Eine neue Leseidee
Fachliteratur und Schriftstücke so schnell lesen, wie Sie mit der Hand über eine Seite wischen – wie viel Zeit würde das einsparen und wie viel mehr Spass könnte es machen, wenn man die gesuchten Informationen auf Anhieb fände! Den Weg dahin weist eine neue Leseidee, das Flächenlesen. Also wieder etwas, das Sie erst mal „richtig“ verstehen und dann einüben müssen? Keineswegs! Stellen Sie sich ein Mobile vor: Nimmt man ein Stück heraus, hängt das Ganze schief. Es handelt sich um ein System aus verschiedenen, aufeinander bezogenen Elementen.
„Auf dem Hintergrund der globalen Zunahme des ‚Rohstoffs’ Wissen wird dabei die Kulturtechnik des Lesens im 21. Jahrhundert eine grössere Rolle als je spielen.“
Flächenlesen lässt sich damit vergleichen – mit einem Unterschied: Sie müssen nicht alle Teile des Systems übernehmen. Für jeden Lernbaustein gibt es gleichwertige Alternativen, die sich kombinieren und zu einem Netzwerk verknüpfen lassen. Es geht nicht darum, Sie zu „trainieren“ oder dogmatische Massstäbe aufzustellen, sondern Sie dazu anzuregen, die schlummernden Ressourcen Ihres Gehirns effektiv auszuschöpfen. Die vorgestellten Techniken haben daher eines gemeinsam: Sie sind allesamt gehirngerecht.
Trauen Sie Ihren Augen!
Wir alle folgen dem Leseprinzip, das wir in der Schule gelernt haben: Wir wollen einen Text Satz für Satz „verstehen“. Wir sind darauf getrimmt, Inhalte und Bedeutungen Wort für Wort nachzuvollziehen, sie uns „bewusst“ zu machen. Natürlich hat diese Lesart ihre Berechtigung, z. B. wenn Sie sich an der schönen Sprache eines Romans erfreuen oder eine Gebrauchsanweisung entschlüsseln wollen. Doch gibt es nicht viele Texte und noch mehr Situationen, in denen es nicht auf jedes Wort ankommt?
„Flächenlesen besteht nicht aus einer exklusiven Methode. Es ist vielmehr ein System aus mehreren Komponenten.“
Reduziert man einen Text auf seine Kernpunkte, bleiben im Durchschnitt nur 20 % des Textvolumens übrig. Mit der traditionellen Lesart bremsen Sie sich selbst, indem Sie jedes Wort sofort bewusst aufnehmen möchten, während Ihre Augen – nur auf Licht angewiesen – optische Zusammenhänge so schnell erfassen, wie Sie über eine Seite wischen. Für Ihre Augen ist eine Textseite nichts anderes als eine Fläche, ein Buchstabengemälde, und Ihre Nervenbahnen geben die Informationen (fast) mit Lichtgeschwindigkeit an Ihr Gehirn weiter – auch wenn Sie nichts „bewusst“ aufgenommen haben (oder das zumindest glauben).
Mentale Vorbereitung
Im täglichen Leben steigert positiver Stress Ihre Fähigkeit, schnell und adäquat zu reagieren. Doch um sich die Methoden des Flächenlesens anzueignen, bedarf es einer anderen geistigen Haltung. Was Sie hierfür benötigen, sind innere Ausgeglichenheit und Entspannung. Neurologen sprechen vom so genannten Alpha-Zustand, in dem Ihr Gehirn besonders aufnahmebereit ist. Auch wenn Sie wenig Zeit haben, sparen Sie bitte nicht an der mentalen Vorbereitung, um sich in den Alpha-Zustand zu versetzen, sonst könnte Ihr Gehirn darauf mit Arbeitsverweigerung oder -einschränkung reagieren. Es gibt unterschiedliche Strategien, um diesen aufnahmebereiten Zustand zu erreichen. Der eine entspannt sich mit einer bestimmten Musik, der andere bevorzugt autogenes Training oder Fantasiereisen. Grundsätzlich gilt, dass für Sie das Beste ist, womit Sie sich am besten fühlen, ob das nun ein Fünf-Minuten-Schlummer, ein Spaziergang um den Häuserblock, eine bestimmte musikalische Untermalung oder besondere Geräusche und Gerüche sind.
