Die Abkehr vom Wachstumswahn
Jahrzehntelang fokussierten sich Politiker und Wirtschaftsvertreter auf die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das BIP beschreibt die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes, es erfasst alle getauschten Güter und Dienstleistungen. Doch seit einiger Zeit mehrt sich die Kritik an dieser Wachstumsorientierung. Die Menschen trauen den Selbstheilungskräften des freien Marktes nicht mehr, und die Finanzkrise hat die Abkehr vom BIP-Denken zusätzlich befeuert. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy setzte eine Kommission ein, in der mehrere Nobelpreisträger vertreten sind und die ein anderes Wohlfahrtsmaß schaffen soll. Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ von den deutschen Wirtschaftsweisen ein Indikatorensystem entwickeln, mit dem die Wirtschaftsleistung, die Lebensqualität und die Nachhaltigkeit gemessen werden können. Im Dezember 2010 setzte der Bundestag die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ ein. Ziel dieser Kommission ist es, einen ganzheitlichen Wohlstandsindikator zu entwickeln. Auch der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments geht in diese Richtung und arbeitet an einem „Ökosozialprodukt“ für die Mitgliedsstaaten.
Die Produktion von illusionärem Wachstum
Das Wachstum des BIP diente nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Beleg für die Überlegenheit der westlichen Nationen gegenüber dem Kommunismus. Es entstand die Illusion, alle Probleme seien durch Wachstum zu lösen. Mit Blick auf die Nachhaltigkeit ist das fraglich. Die Expansion der Ökonomie ist nur nachhaltig, wenn wir unsere Bedürfnisse so befriedigen, dass nachkommende Generationen ähnliche Möglichkeiten haben wie wir heute. Es stellt sich die Frage, wie ökologisch tragfähig und sozial gerecht unsere heutige Gesellschaft handelt. Wir unterliegen nämlich drei Illusionen:
- Wachstum zwischen Wunsch und Wirklichkeit: Endloses Wachstum ist unmöglich. Angenommen, wir hätten stetig 4 % Wachstum, dann wäre nach sieben Generationen das 1000-Fache des Anfangsinvestments herangewachsen. In der Realität haben die jährlichen Wachstumsraten z. B. der deutschen Wirtschaft seit den 1950er Jahren leicht, aber kontinuierlich abgenommen. Die absolute Höhe des jährlichen Wachstums blieb im gleichen Zeitraum relativ konstant.
- Umweltzerstörung und soziale Schere: Der Mensch beutet Rohstoffe wie Holz, Erze, Kohle, Öl usw. aus. Diese Ressourcen entnehmen wir quasi kostenlos der Natur. Die Folgen sind gewaltige Abfallströme und die Zerstörung der Umwelt. Zudem nimmt mit dem Wirtschaftswachstum die Ungleichheit der Einkommensverteilung zu – national wie auch international: Mehr als 2 Milliarden Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze.
- Scheinwohlstand der Finanzwelt: Besonders in den USA und in Großbritannien stieg das BIP durch die maßlose private und öffentliche Verschuldung. Dieser Kreditballon war an künstliche Finanzprodukte gekoppelt. Von nachhaltiger Entwicklung keine Spur. Es handelte sich um scheinbaren, auf Schulden gegründeten Wohlstand.
Wachstum als Illusion
Die Wirtschaft kann wachsen, ohne dass es zu einem Wohlfahrtsgewinn kommt – nämlich dann, wenn negative Effekte des Wachstums die Wohlfahrtsgewinne auffressen. Unter Wohlfahrt ist der Wohlstand zu verstehen, der sich aus materiellen und immateriellen Komponenten des Wohlergehens speist. Es kann selbst dann zu einem Wohlfahrtszuwachs für die Bevölkerung kommen, wenn die Wirtschaft nicht wächst. Wirtschaftswachstum allein ist keine Lösung für die heutigen Probleme. Denn meistens wird übersehen, welche Kosten entstehen, wenn die Schäden an der Natur und am Menschen ausgeglichen werden müssen: Es geht um die Beseitigung von Altlasten, um die Reinhaltung von Luft, Böden, Flüssen, Meeren. Mit Blick auf das menschliche Wohlbefinden sind Rehabilitationsmaßnahmen, die Bekämpfung von Alkohol- und Drogenmissbrauch oder die Eindämmung der Wirtschaftskriminalität zu berücksichtigen. Bei der Schaffung des BIP ging es übrigens gar nicht darum, einen Index für die Wohlfahrt einer Nation zu haben. Nur hat die Öffentlichkeit es so betrachtet, während es in den Wirtschaftswissenschaften schon seit längerer Zeit eine differenziertere Betrachtung des BIP gibt.
