Bürgerschaftliches Engagement als Querschnittsaufgabe
Der 2002 erschienene Bericht der Enquetekommission des Deutschen Bundestags, Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements, ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einer Bürgergesellschaft in Deutschland. Die Enquetekommission schlägt vor, die Gesellschaft und ihre Institutionen durch bürgerschaftliches Engagement umfassend zu reformieren. Sie spricht sich gegen ein isoliertes Ressortdenken aus, das sich auf verbesserte Rahmenbedingungen für das Ehrenamt beschränkt. Stattdessen fordert sie ein ganzheitliches Vorgehen – eine „Engagementpolitik“ für die Bürgergesellschaft als neues Politikfeld und strategisches Leitbild.
„Gesellschaftliches Engagement gilt als ,Kitt‘ der Gesellschaft.“
Ein schneller Durchbruch wurde seitdem zwar nicht erreicht, aber Deutschland bewegt sich langsam in die gewünschte Richtung. Die Arbeit der Enquetekommission wurde vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE, gegründet 2002) aufgenommen. Außerdem findet sie ihren Niederschlag in der Regierungspolitik und den Programmen der Bundestagsparteien und wird auf Landes- und vor allem auf kommunaler Ebene umgesetzt. Im Frühjahr 2009 wurde von der Bundesregierung das Nationale Forum für Engagement und Partizipation einberufen, das kurz darauf einen ersten Zwischenbericht mit über 100 Handlungsvorschlägen vorlegte. Auf dieser Basis beschloss die Bundesregierung im Sommer 2009 Eckpunkte einer nationalen Engagementstrategie. Das Nationale Forum soll – koordiniert vom BBE – die Regierung zur Weiterentwicklung der Engagementpolitik beraten.
„Eine Politik zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements lässt sich nicht auf ein spezifisches politisches Ressort beschränken, sondern ist eine Querschnittsaufgabe.“
In den letzten Jahren wurden vor allem Erfolge bei konkreten Maßnahmen erzielt, z. B. bei Freiwilligendiensten oder Mediationsverfahren. Zahlreiche neue Institutionen fördern und koordinieren das Bürgerengagement. Weiterhin fehlt jedoch ein „neuer Gesellschaftsvertrag“, der die Verantwortung zwischen Staat, Bürgern und Wirtschaft neu verteilt. Solange es diesen nicht gibt, werden mit Bürgerengagement eher die Lücken gestopft, die der zunehmend unterfinanzierte Sozialstaat aufreißt.
„Engagementförderung ist kein technokratischer Vorgang, der sich mit standardisierten Instrumenten durchführen lässt.“
Es fehlt auch eine allgemein anerkannte Definition von Bürgerengagement. Einigkeit besteht allein darüber, dass man von Bürgerengagement nur dann spricht, wenn Tätigkeiten freiwillig, unentgeltlich und tendenziell gemeinwohlorientiert erbracht werden.
Rechtliche Aspekte des Bürgerengagements
Bürgerengagement hat verschiedene juristische Dimensionen:
- Engagierte Personen benötigen Schutz bei Unfällen oder eigener Fahrlässigkeit, und sie können eine – steuerfreie oder steuerbegünstigte – Aufwandsentschädigung als Nachteilausgleich für ihre eigenen Aufwendungen erwarten.
- Trägerorganisationen wollen engagierten Bürgern Anreize bieten, gegen (Haftungs-)Risiken abgesichert sein und öffentliche Zuwendungen erhalten.
- Privatrechtliche Konkurrenten von Trägerorganisationen erwarten faire Wettbewerbsbedingungen.
- Geschädigte wollen vor Risiken geschützt werden, die im Rahmen von Bürgerengagement entstehen, etwa wenn Ehrenamtliche fahrlässig handeln.
- Spender möchten Steuervorteile durch möglichst umfassenden Spendenabzug genießen.
„Wir haben weniger ein Theoriedefizit als vielmehr ein Umsetzungsdefizit.“
Erst in den letzten Jahren hat man damit begonnen, die rechtlichen Belange von bürgerschaftlichem Engagement gesetzlich zu regeln – auch das eine Folge des Berichts der Enquetekommission. Dieser Prozess ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen. So wurden zwar bestimmte ehrenamtliche Tätigkeiten unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestellt, aber dieser Schutz umfasst eben nicht alles – vor allem nicht die häusliche Pflege von Angehörigen. Gegen diese Ungleichbehandlung gibt es verfassungsrechtliche Bedenken.
