Die Brücke über die Drina

Buch Die Brücke über die Drina

Eine Chronik aus Višegrad

Belgrad, 1945
Diese Ausgabe: Paul Zsolnay Verlag,


Worum es geht

Eine Brücke zwischen zwei Welten

Jahrhun­derte­lang tobten auf dem Balkan Kämpfe zwischen Türken und Serben, Muslimen und Christen, Öster­re­ich­ern und Serben, Öster­re­ich­ern und Türken. Es scheint, als könnte diese Region einfach nicht zur Ruhe kommen. Auch noch nach der letzten großen Eskalation Anfang der 90er Jahre, dem Balkankrieg nach dem Zerfall Ju­goslaw­iens, flammten immer wieder Au­seinan­der­set­zun­gen um Staats­gren­zen auf. Welche his­torischen En­twick­lun­gen haben zu diesem instabilen Gefüge geführt? Ivo Andrićs Roman Die Brücke über die Drina bietet zwar keine endgültigen, aber doch eindrückliche Antworten auf diese Fragen. Er stellt ein geschicht­strächtiges Bauwerk in den Mittelpunkt und erzählt ver­schiedene Schicksale, die über die Jahrhun­derte damit verbunden sind. Er erlaubt dem Leser einen tiefen Blick in die Psyche eines ganzen Landstrichs und in die Höhen und Tiefen von dessen Geschichte. Mit ihrer lebendigen und fesselnden Erzählweise ist Die Brücke über die Drina nicht nur die Chronik eines Konflikts, sondern vor allem ein lesenswertes Stück Literatur, aus dem immer auch die Hoffnung auf Versöhnung spricht.

Take-aways

  • Die Brücke über die Drina ist der bekannteste Roman des ju­goslaw­is­chen Schrift­stellers Ivo Andrić.
  • Inhalt: Eine Brücke in der Stadt Višegrad verbindet über Jahrhun­derte hinweg den Orient mit dem Okzident. Ver­schiedene Bevölkerungs­grup­pen leben dort mehr oder weniger friedlich nebeneinan­der. Doch die Konflikte zwischen ihnen nehmen zu. Schließlich wird die Brücke im Ersten Weltkrieg gesprengt.
  • Das Buch ist kein Roman im eigentlichen Sinn, da es weder eine Hauptfigur noch eine kon­tinuier­liche Entwicklung von Charakteren gibt. Die eigentliche Heldin ist die Brücke.
  • Im Mittelpunkt des Romans steht der Versuch, die uralten Spannungen zwischen Ost und West, zwischen Christentum und Islam, in Worte zu fassen.
  • Die Chronik beruht auf his­torischen Tatsachen, die der Autor aber relativ frei gestaltet.
  • Als Kroate geboren, in Bosnien aufgewach­sen und später in Serbien wohnhaft, war Andrić zeit seines Lebens ein überzeugter Anhänger des ju­goslaw­is­chen Staates.
  • Er schrieb den Roman während der Besetzung Belgrads durch die Deutschen.
  • Für die Nieder­schrift durch­forstete er Unmengen an his­torischen Aufze­ich­nun­gen.
  • 1961 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur aus­geze­ich­net.
  • Zitat: „Und schnell und leicht fanden sie sich mit dem Gedanken ab, dass der Weg über die Brücke nicht mehr in die Welt führte und die Brücke nicht mehr war, was sie früher gewesen war: die Verbindung des Ostens mit dem Westen.“
 

Zusammenfassung

Die Brücke

Die Stadt Višegrad wird vom Fluss Drina in die Innenstadt und die Vorstadt geteilt. Die beiden Hälften sind durch eine steinerne Brücke verbunden, um die herum sich der Ort entwickelt hat. Die Brücke ist 250 Schritte lang und zehn Schritte breit, sie hat elf Bögen. In der Mitte weitet sie sich. Auf diesem Stück, der so genannten Kapija, spielt sich seit Jahrhun­derten der Großteil des sozialen Lebens der Stadt ab. Alle Einwohner kennen die Geschichten, die sich um das Bauwerk ranken. Meist beruhen sie auf einem wahren Kern.

