Die Catilinarischen Reden

Buch Die Catilinarischen Reden

Rom, 60 v. Chr.
Diese Ausgabe: De Gruyter,


Worum es geht

Ironie der Geschichte

Wer Ciceros Catili­nar­ische Reden liest, taucht in einen spannenden Plot aus Spionage, Verschwörung, Mord und Ver­brechen­saufklärung ein und blickt tief in die politische und gesellschaftliche Situation der römischen Republik während der Phase ihres Niedergangs. Zugleich erfährt er In­ter­es­santes über den Autor, den Politiker Marcus Tullius Cicero. Dessen Ni­belun­gen­treue zur römischen Ständeordnung lässt sich mit seiner Herkunft erklären: Cicero war ein Emporkömmling, ein Homo novus, und an der Vehemenz, mit der er den Führungsanspruch der römischen Elite gegen den Unmut des Volkes verteidigt, spürt man deutlich seinen Stolz, es bis ganz nach oben geschafft zu haben. Sein Gegner, Lucius Sergius Catilina, war zwar kein wirklicher Reformer, kein Anwalt der kleinen Leute, eher ein Ehrgeizling und Abenteurer. Doch ihm hingen Ver­schuldete, Be­nachteiligte und Enteignete an. Im Rückblick lässt sich sagen, dass Ciceros un­nachgiebige Haltung gegenüber den berechtigten Forderungen dieser sozialen Gruppen den Sturz der überkommenen Ordnung beschle­u­nigt hat. Der Retter Roms, als der er sich in den Catili­nar­ischen Reden darstellt, war also in Wirk­lichkeit ein tragischer Held.

Take-aways

  • Die vier Catili­nar­ischen Reden von Marcus Tullius Cicero gelten als Glan­zleis­tung altrömischer Redekunst.
  • Inhalt: Der ehrgeizige Catilina plant mit einigen Komplizen einen Staatsstre­ich, hat aber nicht mit Cicero gerechnet. Der re­dege­wandte Konsul zieht alle Register seines Könnens, um den Usurpator zu stoppen. Er erwirkt Catilinas Verurteilung und wird als Held gefeiert.
  • Die Dankbarkeit der Römer war nicht von Dauer: Schon bald warf man Cicero vor, er habe die Verschwörer ohne or­dentliches Verfahren hinrichten lassen.
  • Infolge der An­schuldigun­gen ging der ehemalige Konsul für ein Jahr ins Exil. Danach war seine Karriere vorerst beendet.
  • Bei dem Text handelt es sich um eine wertvolle historische Quelle; sie muss aber wegen Ciceros Hang zur Selb­st­be­weihräucherung skeptisch gelesen werden.
  • Cicero veröffentlichte die Reden drei Jahre nach der Verschwörung.
  • Die Catili­nar­ischen Reden spiegeln den dre­it­eili­gen Wirkanspruch der antiken Rhetorik: belehren, bewegen und erfreuen.
  • Der geschraubte Stil entspricht dem damaligen rhetorischen Ideal.
  • Der geschichtliche Hintergrund ist die Endphase der römischen Republik, die von sozioökonomischen Spannungen geprägt war.
  • Zitat: „Welche Zeiten, welche Sitten! Der Senat bemerkt’s, der Konsul sieht’s; doch dieser Mann lebt.“
 

Zusammenfassung

Erste Rede: Das Spiel ist aus!

Die Verschwörung des Catilina ist aufgedeckt. Rom ist längst gewarnt. Die Wachen wurden verstärkt. Der Senat ist einberufen und über Catilinas Umtriebe informiert. Man weiß: Catilina hat feindliche Truppen in Etrurien versammelt, er plant einen Bürgerkrieg und den gewaltsamen Umsturz Roms. Cicero hat in Erfahrung gebracht, was Catilina in der vorletzten Nacht getan hat: Im Haus des M. Laeca fand ein kon­spir­a­tives Treffen Catilinas mit seinen Spießgesellen statt, die übrigens durch und durch verderbte Gestalten sind. Die Verschwörung reicht tief: Es haben sogar einige der Senatoren an dem Treffen teilgenom­men. Die Umsturzpläne wurden in allen Einzel­heiten besprochen: der Zeitpunkt des Loss­chla­gens, die Art des Vorgehens und die Rollen, die den jeweiligen Verschwörern zukommen sollen. Doch Cicero ist über alle Details im Bild. Auch darüber, dass man auf der Versammlung beschlossen hat, ihn noch in derselben Nacht zu ermorden. Diesen Anschlag konnte er verhindern, indem er sich in seinem Haus verschanzte und Catilinas Boten nicht zu sich ließ. Dies ist nicht Catilinas erster Putschver­such, und schon früher hat er etliche Male versucht, seinen Erzfeind ins Jenseits zu befördern, doch immer vergeblich.

