Mädchenschwarm mit Leidenschaft für Jazz
Am 26. September 1913 als erstes Kind seiner Eltern im pommerschen Zemmin geboren, verlebt Berthold Beitz trotz des Krieges eine recht beschauliche Kindheit. Auch die Schulzeit sagt ihm zu: Nicht wegen des Lernens – dem ist der junge Beitz weniger zugetan –, sondern weil er mit seinem blonden Haar und seinen schönen Gesichtszügen die Bewunderung der Mädchen genießt. Mit seinen liberalen Eltern kommt er gut aus. Selbst dass Beitz in der Gymnasialstufe einmal sitzen bleibt, trübt sein gutes Verhältnis zu ihnen nicht. Es gibt weder Dogmen noch Religiosität noch die für andere damals üblichen Prügel. Dafür lernt er die Wichtigkeit von gegenseitigem Respekt, Herzenswärme gegenüber jedem, Verantwortung und Disziplin. Als junger Mann kann Beitz sein Leben in vollen Zügen genießen. Das Segeln hat es ihm angetan und auch die moderne Musik, vor allem Jazz. Die Banklehre, die er absolvieren muss, passt in diesen Alltag zwar weniger hinein, aber das gewünschte Medizinstudium können sich seine Eltern nicht leisten. Obwohl ihm die Arbeit nicht gefällt, kann Beitz seine Vorgesetzten von seinen Qualitäten überzeugen und wird 1937 stellvertretender Leiter der Filiale in Demmin.
Nach Polen
Seine Sehnsucht nach der großen weiten Welt führt ihn 1938 zu den Rhenania Ossag Mineralölwerken nach Hamburg, einem Unternehmen der Royal Dutch Shell. Beim Tennis lernt er seine 18-jährige Kollegin Else Hochheim kennen. 1939 heiraten die beiden, im April 1940 bekommen sie Zwillinge, zwei Mädchen, von denen eines bald an einer Lungenentzündung stirbt. Inzwischen hat der Zweite Weltkrieg begonnen, und Shell schickt Beitz als Vertreter ins polnische Galizien, wo die Wehrmacht Ölvorkommen in Besitz genommen hat. Im Unterschied zu den brutalen Besatzern verhält er sich gegenüber den Einheimischen äußerst freundlich. Bei einer Skatrunde im Juni 1941 fällt der Personalchef der Beskiden-Öl, für die Beitz inzwischen als leitender Angestellter arbeitet, eine Entscheidung, die für Beitz’ Leben von großer Tragweite ist: Der 27-Jährige soll als kaufmännischer Direktor die Förderanlagen von Boryslaw übernehmen, die die Wehrmacht gerade erobert hat.
Unternehmer und Retter
In Boryslaw erlebt Beitz den brutalen und unbarmherzigen Terror der SS gegen die Juden. Als einer der wenigen lehnt er sich still gegen diesen Wahnsinn auf und errichtet das Firmenlager Mraschnitza, in dem er seine jüdischen Mitarbeiter samt deren Familien in Sicherheit bringt und verpflegt. Vor der SS verteidigt er diese Aktion mit der Begründung, die Juden seien wichtige Arbeitskräfte, ohne die die Produktion und damit die Treibstoffversorgung der Wehrmacht zum Erliegen kommen könnten. In einer weiteren beispielhaften und außerordentlich mutigen Aktion rettet Beitz vielen Boryslawer Juden das Leben: Am 6. August 1942 durchkämmen SS-Einheiten die Stadt und jagen Juden zum Bahnhof, wo bereits Viehwaggons zum Abtransport ins Vernichtungslager Belzec bereitstehen. Beitz stellt sich am Bahnhof den SS-Leuten entgegen und fordert Mitarbeiter seines Unternehmens lautstark auf, sich zu melden, damit er sie zu Arbeitszwecken wieder mitnehmen könne. Unzählige melden sich, auch solche, die er noch nie gesehen hat. Nicht nur an diesem Tag rettet er so viele Menschen, wie er kann. Mehrere Hundert Juden sind es zwischen 1942 und 1944. Später wird Beitz dafür als „Gerechter unter den Völkern“ von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geehrt werden.
Der Drang nach Freiheit
Nach einer Odyssee mit Einberufung, Gefangennahme, Flucht aus der Gefangenschaft und erneutem unfreiwilligen Kriegseinsatz landet Beitz in Hamburg, wo seine Schwiegereltern leben. Die schwangere Else Beitz kommt bald mit Tochter Barbara nach. Durch eine Zufallsbegegnung mit seiner guten Freundin und ehemaligen Sekretärin Evelyn Döring lernt Beitz einen britischen Offizier kennen, der das Amt zur Aufsicht der Versicherungen in der britischen Zone zu vergeben hat.