Der Bau der Brücke

Das Schicksal der Stadt­be­wohner ist seit Jahrhun­derten mit der Brücke verbunden. Deren Geschichte beginnt im Jahr 1516. Zu dieser Zeit muss man noch mit einer Fähre zum anderen Ufer übersetzen. Eines Tages kommt eine Gruppe Jan­itscharen mit in Ostbosnien entführten christlichen Kindern an, die dem Sultan dienen sollen. Unter ihnen ist auch ein Junge, der im türkischen Reich als Großwesir Mehmedpaša Sokoli Karriere machen und den Bau der Brücke in Auftrag geben wird, um den Osten mit seiner Heimat Bosnien zu verbinden. Die Aufsicht über den Bau übernimmt der un­nachgiebige Abidaga, der die Anwohner zur Fronarbeit zwingt und sie so sehr auslaugt, dass einige Višegrader die Brücke zu sabotieren beginnen. Sie setzen das Gerücht in die Welt, die Wassernixe wolle den Bau verhindern. Abidaga erteilt den Befehl, den Schuldigen zu finden. Die Wachen ertappen schließlich den Bauern Radisav auf frischer Tat. Abidaga statuiert ein Exempel, indem er ihn mitten auf der Brücke pfählen lässt.

„An dieser Stelle, wo die Drina mit dem ganzen Gewicht ihrer Wasser­massen, grün und schäumend, aus dem scheinbar geschlosse­nen Massiv der schwarzen und steilen Berge her­vor­bricht, steht eine große, gleichmäßig geschnit­tene Brücke aus Stein mit elf weit gespannten Bögen.“ (S. 1)

Das allgemeine Entsetzen über die grausame Hinrichtung führt jedoch nicht zum gewünschten Ergebnis: Radisav wird zum Märtyrer, um den sich bald zahlreiche Legenden ranken. Schließlich reist Abidaga für den Winter ab – und kehrt nicht wieder zurück. Sein Auf­tragge­ber hat von seinen Untaten erfahren, ihn verbannt und einen neuen Aufseher ernannt. Nach fünf Jahren ist der Bau abgeschlossen und die Brücke wird mit einem großen Fest eröffnet. Mehmedpaša Sokoli aber wird sein Werk nie sehen: Kurz nach dessen Fer­tig­stel­lung wird er in Istanbul erstochen.

Hochwasser

Die Drina tritt zwar regelmäßig über die Ufer, doch nur alle 20 bis 30 Jahre sucht ein ver­heeren­des Hochwasser die Stadt heim. Diese Ereignisse prägen sich allerdings so sehr im kollektiven Gedächtnis ein, dass sie zu Fixpunkten der Geschichte werden, die man zu späteren Ereignissen in Beziehung setzt. Ein solches Hochwasser gibt es auch Ende des 18. Jahrhun­derts. Alle Einwohner retten sich auf den Hügel in den höher gelegenen Teil der Stadt und finden Zuflucht in den Häusern ihrer Mitbürger – ganz gleich, ob sie Moslems, Christen oder Juden sind. Sie verbringen die Nacht, indem sie sich gegenseitig mit komischen Geschichten ablenken. Am nächsten Morgen sehen sie, dass das Wasser beinahe die gesamte Stadt zerstört hat. Nur die Brücke ist völlig unbeschadet.