Ein schamloses Verhalten

Obwohl Catilinas Pläne aufgeflogen sind, hat dieser die Dreistigkeit, sich im Senat zu zeigen. Hier, vor den Augen derjenigen, deren Tod er plant. Dabei müsste es ihm doch zu denken geben, dass ihn einhelliges Schweigen empfangen hat und die Senatoren sichtlich auf Distanz zu ihm gehen. Wie seltsam ist es doch, dass Catilina, wenn sich seine Eltern in dieser Weise von ihm abwendeten, sich schämen würde; nun aber wendet sich sein Vaterland von ihm ab und er bleibt unbewegt. Auch die Stimmung auf den Straßen ist gegen Catilina. Seinetwegen haben sich wütende und besorgte Römer um den Senat versammelt, Ritter wie Bürger. Obwohl bereits seit 20 Tagen ein Sen­ats­beschluss gegen Catilina vorliegt, der den Konsuln weitre­ichende Vollmachten bis hin zur Todesstrafe gibt, zögern diese – einschließlich Cicero selbst – noch mit der Umsetzung. Dabei hat Catilina ja ohne Zweifel den Tod verdient, er, der Rom niederzubren­nen, die Römer zu ermorden und ganz Italien zu verheeren plant. In der Geschichte Roms wurden schon weit harmlosere Verbrechen mit dem Tod gesühnt.

Fort mit Catilina

Doch Cicero will sich nicht dem Vorwurf übermäßiger Strenge aussetzen und eine Hinrichtung fordern. Nein, Catilina soll am Leben bleiben. Er soll seine Pläne aufgeben oder sich aber mitsamt seinen Anhängern davonmachen. In Rom hat er ohnehin ausgespielt. Von seinen Mitbürgern darf er sich nichts mehr erhoffen, denn durch seinen laster­haften Lebenswan­del hat er sich ganz und gar diskred­i­tiert. Er hat sich außerdem mit jeder er­den­klichen Schuld beladen und zahllose Verbrechen begangen. Das Schweigen des Senats ist als Zustimmung zu Ciceros Anklage zu verstehen und als Auf­forderung an Catilina, freiwillig in die Verbannung zu gehen. Doch es ist ja klar, dass dieser der Auf­forderung nicht nachkommt, sondern geradewegs mit seinen Umsturzplänen fortfahren wird.

„Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld miss­brauchen? Bis wann soll deine Tollheit uns noch verhöhnen? Wie weit wird zügellose Dreistigkeit sich noch vermessen?“ (S. 9)

Seine Leute warten schon auf ihn. Catilina soll sich ruhig mit ihnen und den Truppen des C. Manlius vereinen und den Krieg beginnen. Cicero hält das für das Beste. Zwar ahnt er, man werde ihm später vorwerfen, er habe einen so gefährlichen Staatsfeind einfach laufen lassen, doch er glaubt, damit das Richtige zu tun, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen gibt es noch Römer, die Zweifel an Catilinas Gefährlichkeit hegen. Diesen würde so der letzte Beweis geliefert. Zum anderen soll Catilina gehen, damit das ganze Ausmaß der Verschwörung offenbar wird und die Wurzel allen Übels ein für alle Mal gezogen wird – denn seine Komplizen werden aus ihren Löchern kriechen. Würde man Catilina dagegen hinrichten, wüsste man nie, wie groß der verbleibende Rest der Kon­spir­a­tion noch wäre. Fort also mit Catilina und seinen Anhängern! Konsuln, Ritter und Optimaten werden dafür sorgen, dass die Einwohner der Stadt sich wieder sicher fühlen. Jupiter wird das Seine dazu beitragen.