„Die Strahlkraft der Bürgergesellschaft als Leitlinie für eine entsprechende Regierungspolitik ist bislang blass geblieben.“
Für ehrenamtliche Tätigkeiten gibt es Haftpflichtversicherungen, aber deren Abschluss ist freiwillig und angesichts der Finanzlage gemeinnütziger Träger nicht sehr verbreitet. Steuerliche Anreize wurden durch die höhere Abzugsfähigkeit von Spenden und durch einen höheren Freibetrag für so genannte Übungsleiterpauschalen gesetzt. Unter dem Schutz des Gesetzes steht das Bürgerengagement in der Pflege von Angehörigen. Die Pflegeversicherung zahlt nach den Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs vorrangig für ehrenamtliche Pflege und erst in zweiter Linie für professionelle Unterstützung und Unterbringung. Pflegende, die unentgeltlich mindestens 14 Wochenstunden erbringen, sind gesetzlich unfall- und rentenversichert. Die Beiträge werden von den Kommunen (Unfallversicherung) und von der Pflegeversicherung (Rente) entrichtet.
„Die verlässliche Finanzierung Engagement fördernder Infrastrukturen auf lokaler und überlokaler Ebene ist und bleibt ein Dauerproblem von Engagementpolitik.“
Die rechtliche Regelung des Bürgerengagements hat seit dem Jahr 2002 erhebliche Fortschritte gemacht. Angesichts der breiten gesellschaftlichen Zustimmung zur Förderung des Bürgerengagements kann man optimistisch davon ausgehen, dass die noch bestehenden Lücken in den nächsten Jahren geschlossen werden.
Engagementförderung in den Kommunen
Kaum jemand nimmt eine weite Anreise für ein Ehrenamt auf sich. Daher findet Bürgerengagement vor allem lokal, in den Kommunen, statt. Bund und Länder beschränken sich in der Regel darauf, den rechtlich-organisatorischen Rahmen weiterzuentwickeln oder die ehrenamtliche Betätigung finanziell zu fördern. Zuschüsse gibt es überwiegend für die Infrastruktur und eher selten für die Betriebskosten.
„Die Umwelt, in der Bürgerengagement stattfindet, ist keineswegs rechtsfrei.“
Auf örtlicher Ebene wurden in den letzten 15 Jahren zahlreiche Kontaktstellen und Freiwilligenagenturen eingerichtet. Großstädte finanzieren Engagement fördernde Einrichtungen eher in externer Trägerschaft, kleine Städte und Kreise richten Anlaufstellen zur Organisation, Vermittlung und Vernetzung in ihren Verwaltungen ein. Doch immer noch sehen zahlreiche Kommunen keine finanziellen Spielräume zur Engagementförderung oder beurteilen diese Einrichtungen grundsätzlich skeptisch.
„Bislang hinkt das Recht den Phänomenen des Bürgerengagements hinterher, versteht sich allenfalls als Kulturfolger, aber nicht als Kulturvorbereiter.“
In etlichen Fällen hat die Förderung durch den Bund zu Konkurrenzsituationen der Träger vor Ort oder zu Mitnahmeeffekten bei ohnehin vorhandenen Einrichtungen geführt. Den meisten Einrichtungen fehlt eine nachhaltige finanzielle Perspektive über die Bundesförderung hinaus, die z. B. bei Mehrgenerationenhäusern auf fünf Jahre begrenzt ist. In zahlreichen Städten droht ein Nebeneinander von – oft unterfinanzierten – Einrichtungen. Künftig müssen Engagement fördernde Einrichtungen untereinander stärker kooperieren und dabei Räumlichkeiten und Ausrüstung gemeinsam nutzen.
Das Leitbild der Bürgerkommune
Zum Bürgerengagement gehört nicht nur das Ehrenamt in Vereinen und Kirchengemeinden, sondern auch die Mitgestaltung demokratischer Entscheidungsprozesse. Die repräsentative, parlamentarische Demokratie in Deutschland wurde seit Beginn der 90er Jahre um direktdemokratische und kooperative Elemente ergänzt, vor allem auf der kommunalen Ebene. Direkt gewählte Bürgermeister, Bürgerbegehren und Bürgerentscheide gibt es inzwischen in allen Ländern. Hinzu kommen örtlich gestaltete Beteiligungsverfahren in Bürgerforen oder an runden Tischen, die die Entscheidungen der gewählten Kommunalpolitiker im Stadtrat vorbereiten und ergänzen. Diese Verfahren müssen stets so gestaltet werden, dass die Bürger nicht nur einmalig teilnehmen, sondern – bevorzugt durch Erfolgserlebnisse – weitermachen möchten. Dafür ist es besonders wichtig, dass möglichst große Teile der Bürgervorschläge in die Beschlussfassung des Rates einfließen, auch wenn dieser in seiner Entscheidung autonom ist.