Das Blockhaus

Zu Beginn des 19. Jahrhun­derts kommt es in Serbien zu Aufständen gegen die türkische Herrschaft, die schließlich bis nach Višegrad reichen, wo Türken und Serben bisher mehr oder weniger friedlich zusam­men­gelebt haben. Soldaten werden in der Stadt stationiert und errichten auf der Brücke ein Blockhaus, um Reisende zu kon­trol­lieren und Aufrührer zu fassen. Gleich am ersten Tag nach Errichtung des Blockhauses nehmen die Wachen einen Betbruder fest, der den Fehler macht, den Soldaten von seiner Hoffnung auf ein serbisches Reich zu erzählen. Er wird zusammen mit einem Müllersohn, der ein verbotenes Lied gesungen hat, als erstes Opfer des Blockhauses hin­gerichtet und ihre Köpfe werden auf der Brücke aufgespießt – genau wie unzählige weitere in den folgenden Jahren. Erst lange nach dem Abklingen der Unruhen wird das Blockhaus durch ein Feuer zerstört und auf der Kapija zieht wieder Leben ein.

Eine neue Zeit bricht an

Die alte Ver­wal­tungs­bezirks­grenze in der Nähe der Stadt beginnt sich Mitte des 19. Jahrhun­derts zunehmend in eine Staats­grenze zu verwandeln, als sich das türkische Reich immer weiter zurückzieht. Nun wird auch den Višegradern klar, dass ihnen große Veränderungen bevorstehen. Im Jahr 1878 hat es den Anschein, als wolle der Sultan Bosnien kampflos den Öster­re­ich­ern überlassen. In der Bevölkerung regt sich Widerstand. Aufständische unter der Führung des hitzigen Osman Efendi Karamanlija suchen in Višegrad nach Unterstützern. Dort treffen sie jedoch auf den wort­ge­wandten Geschäftsmann Alihodža, der überzeugt ist, dass Karamanlija sie alle in einen sinnlosen Tod führen wird. Alihodža setzt sich durch und die Aufständischen verlassen die Stadt, als sich die Österreicher dem Fluss nähern. Karamanlija lässt jedoch zuvor Alihodža festnehmen und ihn am Ohr an der Brücke festnageln, damit er die Fremden so empfangen kann. Alihodža wird schließlich von Sanitätern des Roten Kreuzes befreit. Bosnien wird offiziell vom öster­re­ichis­chen Kaiser in Besitz genommen und der örtliche Be­fehlshaber lässt sich von den Vertretern der drei Religionen zusichern, dass die Stadt kooperiert. Der Bevölkerung wird in einer Prokla­ma­tion garantiert, dass, solange sie sich ruhig verhält, niemandem geschadet wird.

„Daher ist die Erzählung vom Werden und Geschick der Brücke gle­ichzeitig auch eine Erzählung vom Leben der Stadt und ihrer Menschen, von Generation zu Generation (...).“ (S. 20 f.)

Die Stadt verändert sich unter den Besatzern, die von den Einwohnern nur „Schwaben“ genannt werden, merklich. Die Neuankömmlinge vermessen und planen, später reißen sie Gebäude ab und errichten neue, ef­fizien­tere Bauten. Dieses Verhalten wider­spricht völlig der al­therge­brachten Lebensweise. Diese wird nun in neue Verord­nun­gen gepresst. Auch das Leben auf der Brücke ändert sich: Sie wird nun täglich gefegt und nachts wird sie von einer Laterne erleuchtet. Es kommt sogar immer öfter vor, dass Frauen auf der Kapija verweilen, die bisher den Männern vorbehalten war. Dann lassen die Besatzer die Häuser nummerieren und die Bevölkerung zählen. Die Višegrader macht das mis­strauisch. Sie leisten passiven Widerstand, indem sie die Hausnummern überstre­ichen oder ein falsches Alter angeben. Zwei Jahre später beginnt die Rekru­tierung. Als die Männer nach zweijähriger Dienstzeit in gutem Zustand zurückkehren, schwindet der anfängliche Widerstand gegen den Wehrdienst.