Zweite Rede: Die Gefahr ist gebannt

Catilina hat sich aus dem Staub gemacht, die Via Aurelia entlang, angeblich, um nach Massilia in die Verbannung zu gehen. In Wirk­lichkeit will er wohl bei Faesulae zu den Truppen des Manlius stoßen. Rom ist jedenfalls gerettet. Die Bürger können aufatmen. Sie sollten Cicero keine Vorwürfe machen, dass er Catilina nicht hat verhaften und hinrichten lassen. Denn Ciceros Strategie ist gänzlich aufgegangen: Hätte er der Rebellion den Kopf abgeschla­gen, hätte der Körper im Verborgenen weit­ergelebt, und Cicero wäre den An­fein­dun­gen jener ausgesetzt gewesen, für die Catilinas Schuld nicht erwiesen war. Doch nun kommt das ganze Ausmaß der Verschwörung zutage. Leider sind längst nicht alle Sym­pa­thisan­ten Catilinas mit ihm ver­schwun­den. So mancher hat sich nicht aus der Deckung gewagt. Doch Cicero weiß, mit wem er es zu tun hat, und wird weiter wachsam bleiben. Es steht jedermann frei, die Stadt zu verlassen. Lieber hat er den Feind außerhalb der Mauern als innerhalb. Im offenen Kampf sind die Catili­nar­ier ohnehin nicht zu fürchten. Ihre Truppen bestehen aus höchst zweifel­haften Elementen. Die regulären römischen Truppen, etwa die gallischen Legionen, sind ihnen haushoch überlegen. Gefährlich sind nur diejenigen Verschwörer, die in Rom geblieben sind.

Aufräumen in Rom

Möglicher­weise wird man Cicero vorwerfen, er habe Catilina gewaltsam aus der Stadt gejagt. Doch Cicero fürchtet solche Vorwürfe nicht. Er lässt sich durch nichts von seiner Mission abbringen. Gleichmütig würde er alle An­fein­dun­gen ertragen, sogar den Tod, wenn der ihn nicht daran hindern würde, Rom weiterhin gegen die Verschwörer zu schützen. Denn nun gilt es aufzuräumen. Einige von Catilinas Anhängern sind möglicher­weise im Guten von ihren Plänen abzubringen. Hierzu müsste man etwa nur die Schuldner, die sich von Catilina einen Erlass ihrer Verbindlichkeiten erhofft haben, durch Zwangsver­steigerun­gen entschulden, oder die Streber und Ehrgei­zlinge überzeugen, dass sie unter einer Gewaltherrschaft Catilinas keineswegs profitieren würden.

„Welche Zeiten, welche Sitten! Der Senat bemerkt’s, der Konsul sieht’s; doch dieser Mann lebt.“ (S. 9)

Die Übrigen sind ohne Milde auszurotten. Rom muss sich von ihnen wie von einer Krankheit befreien. Es ist ohnehin der Bodensatz der Gesellschaft, der sich um Catilina scharte: Trinker, Spieler, Schulden­macher, Lustmolche, Hurenböcke und Schaus­pieler. Catilina selbst ist ein Verderber der Jugend, das per­son­ifizierte Laster, ein Erzschurke, der an allen Verbrechen der letzten Zeit beteiligt und mit sämtlichen Kriminellen verbündet war. Doch den Römern wird es gelingen, sich von ihm und seinen Komplizen zu befreien. Die Tugend gewinnt immer gegen das Laster. Zudem hat Cicero gründlich Vorsorge getroffen. Die Römer sollten sich nicht fürchten. Die Stadt ist ausreichend durch Wachen gesichert. Truppen unter Q. Metellus marschieren bereits gegen Catilina. Auch die Kolonien und Munizipien sind vorbereitet. Die Götter werden für den Sieg des Guten sorgen.

Dritte Rede: Rückschau der Ereignisse

Mithilfe der Götter hat Cicero die Gefahr durch die catili­nar­ische Verschwörung gebannt und sich damit Ruhm und Ehre verdient. Nun soll das Volk erfahren, wie er das angestellt hat. Als Catilina Rom verließ, blieben einige seiner Spießgesellen zurück. Mit großem Aufwand gelang es Cicero, diese zu ermitteln. Er beobachtete sie und konnte in Erfahrung bringen, dass P. Lentulus sich an Gesandte des gallischen Al­lo­broger-Stamms herangemacht und diese bewogen hatte, jenseits der Alpen einen Krieg anzuzetteln und im restlichen Teil Galliens für Aufruhr zu sorgen. T. Volturcius sollte die Allobroger auf ihrem Weg zurück in ihre Heimat begleiten. Auch hatte er Briefe an Catilina im Gepäck. Cicero ließ die Allobroger von einer ausgewählten Schar Bewaffneter abfangen.