„Es ist für Ihren künftigen Leseerfolg nicht notwendig, dass Sie sich das angebotene Paket als Ganzes aneignen.“
Berücksichtigen Sie Funktionsweise und Biologie Ihres Gehirns. Ihr Computer arbeitet ja auch am besten, wenn Sie sich an die Regeln halten. Wer sich an eine innovative Lesestrategie wie das Flächenlesen gewöhnen möchte, sollte seinen Augen so wenig Ablenkung wie möglich zumuten. Schaffen Sie Freiraum auf Ihrem Schreibtisch. Erlauben Sie sich eine bequeme Sitzposition. Frischluft fördert den Sauerstoffgehalt in Ihrem Blut, viel Flüssigkeit, z. B. Mineralwasser, macht Sie fit – Ihr Gehirn wird es Ihnen danken.
Verschaffen Sie sich Überblick
Oft wollen wir, wenn wir z. B. zu einem Handbuch oder einem Fachtext greifen, kein vollständiges Bild der Gedanken des Autors. Uns interessieren ganz spezielle Aspekte, zu denen er uns Auskunft geben soll. Mit anderen Worten, wir gehen meistens schon mit einer bestimmten Zielvorstellung an den Text heran. Die zielorientierte Fragestellung ist eine wichtige Voraussetzung für effizientes Lesen – wir müssen nur den Mut haben, sie lesetechnisch umzusetzen!
„Die Methoden des Flächenlesens erfordern, dass Sie sich in einen entspannten und aufnahmebereiten Zustand bringen.“
Legen Sie Ihre Leseabsicht fest! Fragen Sie: Was will ich aus diesem Text erfahren? Was ist jetzt, in diesem Augenblick für mich wichtig? Auf diese Weise bestimmen Sie die Kriterien, nach denen Ihr Gehirn bestimmte Informationen auswählt. Details können Sie später immer noch herausarbeiten. Orientieren Sie sich zunächst über den Rohbau des Gedankengebäudes. Nutzen Sie die Hilfestellungen, die die Oberflächengestaltung des Textes bietet: Klappentext, Inhaltsverzeichnis, Vor- und Nachwort, graphische Hervorhebungen, Kapitelüberschriften und fett gedruckte Schlüsselwörter enthalten wichtige Hinweise, denen Sie später nachgehen können.
Lesen Sie mit allen Sinnen
Sicher kennen Sie das: Wenn Sie sich an den Geruch in Ihrem Klassenzimmer erinnern, hören Sie bald auch wieder die Stimmen der Mitschüler und Lehrer. Sie erinnern sich an gewisse Lernsituationen! Die Überzeugung, Lesen sei eine rein visuelle Angelegenheit, ist zwar weit verbreitet, aber nicht die ganze Wahrheit. In Wirklichkeit verbinden wir mit einem Leseerlebnis auch andere Sinneseindrücke. Das Gehirn arbeitet immer als Ganzes. Versuche haben ergeben, dass Erwachsene sich besser an einen Text erinnern, indem sie sich z. B. Geruch und Papierstruktur des Schriftstücks vergegenwärtigen. Oft helfen auch Assoziationen zu Gerüchen und Geräuschen, die einem eine Lesesituation wieder ins Gedächtnis rufen.