„Bunt gemischt Muslime, Christen und Juden. Die Naturgewalt und die Last des gemeinsamen Unglücks brachten diese Männer einander näher und überbrückten wenigstens für diese Nacht die Kluft, die den einen Glauben vom anderen trennte (...)“ (S. 106)

Das letzte Viertel des 19. Jahrhun­derts bringt Österreich eine Phase der Stabilität und des Wohlstands. Die Untertanen bekommen das Gefühl, ein freieres und luxuriöseres Leben zu führen. In Višegrad eröffnen neue Geschäfte und ein zugezogener Jude baut an der Brücke ein Hotel, das von seiner tatkräftigen und schönen Schwägerin, der Witwe Lottika, geführt wird. Hier treffen sich die Jugend und die wohlhaben­deren Bewohner der Stadt. Lottika hat alles fest im Griff, verdient gut und unterstützt mit dem er­wirtschafteten Geld ihre Familie und Bedürftige.

Große Veränderungen

Etwa 20 Jahre nach Beginn der Besatzung fangen die Österreicher damit an, die Brücke von Grund auf zu sanieren. Die meisten Einwohner halten nicht viel von der Sanierung, am wenigsten der verbitterte Alihodža, der überzeugt ist, dass die Aus­besserung nur böse Folgen haben kann. Nach dem Ende der Arbeiten wird eine neue Wasser­leitung gelegt und schließlich eine Eisen­bahn­linie gebaut. Diese macht die alte Straße nach Sarajevo und damit die Brücke überflüssig. Ihre Rolle als beispiel­hafte Verbindung zwischen Ost und West ist Geschichte.

„Solche Menschen, von denen man singt und spricht, werden bald von ihrem besonderen Schicksal davonge­tra­gen und hin­ter­lassen statt eines erfüllten Lebens Lieder und Legenden.“ (S. 148 f.)

Auf zwei Regimewech­sel in Serbien und der Türkei folgt eine Prokla­ma­tion des Kaisers: Bosnien und Herzegowina werden endgültig dem Kaiserreich unterstellt, sie erhalten eine eigene Lan­desvertre­tung und Verfassung, und ihre Einwohner sollen in ihren Rechten allen anderen Bürgern gle­ichgestellt werden. Bald darauf treffen Truppen in der Stadt ein, die neue Be­fes­ti­gun­gen bauen und in die Mitte der Brücke ein Loch hauen. Dort wird offenbar Sprengstoff deponiert, damit die Brücke im Kriegsfall zerstört werden kann. Alihodža will das zunächst nicht glauben – schließlich ist die Brücke ein unan­tast­bares Vermächtnis des Wesirs an die All­ge­mein­heit –, doch ein Soldat bestätigt seine Befürchtung.

Politik

Mit der Eisenbahn und der zunehmenden Beschle­u­ni­gung des Alltags machen sich auch neue Ideen in der Stadt breit. Die jungen Leute treffen sich auf der Brücke, unter ihnen auch der Student und Redner Stiković, ein lei­den­schaftlicher Nationalist, und der einfache Schreiber Glasinčanin, der meist ruhig zuhört. Glasinčanin ist in die Lehrerin Zorka verliebt, die eine Affäre mit Stiković hat. Nach einer Diskussion auf der Brücke mit mehreren anderen bleiben Stiković und Glasinčanin zurück. Stiković doziert über die nationale Bewegung, die er mit Feuereifer vertritt, während Glasinčanin meint, dass der Streit der In­tellek­tuellen völlig am Leben und Alltag der Menschen vorbeigehe und dass Stikovićs Eifer keinem höheren Ziel, sondern nur seiner eigenen Eitelkeit diene.