„Du tust nichts, du planst nichts, du denkst nichts, ohne dass ich’s erfahre und sogar sehe und genau bemerke.“ (zu Catilina, S. 15)

Die Briefe wurden beschlagnahmt, die Allobroger am nächsten Morgen zu Cicero gebracht. Außerdem bestellte dieser die Rädelsführer der in Rom verbliebe­nen Catili­nar­ier, G. Cimber, L. Statilius, C. Cethegus und P. Lentulus, ein und ließ den Senat zusam­men­treten. Die Allobroger gestanden ihre Beteiligung und belasteten die Verschwörer, besonders Lentulus. Sie seien verpflichtet worden, den Verschwörern mit berittenen Truppen zu Hilfe zu kommen. Die Gallier gaben Cicero den Tipp, Cethegus’ Haus zu durchsuchen. Tatsächlich fanden sich dort jede Menge Waffen. Auch Volturcius gestand: Lentulus habe ihm einen Brief an Catilina mitgegeben, der den Befehl zum Losschlagen enthalten habe. Geplant war, Rom anzuzünden und die Einwohner zu mas­sakri­eren. Nachdem Cicero die be­tr­e­f­fenden Briefe den Senatoren vorgelesen hatte, gestanden die Beschuldigten kleinlaut ihre Taten. Anschließend beschloss der Senat scharfe Sanktionen gegen die Verschwörer und dankte Cicero für seinen helden­haften Einsatz zur Rettung des Vaterlands.

Dem Unglück entronnen

Nachdem P. Lentulus sein Amt als Prätor niedergelegt hatte, kamen er und acht seiner Verbündeten in Haft. Die übrigen Verschwörer blieben unbehelligt. Zu Ciceros Ehren wurde ein Dankesfest ve­r­anstal­tet, ein einzi­gar­tiger Vorgang in der Geschichte Roms. Bisher war dieses Privileg noch nie einem Zivil­beamten zuteil­ge­wor­den.

„Im Zeichen dieser prophetis­chen Worte zieh aus, Catilina, in den ver­brecherischen und ruchlosen Krieg – zum Heil des gesamten Staates, zu deinem Unglück und Verderben (...)“ (S. 39)

Cicero meint, die Götter hätten ihm beige­s­tanden, etwa indem sie Zeichen schickten: Ein Blitzein­schlag auf dem Kapitol zerstörte einst einige Götter- und Helden­stat­uen sowie die Geset­zestafeln. Die Priester empfahlen damals, die Götter durch zehntägige Spiele und den Bau einer neuen, größeren Jupiter­statue zu versöhnen, sonst drohe Rom der Untergang als Folge von Verschwörung und Bürgerkrieg. Doch erst heute – aus­gerech­net heute – ist jene Statue fertig geworden. Und im Augenblick ihrer Aufstellung ist die catili­nar­ische Verschwörung aufgeflogen. Das beweist: Die Götter hatten ihre Hände im Spiel. Die Bürger sollen dankbar sein, dass sie ihrem Verderben nahezu unbeschadet entrinnen konnten. Frühere Konflikte forderten stets einen hohen Blutzoll. Überhaupt ist Ciceros Rettungstat einzigartig, da Rom noch nie von einer ver­gle­ich­baren Gefahr bedroht war. Und doch will Cicero keinen materiellen Dank, nur ewiges Gedenken an seine Tat. Auch sollen die Bürger darauf achten, dass ihm aus seinem Handeln später keine Nachteile erwachsen. Cicero wähnt sich nun auf der höchsten Stufe des Ruhms. Die Bürger sollen nach Hause gehen und den Göttern danken.

Vierte Rede: Ende gut, alles gut

Die Senatoren sollen sich nicht um Cicero sorgen, keine Rücksicht auf seine Sicherheit nehmen, sondern an sich und ihre Familien denken. Als Konsul ist Cicero ja verpflichtet, sich für das Staatswohl aufzuopfern. Diesem allein gilt sein Augenmerk. Er wird die Kon­se­quen­zen seines Handelns auf sich nehmen. Der Senat hat ihm für die Rettung Roms bereits gedankt. Die zur Überwindung der Staatskrise nötigen Beschlüsse sind gefasst. Die Schuldigen sind verhaftet worden, die Allobroger wurden belohnt.