„Erstellen Sie eine Gedankenlandkarte bzw. eine Mindmap. Mindmapping ist ein elegantes Verfahren, mit dem Sie Informationen kurz, knapp und präzise auf den Punkt bringen können.“
Wir bedienen uns während des Leseprozesses immer mehrerer Sinneskanäle. Unser Gehirn ist so strukturiert, dass es die Wahrnehmungen aus allen Sinneskanälen miteinander verknüpft. Daher gibt es eine Vielzahl von „Zugängen“ zu bestimmten Informationen. Indem Sie Ihre Sinneseindrücke von vorneherein in Ihren Leseprozess einbeziehen, verbessern Sie Ihre Gedächtnisleistung. Auch Texte, die Sie nur „überflogen“ haben, können Sie auf diese Weise später leicht abrufen.
Ihr Gehirn ist kein Computer – es ist besser!
Bevor Sie sich auf die ersten Techniken des Flächenlesens einlassen, sollten Sie einen Moment lang versuchen, sich einmal folgende Daten bewusst zu machen. Stellen Sie sich nicht einen Computer, sondern mehrere Netzwerke aus einer Vielzahl von Computern vor, die alle parallel und gleichzeitig arbeiten. Sie verfügen über 14 Milliarden Gehirnzellen mit 100 Milliarden Verknüpfungen – so viele, dass es bis heute nicht gelungen ist, die „Rechenleistung“ des menschlichen Gehirns elektronisch zu simulieren. Zwar ist das Gehirn in Bereiche für Hören, Sehen, Tasten, Schmecken, Riechen und Bewegung aufgeteilt, aber diese Bereiche kommunizieren im Augenblick der Informationsaufnahme miteinander. Je mehr Verknüpfungen hergestellt werden, desto genauer und sicherer wird eine Information gespeichert und desto leichter wird sie verarbeitet.
Finden Sie Ihren Blickrhythmus
Die Methoden, die Ihnen vorgestellt werden, stellen unterschiedliche Zugänge zum Schnell-Lesen dar. Sie können die für Sie oder für einen entsprechenden Text geeignete auswählen oder mehrere Techniken kombinieren. Das Drei-Punkte-Lesen können Sie ausprobieren, indem Sie Ihre Augen eine Buchseite rhythmisch abwandern lassen. Fixieren Sie auf jeder Zeile nicht mehr als drei Punkte. (Für den Test können Sie sich diese Punkte mit drei parallelen Bleistiftlinien markieren, damit Ihre Augen sich leichter auf den Rhythmus einstellen.) Lassen Sie Ihre Augen ganz entspannt die Zeilen passieren und lassen Sie alles ausser den drei Stationen pro Zeile ausser Acht. Wiederholen Sie diese neuartige Leseerfahrung. Lassen Sie sich nicht davon irritieren, dass Sie zunächst nicht viel Information „mitbekommen“.
„Gedankenlandkarten entsprechen der Arbeitsweise des Gehirns, sie bilden Ideenwelten als Netzwerk mit Haupt- und Querverbindungen ab, die Farben und Symbole sind für das Gehirn eine Freude. Sie machen es also Ihrem Gehirn leicht – es wird Ihre Pflege mit guter Arbeit belohnen.“
Experimentieren Sie mit dieser Sehtechnik und finden Sie den Rhythmus, in dem Ihre Augen ganz entspannt sind. In Schnell-Lese-Seminaren kam es häufig zu Rückmeldungen, dass die Teilnehmer allmählich vom Drei-Punkte- zum Zwei-Punkte- und schliesslich zum Ein-Punkt-Rhythmus übergingen, weil es „für die Augen angenehmer“ empfunden wurde. Die Kernwörter jeder Zeile wurden automatisch erfasst, obwohl die Teilnehmer ihren Blick nicht krampfhaft auf einzelne Wörter fokussierten!