„Der Mufti wusste, dass die Višegrader niemals den Ruhm genossen hatten, begeisterte Krieger zu sein, und dass sie ein verrücktes Leben einem verrückten Sterben vorzogen (...)“ (S. 162)

Lottika führt das Hotel an der Brücke nun schon seit mehr als 20 Jahren, doch seit einiger Zeit laufen die Geschäfte schlecht. Die alten Gesetze der Wirtschaft und des Lebens gelten nicht mehr. Die neuen, kom­plizierten Verhältnisse werden von vielen unter dem Begriff „Politik“ zusam­menge­fasst. Lottika hat bei Aktiengeschäften Geld verloren und kann im Unterschied zu früher die Bedürftigen nicht mehr unterstützen. Ihre In­vesti­tio­nen in die arme Ver­wandtschaft blieben auch erfolglos: Eine junge Pianistin hat sich das Leben genommen und ein Anwalt wurde Sozialist. Lottika ist alt und müde, dennoch leitet, organisiert, hilft und berät sie weiter.

Kriegs­be­ginn

Das Jahr 1914 ist von allen Jahren, die die Brücke über die Jahrhun­derte sieht, das ungewöhnlichste und un­vergesslich­ste. Der Sommer dieses Jahres ist wunderschön und besonders ertragreich. Das Višegrader Tal strotzt nur so vor Frucht­barkeit. Die Lehrerin Zorka muss einsehen, dass ihr Traum von einer Beziehung zu Stiković eine falsche Hoffnung war, und findet Trost in der wieder aufgenomme­nen Fre­und­schaft zu Glasinčanin, der sie noch immer liebt und geduldig auf sie wartet.

„Wohin führt das und wo wird es ein Ende haben? Wer sind und was wollen diese Fremden, die, so scheint es, weder Ruhe noch Atempause, noch Maß und Grenzen kennen?“ (über die Österreicher, S. 200)

Im Juni treffen sich die serbischen Vereine zu einem Fest. Plötzlich wird die Feier von Gendarmen un­ter­brochen, mit der Nachricht, dass in Sarajevo der öster­re­ichis­che Thronfolger und seine Frau ermordet wurden. Glasinčanin verlässt heimlich Višegrad, um sich den serbischen Truppen anzuschließen. Zorka weiß, dass sie ohnehin keine gemeinsame Zukunft gehabt hätten. Österreich erklärt Serbien den Krieg und ein Schutzkorps aus Trunk­en­bolden und Tagedieben wird ein­gerichtet, um die Serben zu verfolgen. Bald darauf finden die ersten Hin­rich­tun­gen auf dem Markt statt. Ständig kommen neue Truppen in die Stadt – dann fallen die ersten Granaten.

Rückzug

Die Menschen ziehen sich in die höher gelegenen Viertel zurück, wie beim Hochwasser, nur dass Serben und Muslime jetzt streng getrennt sind. Die Stadt ist wie aus­gestor­ben, die Läden sind nur selten geöffnet. Die Serben finden sich stumm vor Entsetzen zusammen, etwa im Haus von Mihailo Ristić, der sie alle zu beruhigen und aufzuheit­ern versucht. Lottika hat derweil mit ihrer Familie das Hotel verlassen: Sie ziehen in ein leer stehendes Haus am anderen Ufer der Drina. Dort verliert sie kurz darauf den Verstand. Der angesehene Pavle Rancović wird, wie andere Serben auch, als Geisel genommen. Der Befehl lautet, Pavle zu erschießen, sollte jemand versuchen, die Brücke zu beschädigen. Er kann nicht fassen, dass das der Lohn für ein Leben voller Rechtschaf­fen­heit, harter Arbeit und Sparsamkeit sein soll. Ende September werden die Bewohner aufge­fordert, die Stadt zu verlassen, dann zieht sich auch das Militär zurück.

