitsgrad hoch ist oder starke Abhängigkeiten bestehen,
- wenn wir eine Diskrepanz wahrnehmen zwischen dem Eindruck, den wir erzielen wollen, und dem, den andere tatsächlich von uns haben.
„Menschen sind motiviert, nach ihren Zielvorstellungen über die eigene Person zu handeln.“
Zur Erkennung von konkreten Selbstdarstellungsmustern eignen sich im Coaching-Prozess erlebnisaktivierende Methoden, etwa Rollenspiele, in denen die Führungskraft konkret handelt.
Schritt 6: Klärung von Rahmenbedingungen
Das Zusammenspiel von Fremd- und Selbstbildern findet nicht im luftleeren Raum, sondern immer in einem Kontext statt. Dieser muss der Führungskraft bewusst sein. Dazu zählen Anforderungen, Aufgaben und Funktionen, die mit der eigenen Position im Unternehmen verknüpft sind. Sie bestimmen den Handlungs- und Gestaltungsspielraum. Auch die Unternehmenskultur hat prägenden Einfluss auf die Führung. Das Ziel ist es, sich nicht blind den Rahmenbedingungen anzupassen, sondern diese passend zur eigenen Persönlichkeit auszugestalten. Unser Verhalten ist von sozialen Normen geprägt. Sie definieren Grenzen, innerhalb deren wir uns bewegen können. Als Führungskraft müssen Sie abwägen, welchen Standards Sie gerecht werden wollen: Geltende Führungsgrundsätze sind mit eigenen Idealen abzugleichen.
Schritt 7: Förderung individueller Ressourcen
Um herauszufinden, welche Kompetenzen sich die Führungskraft in Zukunft aneignen kann, hat sie die Möglichkeit, im Coaching-Prozess spielerisch neue Selbst- und Rollenbilder zu erproben und damit ihre Potenziale zu erforschen. In einem zweiten Schritt geht es dann um die Auswahl konkreter Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen, die im Führungsalltag übernommen werden sollen. Damit ein Klient überhaupt bereit ist, seine persönlichen Ressourcen zu erweitern, muss er vom Coach zur Veränderung motiviert werden.
Schritt 8: Etablierung einer individuellen Führungsidentität
Im letzten Schritt geht es um die Frage, welche Führungsidentität man langfristig entwickeln möchte und kann. Um eine stimmige Führungsidentität im Alltag zu implementieren, ist eine bewusste Auswahl und Vermittlung von Selbstbildern angebracht. Drei Identitätsthemen sollen den Coaching-Teilnehmer bei der Formulierung eines Identitätsentwurfs unterstützen:
- Kohärenz: Innen- und Außenperspektive müssen zusammenspielen.
- Kreativität: Die Selbstinterpretation muss flexibel sein.
- Einzigartigkeit: Die Identitätskonstruktion muss individuell erfolgen.
„Die Wahrnehmung eines anderen Menschen hängt zu einem gewichtigen Teil von den eigenen Erwartungen und Präferenzen ab.“
Nach Abschluss des Coaching-Prozesses sind zur Kontrolle der erfolgreichen Umsetzung jeweils im Voraus Termine für Zwischenreflexionen festzulegen.