Alternativen zum BIP – aus internationaler Sicht
Die beiden Amerikaner James Tobin und William Nordhaus entwickelten 1972 das „Maß für ökonomische Wohlfahrt“. Ihre Berechnung nahm das Bruttosozialprodukt (BSP) als Ausgangsbasis. Allerdings unterteilten sie die Verwendungsseite des BSP neu in Konsum, Investitionen und Zwischenprodukte. Das Modell enthält auch „bedauerliche“ Kosten für Verteidigung, Polizei, Gesundheitsdienste oder Straßeninstandsetzung, die für keinerlei Wohlfahrtssteigerung sorgen, aber dennoch nötig sind. Wohlfahrtserhöhend wirkt nach Meinung der Wissenschaftler die Ausstattung der Menschen mit langlebigen Konsumgütern, aber auch der Wert der Freizeit oder der Hausarbeit. Bei der Berechnung ihres neuen Wohlfahrtsmaßstabs stellten Tobin und Nordhaus einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des BSP und ihres Indexes fest. Andere Forscher bezweifelten jedoch diese Schlussfolgerung.
„Nach wie vor ist pures Wachstum, gemessen als Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts, die zentrale Orientierungsgröße von Wirtschaft und Politik, Medien und Öffentlichkeit.“
Im Jahr 1974 schufen japanische Wissenschaftler aufbauend auf der Arbeit von Tobin und Nordhaus einen „Index für die Nettowohlfahrt“. Sie berücksichtigten u. a. die Aufwendungen für Umweltschäden oder Verkehrsunfälle. Auch sie stellten eine Korrelation zwischen dem BSP und ihrem Index fest. Doch auch hier sind Zweifel angebracht, allein schon deshalb, weil die japanische Wirtschaft im Betrachtungszeitraum zwischen 1955 und 1970 stramm wuchs, sodass es zu einer durchschlagenden Wirkung auf die Wohlfahrt kommen musste.
„In der Natur wächst kein Organismus ungebremst; Ökosysteme, wie der Wald oder Korallenriffe, können im Verlauf des Evolutionsprozesses allenfalls ein gewisses Endstadium erreichen.“
Der griechische Volkswirt Xenophon Zolotas kreierte 1981 einen neuen Ansatz. Er berücksichtigte auch Faktoren wie die Fahrtkosten von Berufstätigen, Werbekosten, Ausgaben für Luft- und Gewässerreinhaltung oder Abfallbeseitigung. Je nach Wirkung addierte oder subtrahierte er die ermittelten Wertansätze. Das Resultat: Sein Wohlfahrtsindikator wuchs langsamer als das BSP.
„Man bräuchte zunächst nur einen einfachen Taschenrechner, um sich klarzumachen, dass unbegrenztes Wirtschaftswachstum weder möglich noch – vermutlich – sinnvoll wäre.“
In den Folgejahren wurden weltweit etliche weitere Alternativmodelle entwickelt, etwa in den USA der „Genuine Progress Indicator“ und der „Index for Sustainable Economic Welfare“, in Kanada der „Canadian Index of Wellbeing“, in Europa diverse Berichtssysteme jenseits des BIP sowie in China und Indien Versuche der Berechnung eines „grünen Bruttosozialprodukts“.
Alternativen zum BIP – aus deutscher Sicht
In Deutschland entwickelte sich in den 80er Jahren der Trend, neben der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) ein zusätzliches System der gesellschaftlichen Rechnungslegung einzuführen. Behörden arbeiteten daran, neben den Wirtschafts- auch Umwelt- und Sozialstatistiken zu verwenden. 1989 stellte das Statistische Bundesamt das Konzept der „Umweltökonomischen Gesamtrechnung“ vor. Die Industrieverbände lehnten solche Methoden von vornherein ab. Das Statistische Bundesamt legte dennoch Berechnungen vor, die die Material- und Energieflussrechnung, die Nutzung von Fläche und Raum, das Naturvermögen sowie den Umweltzustand einschließen. Diese Ergänzungen zur VGR erhielten die Bezeichnung „Satellitensystem“: Sie ergänzen das BIP, ersetzen es aber nicht. Weil sich die Öffentlichkeit weiter an einer einzigen Zahl orientiert, nämlich dem BIP, wurde den Zusatzstatistiken wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
„Wir werden nicht umhinkommen, eine Diskussion über die Möglichkeit und Wünschbarkeit von Obergrenzen bestimmter Formen des Konsums zu führen.“
Das Umweltbundesamt und das Bundesumweltministerium gaben im Jahr 2009 eine Studie in Auftrag, um herauszufinden, ob ergänzende Angaben zur Wirtschaftsentwicklung die öffentliche Diskussion womöglich erhellen können. Aus dieser Studie ging der „Nationale Wohlfahrtsindex“ (NWI) hervor. Etliche monetäre Kenngrößen speisen den Index, je nachdem wie stark das Wohlergehen aller profitiert. Dabei spielt die Einkommensverteilung eine wichtige Rolle: Je ungleicher das Einkommen in einer Gesellschaft verteilt ist, desto geringer fällt der NWI aus. Einbezogen werden auch wohlfahrtsstiftende Faktoren wie die Hausarbeit oder Ausgaben des Staates für Bildung und Gesundheit. Abgezogen werden hingegen Kosten für Kriminalität oder Verkehrsunfälle. Was der Staat tut, hat entweder einen positiven oder einen negativen Effekt: Eine Neuverschuldung des Staates wirkt sich negativ auf den Index aus, einen positiven Effekt dagegen haben staatliche Ausgaben für den ökologischen Umbau.