„Da liegen sie mir bei ihren Schmäusen, schamlose Frauen­z­im­mer in den Armen haltend, vom Weine schlaff, übersättigt von Speisen, mit Blu­mengewinden bekränzt, mit Salben bestrichen, durch Unzucht geschwächt, und so rülpsen sie mit ihren Reden Mord für die Wohl­gesin­nten und Feuersbrünste für die Stadt aus.“ (über Catilinas Anhänger, S. 49)

Cicero will die Verschwörer bestraft wissen. Das Urteil soll noch heute erfolgen. Dabei muss das ganze Ausmaß der Verschwörung in Betracht gezogen werden: die zahlreichen Beteiligten und Anhänger Catilinas, die Ausbreitung der Bewegung bis in die Provinzen. Es kommt nun auf rasches und entsch­iedenes Handeln an. Zwei Anträge liegen vor: D. Silanus fordert die Todesstrafe für alle Verschwörer, C. Caesar lebenslange Haft. Silanus beruft sich auf Präzedenzfälle aus der Geschichte Roms. Schon oft seien Bürger ohne Gewissen mit dem Tod bestraft worden. Caesar hingegen meint, die Gefan­gen­schaft sei eine weit strengere Strafe als der Tod. Die Umsetzung von Caesars Vorschlag würde Cicero einen persönlichen Vorteil bringen: Er wäre dann weniger von An­fein­dun­gen bedroht. Denn die Popularen sind ja schon wieder wankelmütig, was die Bewertung der Verschwörung betrifft.

„Welch elende Aufgabe, den Staat zu leiten, und noch mehr, ihn zu erhalten!“ (S. 53)

Doch sollen die Senatoren sich nicht von derlei Überlegungen bee­in­flussen lassen. Sie sollen lieber zu streng als zu milde urteilen. Das Verbrechen der Catili­nar­ier ist ja ohne Beispiel. Auch sollen sie nicht denken, Rom sei nicht gewappnet, mit den möglichen Folgen des Urteils fer­tigzuw­er­den. Im Gegenteil: Viele Römer stehen bereit, um die öffentliche Ordnung zu schützen – Bürger, Ritter, Amtsleute, Freige­lassene und sogar Sklaven. Die ver­schiede­nen Stände sind, dank Ciceros Wirken, seit der Krise wieder miteinander versöhnt, die innere Einheit Roms wieder­hergestellt. Die Catili­nar­ier haben keine Chance, die Römer gegen den Staat aufzuwiegeln. Die Bürger wollen vor allem eins: Ruhe. Sie wollen in Frieden ihrem Leben, ihrem Handwerk, ihren Geschäften nachgehen. Das alles sollen die Senatoren bei ihrer Urteils­find­ung bedenken, ohne Rücksicht auf Cicero. Der ist durch seinen Ruhm als Retter Roms ausreichend belohnt und fürchtet auch die zahlreichen Feinde nicht, die er sich mit seinen Taten geschaffen hat. Er sieht sich in einer Reihe mit großen Römern wie Scipio, Marius oder Pompeius. Was auch immer die Senatoren entscheiden, Cicero will sich ganz in den Dienst ihres Urteils stellen.