Der Angriff auf die Brücke

Die Österreicher haben die Stadt beinahe vollständig verlassen; eine letzte Patrouille trifft Alihodža vor seinem Laden. Er verspricht, auch bald zu gehen, schließt sich dann aber in seiner Kammer ein, wohin er sich schon seit Jahren gern zurückzieht. Kurz darauf kommt es zu einer Explosion, das Haus wird von einem Felsbrocken getroffen und der Laden verwüstet. Alihodža kann sich aus den Trümmern befreien und erkennt, dass die Brücke gesprengt wurde. Die serbischen Truppen haben die Stadt übernommen. Alihodža ist tief erschüttert und fühlt sich in seinen Vorurteilen bestätigt. Er wundert sich, was für Menschen etwas so Schönes und Nützliches wie die Brücke zerstören können. Alihodža macht sich auf den Weg zu seinem Haus auf den Hügel, doch er wird es nicht erreichen: Sein Herz versagt, bevor er ankommt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Ivo Andrić erzählt in Die Brücke über die Drina die Geschichte der Stadt Višegrad, die seit dem 16. Jahrhundert untrennbar mit der Geschichte der Brücke verbunden ist. In 24 Kapiteln entfaltet der Autor ver­schiedene Episoden aus rund 400 Jahren, wobei der Schwerpunkt klar auf der Zeitspanne zwischen der vorletzten Jahrhun­der­twende und 1914 liegt. Aus­gangspunkt für die ver­schiede­nen Erzählungen sind meist in der Gegend bekannte Legenden, deren Ursprung der Autor offenlegt. In drastischen Bildern führt er vor, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind, wie sie sich gegenseitig mit ihrem Hass anstecken und die Gesetze der Moral verwerfen, aber auch, wie selbst in dieser von Konflikten zerrissenen Gegend Gesten der Men­schlichkeit und Versöhnung möglich sind. Etliche der zahlreichen Figuren bleiben dem Leser in Erinnerung. Die Brücke über die Drina ist, wie der Untertitel schon ankündigt, eher eine Chronik als ein Roman im eigentlichen Sinn: Es gibt weder eine Hauptfigur noch eine kon­tinuier­liche Entwicklung von Charakteren. Die Kontinuität wird jedoch durch die eigentliche Heldin des Werks, die Brücke, geschaffen: Sie verbindet die schillern­den Persönlichkeiten und bewegenden Geschichten aus vier Jahrhun­derten.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Im Mittelpunkt des Romans steht der Versuch, die jahrhun­derteal­ten Spannungen zwischen Ost und West, zwischen Orient und Okzident, zwischen Christentum und Islam, greifbar zu machen. Die Brücke sym­bol­isiert das Verbindende zwischen diesen Kulturen – bis sich am Ende mit ihrer Zerstörung das Trennende durchsetzt.
  • Andrić gibt dem Leser eine Deu­tung­shilfe für die noch immer andauernden Konflikte auf dem Balkan an die Hand und erklärt, wie es zu diesem instabilen Gefüge kam, zu diesem, wie es im Roman heißt, „großen und seltsamen Kampf, der in Bosnien jahrhun­derte­lang zwischen beiden Religionen und, unter dem Deckmantel der Religion, um das Land, die Macht und die eigene Leben­sauf­fas­sung und Weltordnung geführt wurde“.
  • Die Sympathien des Autors gehören der ori­en­tal­isch geprägten Lebensart, dem Laisser-faire der alten Zeiten, denen die bürokratische Pedanterie und der Ar­beit­seifer der westlichen Besatzer gegenübergestellt werden. Die meisten durch die öster­re­ichis­che Besatzung angestoßenen Veränderungen werden aus der Sicht des mus­lim­is­chen Kaufmanns Alihodža beschrieben.
  • Statt aber die ori­en­tal­is­che oder die öster­re­ichis­che Phase zu verklären oder zu verdammen, stellt Andrić Vor- und Nachteile beider „Besatzer“ einander gegenüber. Dabei zeigt er sich immer als Befürworter einer mul­ti­eth­nis­chen Staatslösung, ar­gu­men­tiert also bereits mit Hinblick auf den ju­goslaw­is­chen Staat, in dem er selbst lebte.
  • Die Chronik beruht auf his­torischen Tatsachen, die der Autor aber mehr oder weniger frei gestaltet. Vor allem im ersten Teil des Buches, der die Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert umfasst, bilden häufig lokale Legenden und märchenhafte Erzählungen die Grundlage für seine Berichte, so etwa das Kindermärchen vom schwarzen Mann in der Brücke. Dieser entpuppt sich als Arbeiter afrikanis­cher Herkunft, der beim Bau der Brücke umgekommen ist. Immer wieder geht es im Roman um die Entstehung von Legenden und um die Frage: Wie verarbeiten die Menschen Erlebnisse und wie gehen diese ins kollektive Gedächtnis über?