Werden Sie ein Überflieger
Ein nächster Schritt ist das so genannte Sprunglesen, bei dem Sie nur noch die jeweils ersten Sätze von jedem Absatz lesen. Jeder Absatz ist ein gedanklicher Neuansatz, der in den kommenden Sätzen nur noch entfaltet wird. Ihr Gehirn wird das Nötige ergänzen oder Sie darüber informieren, dass Sie noch weitere Sätze lesen sollten. Schon mit dieser Technik erreichen Sie eine erhebliche Steigerung Ihrer Leseökonomie. So vorbereitet sind Sie jetzt ausreichend „präpariert“, um es mit dem Fingerlesen zu versuchen. Dafür legen Sie den Zeigefinger in die Mitte eines Textes und fahren die Zeilen langsam von oben nach unten ab. Sehen Sie dabei nur auf Ihren Fingernagel oder auf eine Stelle knapp oberhalb davon, nicht auf einzelne Wörter oder Buchstaben. Nachdem Sie das mehrmals ausprobiert haben, werden Sie feststellen, dass Ihr Blick etwas „verschwimmt“. An die Stelle der leicht verminderten Sehschärfe tritt nun eine Weitung ihrer Blickspanne. Sie nehmen „aus dem Augenwinkel“ mehr Wörter auf als mit herkömmlich „scharf gestellten“ Augen. Wichtig ist nur, dass Sie Ihren Blick möglichst entspannt auf Höhe Ihres Fingernagels ruhen – wirklich ruhen! – lassen. Alles Weitere ergibt sich nach einiger Zeit von selbst.
Geniessen Sie den weichen Blick
Obwohl Sie nicht genau hinsehen, sehen Sie also mehr. Dieses Phänomen kennen Sie vielleicht von den so genannten 3-D-Bildern, die im Buchhandel erhältlich sind. Den scharf eingestellten Augen bietet sich zuerst nur ein Wirrwarr von Strukturen dar. Erst wenn der Blick nicht mehr auf einzelne Linien und Formen fixiert ist, sondern absichtslos über die Fläche wandert, tritt der 3-D-Effekt ein. Das völlig entspannte Auge nimmt die zweidimensionale Fläche plötzlich räumlich wahr. Wenn Sie das schon einmal ausprobiert haben (wenn nicht, finden Sie im vorliegenden Buch ein Beispiel), werden Sie merken, dass mit dem 3-D-Effekt ein äusserst angenehmes Gefühl verbunden ist. Ihr Gehirn schüttet beim defokussierten Sehen Glückshormone aus, die wiederum Ihrer Aufnahmebereitschaft zugute kommen. Sie befinden sich in einem Zustand, der mit einer „Minitrance“ vergleichbar ist – nur dass Sie ganz wach und klar sind.
Im Transrapid der Lesetechnik
Von heute auf morgen erreicht man die Geschwindigkeit des Seitenlesens und des Flächenlesens sicher nicht. Doch wer einmal die Erfahrung gemacht hat, dass man die Informationen eines Textes in einer Art aufnahmebereiter „Minitrance“ wahrnehmen kann, wird es mit zunehmender Anwendung der verschiedenen Techniken nach und nach zu einer Schnelligkeit bringen, die anfangs noch utopisch anmutet.
„Sie werden packender und lebendiger reden, denn Sie ‚kleben’ nicht mehr an den Worten und Zeilen, die Sie von einem Manuskript ablesen. Ihr Gehirn liefert Ihnen entsprechend der Struktur seines Netzwerkes und der Struktur Ihrer Gedankenlandkarte die Einzelheiten im passenden Augenblick.“
Natürlich muss Ihr Gehirn sich allmählich an die neue Seh- und Leseweise gewöhnen. Setzen Sie es nicht unter Druck! Bedienen Sie sich der Flächenlese-Formeln, z. B.: „Das geht schon gut.“ Oder: „Das gönn ich mir!“ Finden Sie Ihre eigenen konstruktiven Suggestionen. Bestärken Sie sich in diesem geistigen Abenteuer, kosten Sie schon die Vorfreude darauf aus, nie wieder „wie vernagelt“ auf einen Text starren oder jede Zeile zigmal lesen zu müssen. Werden Sie Ihr eigener Coach. Machen Sie sich auf den Weg zum Flächendenker!