„Was Berthold Beitz prägt, ist die Tatsache, dass er sein darf, wie er ist, und nicht, wie ihn die Eltern vielleicht formen wollten.“
Beitz’ bisherige Tätigkeiten, aber auch die Tatsache, dass er als politisch unbelastet gilt und dass ihm viele Überlebende von Boryslaw in einer notariellen Erklärung große Menschlichkeit bescheinigen, führen zu seiner Anstellung. Schnell gelingt es ihm, aus dem Amt eine gut laufende Behörde zu entwickeln. Er könnte sogar Beamter auf Lebenszeit werden, doch das widerspricht seinem Drang nach Freiheit. Also ergreift er die Chance, in den Vorstand der Iduna-Germania-Versicherung zu wechseln. Über einen befreundeten Künstler, der von der Iduna den Auftrag für eine Skulptur erhalten hat, lernt Beitz Alfried Krupp kennen. Dieser überzeugt ihn 1952, nach Essen zu kommen, um mit ihm gemeinsam den Krupp-Konzern wiederaufzubauen. Beitz reizt daran besonders die Freiheit, sein eigener Herr sein zu können.
Gegen alte Eliten
Beitz, der aus einfachen Verhältnissen stammt und keinen Studienabschluss hat, wird von Krupps Generaldirektoren alles andere als warmherzig empfangen. Mit Unterstützung von Alfried Krupp setzt er sich aber durch, er verkleinert die Direktorenriege, schafft sich einen jungen, effizienten Mitarbeiterstab und befreit das Unternehmen weitgehend von seinem schlechten Image eines ehemaligen Waffenlieferanten für die Nazis, der Zwangsarbeiter beschäftigt hat. Beitz’ Befürwortung, die Zwangsarbeiter zu entschädigen, trägt zur Rehabilitierung bei. Lange Zeit leidet der Konzern jedoch unter einer 1953 beschlossenen Verkaufsauflage: Innerhalb von fünf Jahren sollen die Stahlproduktionsstätten verkauft werden. Weil sich jedoch niemand den Kauf leisten kann, wird die Verkaufsauflage schließlich 1968 fallen gelassen. Die preistreibende Fusion der Hütten- und Bergwerke Rheinhausen AG mit dem Bochumer Verein ist in diesem Zusammenhang ein cleverer Schachzug von Beitz und Krupp. Einen enormen Imagezuwachs erfährt das Unternehmen, als Beitz vor aller Welt erklärt: Wir produzieren keine Waffen mehr.
Kontakte in den Osten
Auf der Suche nach neuen Absatzgebieten, aber auch wegen seiner noch immer bestehenden emotionalen Bindung zu Polen, setzt sich Beitz ab Mitte der 50er Jahre stark für freundschaftliche Kontakte mit den Ostblockstaaten ein, allen voran mit Polen und Russland. Sein Verhalten während des Zweiten Weltkrieges öffnet ihm so manche Tür. Die Regierung unter Konrad Adenauer ist davon wenig begeistert: Sie sieht dadurch ihre eigenen Bemühungen, Handelsbeziehungen mit deutschlandpolitischen Zugeständnissen zu erpressen, gestört. Es ist die Zeit des Kalten Krieges. Während das Russlandgeschäft für den Krupp-Konzern eher schleppend vorangeht, entwickeln sich die Beziehungen zu den anderen Oststaaten besser. Seine guten Kontakte in den Ostblock nutzt Beitz, soweit es in seinen Möglichkeiten steht, immer wieder, um Menschen, die dort festgehalten werden und ausreisen wollen, nach Deutschland zu holen.
Krupp gerät in die Krise
Weil Alfried Krupps Sohn Arndt weder in der Lage noch gewillt ist, später einmal das Unternehmen zu führen, ändert Krupp sein Testament: Das Unternehmen soll fortan von der Familie Krupp losgelöst sein. Seine Einheitlichkeit soll gewahrt bleiben, und es soll nicht in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden. Inhaber des Unternehmens wird eine Stiftung, deren Vorsitz Berthold Beitz übernimmt.
„Beitz, der junge Direktor, handelt anders. Er sieht die Unterworfenen als Menschen.“
Krupp stirbt 1967 und die Stiftung ist Alleinerbin. Zu dieser Zeit befindet sich das Unternehmen schon in einer ungemütlichen Lage: Weltweite Überkapazitäten, gigantische Subventionierungen im Ausland sowie hohe Arbeitskosten in Deutschland führen die Friedrich Krupp GmbH in eine schwere Krise. Deutsche Banken verweigern neue Exportkredite, weil sie fürchten, ihr Geld nicht wiederzusehen. Die letzte Rettung kommt in Form einer Bürgschaft vom Bund und zahlreichen Banken. Bedingung ist allerdings die Schaffung eines Aufsichtsrats und eines Vorstands. Vorsitzender des Aufsichtsrats wird zunächst der Bankier Hermann Josef Abs, der dann 1970 von Beitz abgelöst wird. Vorstandschef wird der ehemalige Mitarbeiter Günter Vogelsang, der allerdings 1972 seinen Hut nimmt, weil er sich in seinen Zuständigkeiten durch den dominanten Beitz zu stark beschnitten fühlt.