Zum Text

Aufbau und Stil

Die vier Reden, wie sie uns heute vorliegen, wurden erst drei Jahre, nachdem Cicero sie gehalten hatte, bearbeitet und publiziert. Die erste und die vierte Rede richten sich an den Senat, die zweite und die dritte an das Volk. Solch zeitliche Verzögerung war damals üblich, und die Redner konnten mit einem „Portfolio“ für ihre rhetorischen Fähigkeiten Werbung machen. Doch fand bei einer solchen Ausar­beitung auch eine Verfälschung statt: Der aufgeschriebe­nen Rede fehlten ja zum Beispiel alle un­sprach­lichen Aus­drucksmit­tel wie Gestik, Mimik, Tonfall usw., die un­verzicht­barer Teil einer Rede sind. Im Fall der Catili­nar­ischen Reden kommt hinzu, dass der eitle Cicero wenig Skrupel hatte, die Darstellung der Ereignisse zu seinen Gunsten zu ma­nip­ulieren. Allerdings wird er es vermutlich auch in den gehaltenen Reden mit der Wahrheit nicht allzu genau genommen haben. Willkürliche und oft maßlose Verleumdung, Übertreibung und Schönfärberei galten als rhetorische Bräuche. Auch die zahllosen stilis­tis­chen Künsteleien („Er ging weg, er entwich, er verschwand, er stürzte davon“) entsprachen dem Zeit­geschmack, dem griechisch-römischen Kult der Form. Zweifellos hat Cicero bei der schriftlichen Ausar­beitung diesen Aspekt noch mal verstärkt. Der innere Aufbau der einzelnen Reden folgt im Wesentlichen dem klassischen Schema: Einleitung („Proemium“), Erzählung („Narratio“), Beweisführung („Ar­gu­men­ta­tio“) und Schluss („Conclusio“). Die vor dem Volk gehaltenen Reden haben allerdings eher einen berich­t­en­den Charakter – sie sollten die Hörer informieren –, während die vor dem Senat gehaltenen ar­gu­men­ta­tiv angelegt sind. Die erwähnten manieris­tis­chen Elemente erfüllen in allen vier Reden den Zweck, das Publikum auch zu unterhalten. Die klassischen Wirkungsweisen der Rede, das Belehren („docere“), das Bewegen („movere“) und das Erfreuen („placere“), sind hier elegant aus­bal­anciert.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Die Reden ein Spiegel der politischen und gesellschaftlichen Zustände gegen Ende der römischen Republik. Dank der priv­i­legierten Perspektive des Verfassers wird hier die ganze Problematik beleuchtet: die sozioökonomischen Spannungen, der berechtigte Unmut des Volks und das Versagen der politischen Elite.
  • Trotz der Fülle von his­torischen Einblicken sind Die Catili­nar­ischen Reden eine grobe Entstellung der Geschehnisse. In seiner Ruhmsucht bläht Cicero die Bedeutung der catili­nar­ischen Verschwörung maßlos auf, um die eigenen Heldentaten in umso hellerem Licht erstrahlen zu lassen.
  • Die Reden verraten einiges über die Gegensätze in Ciceros Persönlichkeit: Der Konsul zeigt sich als fähiger Krisen­man­ager, verkennt aber spektakulär die eigentlichen Wurzeln des Problems. Er opfert sich selbstlos für die All­ge­mein­heit auf und erscheint doch als krankhaft eitel und ichbezogen. Seine rigorose Parteinahme für die al­therge­brachte Ordnung und gegen politische Neuerungen von unten steht in Kontrast zu seinem eigenen Werdegang als Emporkömmling, der dem Es­tab­lish­ment, das er verteidigt, im Prinzip gar nicht angehört.
  • In der vierten Rede lässt Cicero es sich nicht nehmen, seine Lieblingsidee von der Eintracht aller Stände (Concordia ordinum) noch einmal auszubre­iten. Nach dieser Idee ver­schwinden alle gesellschaftlichen Probleme von selbst, wenn nur die Stände Hand in Hand zusam­me­nar­beiten.

His­torischer Hintergrund

Die römische Republik im Endstadium

Im Jahr 63 v. Chr., dem Kon­sulat­s­jahr Ciceros, blickte Rom auf eine 700-jährige Geschichte zurück. Seit 400 Jahren war das Reich eine Republik; es regierten gewählte Amtsträger. In dieser Zeit war aus einem unbe­deu­ten­den Stadtstaat ein aus­gedehntes Imperium geworden. Besonders die Punischen Kriege (264 bis 146 v. Chr.) vergrößerten den römischen Einfluss im Mit­telmeer­raum. Das Wachstum brachte jedoch auch Probleme: Das römische Herrschaftsmod­ell war nicht für die neuen Dimensionen ausgelegt. Innere Spannungen machten der Republik mehr und mehr zu schaffen. Die Haup­tur­sache war ein krasses Un­gle­ichgewicht in der Verteilung von Macht und Privilegien. Zum einen begehrten die un­ter­wor­fe­nen Völker Italiens auf, die zwar für Rom in den Krieg zogen, aber keine vollen Bürgerrechte erhielten. Zum anderen bereicherte sich Roms Elite auf Kosten der Mittel- und Un­ter­schicht.