His­torischer Hintergrund

Bosnien und Herzegowina 1463–1914

Bosnien-Herze­gow­ina befindet sich auf der Westseite der Balkan­hal­binsel und grenzt an die Nach­barstaaten Kroatien, Serbien und Montenegro. Die ursprünglich slawisch besiedelte Region wurde 1463 vom Osmanischen Reich erobert und stand als eine seiner wichtigsten Provinzen bis ins späte 19. Jahrhundert unter seiner Aufsicht. Indem Moslems angesiedelt und Übertritte zum Islam gefördert wurden, stieg der Anteil der mus­lim­is­chen Bürger rasant. Dennoch blieb etwa die Hälfte der Bewohner ser­bisch-or­tho­dox. Daneben lebten immer auch katholische und jüdische Min­der­heiten in dem Gebiet. Die Möglichkeit von Auf­stiegschan­cen am Hof und in der Verwaltung des Sultans beförderte die Verbreitung der ori­en­tal­is­chen Kultur.

Nachdem Österreich bereits mehrfach vergeblich versucht hatte, die Gegend zu erobern, bekam das Kaiserreich schließlich Ende des 19. Jahrhun­derts seine Chance: Der Niedergang des Osmanischen Reiches und seine Schwächung durch mehrere Aufstände der bosnischen Serben ermöglichten es, das Land zu besetzen und den Widerstand mus­lim­is­cher Partisanen zu zerschlagen. Auf dem Berliner Kongress 1878 wurden Bosnien und Herzegowina zusammen mit anderen Gebieten der Herrschaft des öster­re­ich-un­garischen Kaiser­re­ichs unterstellt. Das Schulwesen wurde ausgebaut, neue Verkehr­swege wurden geschaffen und die medi­zinis­che Versorgung wurde verbessert. Die Bodenschätze und die Wälder der Region wurden gewinnbrin­gend genutzt. Es gab zwar in Bosnien immer wieder Be­stre­bun­gen, einen eigenständigen Staat aufzubauen, diesen Plänen fehlte jedoch der Rückhalt in der äußerst heterogenen Bevölkerung.

Der militante Nationalist Gavrilo Princip erschoss 1914 in Sarajevo den öster­re­ichisch-un­garischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau Sophie: Dieses Attentat gilt heute als Auslöser des Ersten Weltkriegs. Nach dessen Ende wurden Bosnien und Herzegowina dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dem späteren Jugoslawien, einverleibt.

Entstehung

Ivo Andrić schrieb Die Brücke über die Drina während des Zweiten Weltkriegs, in den Jahren nach dem Einmarsch der Deutschen in Jugoslawien. Er legte das Werk zusammen mit zwei weiteren, der Chronik Wesire und Konsuln und dem Roman Das Fräulein, kurz nach der Gründung des ju­goslaw­is­chen Staates 1945 vor.

Seine In­for­ma­tio­nen fand Andrić in uralten Aufze­ich­nun­gen, Kirchenbüchern und osmanischen Ver­wal­tungsak­ten, die er z. T. schon für seine Dis­ser­ta­tion im Jahr 1924 studiert hatte. Für den zweiten Teil des Buches, der die Jahrhun­der­twende und die Zeit bis 1914 umfasst, konnte er sich zweifel­sohne auf genauere Daten stützen, die seiner Aus­gestal­tung engere Grenzen setzten.