„Die Tendenz, Bürgerbeteiligung und Bürgerengagement zu fördern, ist nicht in allen Gemeinden vorhanden, sondern es gibt auch gegenläufige Entwicklungen.“
Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung gelten in Deutschland vor allem als Konzept zur Verwaltungsmodernisierung. Das Neue Steuerungsmodell (NSM) – wichtigstes Reformkonzept der 90er Jahre – beschränkte sich überwiegend auf Effektivität und Wirtschaftlichkeit des Verwaltungshandelns, also auf die Binnenmodernisierung. Das Leitbild der Bürgerkommune setzte bei der Kritik an dieser Selbstbeschränkung an und ergänzte das NSM um eine Außenperspektive, die die Wünsche und Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger einbezieht und ihnen mehr Mitspracherechte gibt.
„Im Kern geht es bei der Bürgerkommune darum, das freiwillige Engagement zu fördern und die Bürger stärker an kommunalen Planungsprozessen zu beteiligen. Damit zielt die Bürgerkommune auch auf eine Neugestaltung des Kräftedreiecks zwischen Bürgern, Kommunalvertretung und Verwaltung.“
Mit der Bürgerkommune wird das Machtverhältnis zwischen Bürgern, Politik und Verwaltung neu justiert. Doch warum kam – nach jahrzehntelanger Dominanz des alten Bürokratiemodells – plötzlich die Bürgerkommune in Mode? Vermutlich entscheiden auch bei dieser Reform das Engagement und die Beteiligung des Chefs über Erfolg und Misserfolg. Und die Chefposition haben in deutschen Kommunen seit etwa zehn Jahren vom Volk gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister inne. Diese finden Bürgernähe, Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie wichtig – vielleicht sogar wichtiger als die angestammten Entscheidungsrechte politisch besetzter Stadträte.
„Wenn die Handlungsspielräume kleiner werden, dann wird Kommunalpolitik immer weniger bereit sein, die wenigen verbleibenden Spielräume mit den Bürgern zu teilen.“
Angesichts dieser Entwicklung ist es überraschend, dass sich in Umfragen nur gut die Hälfte der Städte und Gemeinden als Bürgerkommune bezeichnet oder eine solche werden will. Das hat mit den Widerständen der Verwaltungsmitarbeiter und Kommunalpolitiker gegen eine Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Bürger zu tun. Verwaltungsmitarbeiter befürchten Personalabbau, und Politiker wollen ihre angestammten Entscheidungsrechte nicht aufgeben. Beide Gruppen sehen sich insofern bestätigt, als die Erfolge der Bürgerbeteiligung – gemessen z. B. an Effizienzgewinnen oder schnelleren Entscheidungsprozessen – hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind. In Bürgerforen organisieren sich häufig nicht die Benachteiligten, sondern Menschen, die ohnehin engagiert und durchsetzungsfähig sind. Klientelpolitik und längere Planungsprozesse sind dann die Folge.
Engagement und Gesellschaft
Für Konservative ist Bürgerengagement eine Ergänzung zu den bestehenden politischen und gesellschaftlichen Strukturen: Vereine und Ehrenamtliche sollen den Staat entlasten. Politisch links Stehende versprechen sich vom Bürgerengagement hingegen eine Stärkung der Demokratie. Sie wünschen sich die Bürger als Auftraggeber, Mitgestalter und Koproduzenten öffentlicher Leistungen. Die Realität bleibt jedoch häufig hinter dieser Wunschvorstellung zurück.
„Die Terraingewinne des gesellschaftlichen Engagements sind bislang eher bescheiden geblieben. Auch wenn sich im politischen Bereich wohl niemand offen gegen bürgerschaftliches Engagement ausspricht, droht die strukturelle Randständigkeit.“
Wo sich nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen engagieren, müssen die Ergebnisse von Beteiligungsprozessen korrigiert werden – ansonsten würde die Ungleichheit weiter steigen. Bei den Bessergestellten beispielsweise ist das Engagement regelmäßig eher gering. Die vielen ehrenamtlich geleisteten Arbeitsstunden, die im Rahmen der Freiwilligensurveys von 1999 und 2004 gezählt wurden, gehen zu einem großen Teil auf die häusliche Pflege von alten oder behinderten Angehörigen und auf die Mitarbeit in Sportvereinen. Männer beteiligen sich vornehmlich bei sachlich-technischen Fragen oder in Gruppen, die Interessenvertretung betreiben. Frauen hingegen engagieren sich vor allem in der Pflege, in der Kinderbetreuung und in sozialen Diensten. Überdurchschnittlich aktiv sind ältere Jahrgänge, unterdurchschnittlich beteiligt sind Jugendliche. Deren Engagement beschränkt sich selten auf einen lokalen Zusammenhang, sondern zielt auf übergeordnete Themen wie die Folgen der Globalisierung oder den Klimaschutz.