Der Iran steigt ein
Mit Beginn der Ära Willy Brandt nimmt Deutschlands Ostpolitik endlich Fahrt auf. Beitz reist im Auftrag der Bundesregierung, aber auch für Krupp nach Polen, in die Sowjetunion, nach China und schließlich sogar in den Iran, wo er mit dem Schah 1974 eine 25%ige Beteiligung Persiens an den Krupp-Hüttenwerken aushandelt – ein wahrer Geldsegen für das unterkapitalisierte Unternehmen. Den zahlreichen Vorwürfen, sich mit einem Folterregime zusammengetan zu haben, trotzt er. Als die Stahlkrise 1976 erneut zuschlägt, wird dem umstrittenen Land eine Beteiligung in Höhe von 25 % am Mutterkonzern gewährt. Ohne die dadurch fließenden Gelder müsste das Unternehmen höchstwahrscheinlich Insolvenz anmelden.
„Beitz lässt für den Iran gelten, was ihm zuvor für den Ostblock galt: Der Handel ist ein Wegbereiter, und Wandel durch Annäherung ist allemal effizienter als Konfrontation.“
Doch mit Problemen hat die Firma auch weiterhin zu kämpfen. Der 1986 eingestellte Stahlchef Gerhard Cromme sieht 1987 angesichts eines Verlustes von einer halben Million Mark pro Tag (!) keinen anderen Ausweg, als die Stahlhütte Rheinhausen zu schließen. Die Arbeiter gehen auf die Barrikaden und ziehen viel Medienöffentlichkeit auf sich, doch sie können an der ausweglosen Situation nichts ändern.
Abschied aus dem Aufsichtsrat
Nicht nur die Hütte macht dem Unternehmen Krupp zu schaffen. Der Bau von Großanlagen schwankt mit der Konjunktur. Die Chancen neuer Technologien werden verpasst. Von ökologischem Know-how kann auch kaum die Rede sein. Die Presse ist so schlecht wie lange nicht. Wieder einmal gibt es Probleme mit dem Vorstandsvorsitzenden. Diesmal ist es Wilhelm Scheider: Er sieht sich in zu großer Abhängigkeit von Beitz’ Willen. Immer mehr Stimmen werden lauter, dass Beitz sich endlich aus dem Aufsichtsrat verabschieden müsse. 1989 beugt er sich dem Druck und verlässt den Posten.
„Der Rücktritt ist ein geschickter Schachzug von Beitz zur Auflösung einer verfahrenen Konstellation.“
Zuvor macht er Cromme, dessen unerschrockene Art er sehr schätzt, zu seinem Nachfolger. Dieser saniert das Unternehmen, das nun wieder Aufwind bekommt und nicht zuletzt vom Aufbau Ost und dem kurzen Stahlboom der 90er Jahre profitiert. Aber Beitz ist nicht wirklich weg. Als Vorsitzender des Stiftungskuratoriums vertritt er nach wie vor den Alleinbesitzer von Krupp. In dieser Position erteilt er Cromme 1991 seine Zustimmung für die feindliche Übernahme des Traditionsunternehmens Hoesch. Entgegen dem ursprünglichen Wunsch von Alfried Krupp wird das Unternehmen jetzt doch in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, in die Krupp Hoesch Stahl AG.
Ruhestand: nicht in Sicht
Der nächste große Schritt für das Unternehmen folgt 1997, als Krupp und Thyssen eine Teilfusion durchführen, nachdem zuvor eine feindliche Übernahme von Thyssen durch Krupp gescheitert ist. 1999 folgt die Vollfusion zu ThyssenKrupp. Anfangs wehrt sich Beitz noch gegen diese Fusion, weil er eine Abhängigkeit von den Banken fürchtet. Doch schließlich lässt er sich von ihrer wirtschaftlichen Notwendigkeit überzeugen und bringt sie gemeinsam mit dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden und derzeitigen Thyssen-Aufsichtsratschef Günter Vogelsang auf den Weg. Beide sind überzeugt: Nur ein großer deutscher Stahlkonzern kann im globalen Konkurrenzkampf überleben. Beitz ist zu dieser Zeit bereits 86 Jahre alt und denkt keineswegs daran, sich aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen. Das Geschenk, auch mit fast 90 Jahren noch fit und wach zu sein, begründet er mit seinem langen erfüllten Arbeitsleben.