Wirkungs­geschichte

Die Brücke über die Drina ist Andrićs wohl bekan­ntestes Werk. Es erfüllt seinen lebenslan­gen Anspruch, sowohl die Un­ter­schiede der Balkanvölker her­auszustellen, als auch ihre Versöhnung zu fördern, am eindrücklichsten. Andrić wurde für sein Werk in Jugoslawien mehrfach geehrt und zählt heute zu den bekan­ntesten Autoren der Region. Die neuere Forschung sieht das Bild der Türken in Andrićs Werken, ins­beson­dere vor dem Hintergrund abfälliger Äußerungen in seiner Dis­ser­ta­tion, kritisch. Eine endgültige Klärung steht noch aus. Man mag ar­gu­men­tieren, dass Andrić zumindest in Die Brücke über die Drina die versöhnlichen Töne überwiegen lässt.

1961 wurde der Autor für sein Werk mit dem Lit­er­aturnobel­preis aus­geze­ich­net. Die Drinabrücke, die 1940 repariert wurde, steht seit 2007 auf der Un­esco-Weltkul­turerbe-Liste. Die bisher schlimmste Eskalation der Gewalt auf dem Balkan, den Bosnienkrieg 1992–1995, musste der Autor selbst nicht mehr miterleben.

Der Film­regis­seur Emir Kusturica setzte Ivo Andrić mit seinem Kun­st­pro­jekt in der Nähe von Višegrad, dem Nachbau einer mit­te­lal­ter­lichen serbischen Stadt mit dem Namen Andrićgrad, ein um­strittenes Denkmal. In einem Interview sagte er: „Den Balkan kann man heute ohne Andrić nicht begreifen. Andrić ist jemand, der die Geschichte und den philosophis­chen Kontext des Balkans nicht in ein Trugbild verzerrt.“

Über den Autor

Ivo Andrić wird am 9. Oktober 1892 in Travnik in eine katholische Handw­erk­er­fam­i­lie geboren und wächst in der bosnischen Stadt Višegrad auf. Später zieht er nach Belgrad, seinerzeit Hauptstadt des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Andrić sieht sich selbst als Wanderer zwischen den Völkern. Für seine na­tional-rev­o­lu­tionären Be­stre­bun­gen wird er während des Ersten Weltkriegs inhaftiert. Dann studiert er Philosophie, Slawistik und Geschichte in Zagreb, Wien, Graz und Krakau, um später in den Dienst des ju­goslaw­is­chen Staates zu treten. Ab 1920 ist er 21 Jahre lang als Berufs­diplo­mat u. a. in Bukarest, Paris, Brüssel und Genf tätig. 1924 promoviert er in Graz mit einer Dis­ser­ta­tion unter dem Titel Die Entwicklung des geistigen Lebens ins Bosnien unter der Einwirkung der türkischen Herrschaft. 1939 geht er als ju­goslaw­is­cher Gesandter nach Berlin, also in die Hauptstadt des Landes, das gerade den Einmarsch in seiner Heimat plant. Als es so weit ist, am 6. April 1941, kehrt Andrić nach Belgrad zurück, zieht sich zurück und beginnt zu schreiben. In dieser für sein Land so schreck­lichen Phase hat er seine frucht­barste Zeit als Schrift­steller: Die Brücke über die Drina, Wesire und Konsuln und Das Fräulein entstehen in der Zeit bis zur Gründung der Volkre­pub­lik Jugoslawien unter Josip Broz Tito im Jahr 1945. Am Par­ti­sa­nenkampf gegen die Deutschen ist er nicht beteiligt und in seiner Überzeugung auch kein Sozialist, doch er dient dem neuen Staat genauso wie dem alten Königreich. Andrić wird Präsident des ju­goslaw­is­chen Schrift­stellerver­ban­des und Ab­ge­ord­neter des Parlaments. 1961 wird er mit dem Nobelpreis für Literatur aus­geze­ich­net. Er stirbt am 13. März 1975 in Belgrad.