„Und für die Skeptiker: Das BIP bleibt uns ja erhalten. Es hilft nur nicht mehr viel weiter.“
Klar wurde an diesem Versuch erneut, dass sich die Wohlfahrt eines Landes nur schwer anhand von Zahlen messen lässt. Wie sollen eine gerechte Einkommensverteilung, bürgerliches Engagement oder geringere Umweltbelastungen beziffert werden? Inzwischen diskutieren Experten zunehmend weiche Faktoren, die nicht in Geldwerten gemessen werden. Zu diesen neuen Ansätzen zählt das Glücks-BIP der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, das der Ökonom Ulrich van Suntum erarbeitet hat. In diesen Lebenszufriedenheitsindikator gehen Kriterien wie das Wachstum des BIP, die Arbeitslosenquote der abhängigen zivilen Erwerbspersonen, die Ungleichheit der Einkommensverteilung, die Realisierung gewünschter Arbeitszeit, das Arbeiten im erlernten Beruf, ein guter Gesundheitszustand, Wohneigentum oder Sorgen um den Arbeitsplatz ein. Der Autor wies nach, dass die Zufriedenheit in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre konstant geblieben ist. Interessanterweise wird in diesem Modell eine Ungleichheit der Einkommensverteilung, im direkten Widerspruch zum NWI, als die Lebenszufriedenheit steigernd interpretiert.
Schlussfolgerungen für die politische Debatte
Für die politische Debatte sind folgende Gedanken zu berücksichtigen:
- Im Fokus sollten eine gerechte Einkommensverteilung, soziale Netzwerke, bürgerschaftliches Engagement, eine geringere Umweltbelastung sowie eine Minderung des Verbrauchs von Rohstoffen stehen. Hilfreich sind hierbei Ansätze wie der Nationale Wohlfahrtsindex.
- In Zeiten des Abschwungs erweist sich die Verwendung des NWI als besonders sinnvoll, weil andere Quellen statt des reinen Wachstums als Puffer wirken: Sinkt das BIP, muss nicht auch die allgemeine Wohlfahrt sinken.
- Modernen Volkswirtschaften fällt es immer schwerer, zu wachsen. So kommt es zu künstlich aufgeblasenen Wachstumseffekten über eine aggressive Verschuldung und über die Aufblähung von Vermögensklassen – von Immobilien bis zu Finanzderivaten.
- Ein Wohlfahrtsindex kann wachsen, selbst wenn das ökonomische Wachstum stagniert oder sinkt.
- Das qualitative, nicht das quantitative Wachstum sollte das Ziel sein. Mittel- und langfristig sollte es der Gesellschaft helfen und nicht schaden.
- Rezessionen lassen sich mit dem herkömmlichen Wachstumsstreben nicht vermeiden. Alternative Indexmodelle unterstützen eine differenziertere Betrachtungsweise der wirtschaftlichen Entwicklung, indem sie auch die Kosten ökonomischen Wachstums berücksichtigen und ggf. eine Begrenzung desselben als sinnvoll erscheinen lassen.
- Wirtschaftswachstum ist vom Energie- und Ressourcenverbrauch abzukoppeln. Wir brauchen eine ökologische Erneuerung, grüne Investments sowie eine Stärkung der Umweltindustrien und Ressourceneinsparungen.
- Ein Wohlfahrtsindex wie der NWI ist viel besser als das herkömmliche BIP dazu geeignet, die Notwendigkeit qualitativen Wachstums ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.