Gegen Ende des zweiten Jahrhun­derts v. Chr. versuchten einige re­formerisch gesinnte Volk­stri­bune (unter ihnen die Brüder Tiberius und Gaius Gracchus) diese Probleme durch neue Gesetze zu lösen, scheiterten aber letztlich an der Be­har­rlichkeit der Oberschicht. Gewalt etablierte sich als Mittel der politischen Au­seinan­der­set­zung. Lynchmorde, Straßenkämpfe, Aufstände, Verschwörungen, ja regel­rechter Bürgerkrieg zeugten vom anwach­senden Konflikt zwischen Arm und Reich. Statt jedoch die Situation endlich durch Zugeständnisse zu entschärfen, hielt die römische Elite stur an der alten Ordnung fest. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis jemand die politische Bühne betrat, der es verstand, die allgemeine Un­zufrieden­heit zum entschei­den­den Schlag gegen die marode Republik zu bündeln. Dieser Jemand sollte dann allerdings nicht der Heißsporn Lucius Sergius Catilina sein, sondern ein kühler Stratege namens Cäsar.

Entstehung

Zweimal hatte der ehrgeizige Aristokrat Catilina erfolglos versucht, auf legalem Weg das höchste römische Staatsamt, das Konsulat, zu erreichen. Bei der Wahl für das Jahr 64 v. Chr. war er an Cicero gescheitert, der nun selbst Konsul war. Um seinen Machthunger zu stillen, plante er einen Staatsstre­ich. Dabei konnte er auf eine große Anhängerschaft zählen, vor allem einfaches Volk und Un­zufriedene, aber auch etliche Patrizier. Durch Informanten erfuhr Cicero davon. Auf sein Drängen beschloss der Senat den Aus­nah­mezu­s­tand und gab dem Konsul weitre­ichende Vollmachten. Da Beweise gegen Catilina fehlten, musste sich Cicero jedoch einer breiten Zustimmung für seine Maßnahmen versichern, um den Anschein dik­ta­torischer Willkür zu vermeiden. Diesem Ziel dienten die ersten zwei seiner Reden gegen Catilina.

Ein Zufall spielte Cicero dann doch Beweise in die Hand: Briefe der Verschwörer an den gallischen Stamm der Allobroger, in denen diese für die Sache Catilinas gewonnen werden sollten. Mit den Briefen kon­fron­tiert, gestanden die Verschwörer. Hiervon erzählte Cicero dem Volk in seiner dritten Rede. Eine vierte Rede hielt er Ende 63 v. Chr. vor dem Senat, der über die Bestrafung der Verschwörer beraten sollte. Cicero war für die Todesstrafe, er besaß sogar die Befugnis, diese eigenmächtig zu verhängen. Doch wieder scheute er den Alleingang und bemühte sich um Rückendeckung. Etwa drei Jahre später, voller Stolz auf seine Ret­tungstaten, gab Cicero die Reden gegen Catilina im Rahmen einer Gesam­taus­gabe seiner Reden als Konsul heraus. Dazu übe­rar­beit­ete er sie noch einmal gründlich.

Wirkungs­geschichte

Jede der vier Reden entfaltete die gewünschte Wirkung. Auf die erste Rede, mit der Cicero den Staatsfeind Catilina provozieren wollte, damit dieser aller Welt sein wahres Gesicht zeige, folgte dessen Auszug aus Rom, angeblich ins Exil nach Massilia (dem heutigen Marseille), tatsächlich aber zu seinen Truppen nach Etrurien. Mit der zweiten Rede brachte Cicero das Volk auf seine Seite. Mit der dritten erreichte er die Verurteilung von Catilinas Anhängern zum Tode. Catilina selbst starb wenig später in der Schlacht gegen reguläre römische Truppen, ebenso der Heerführer Manlius.

Doch Ciceros Erfolg war nicht von Dauer: Er wähnte sich zwar zu Recht auf dem Höhepunkt seines Ruhms, doch der Jubel des Augenblicks verführte ihn zum Größenwahn. Fortan ließ er keine Gelegenheit aus, sich seiner Taten zu rühmen, und zwar in derartigem Übermaß, dass später Seneca von ihm sagte, Cicero habe sich wohl „nicht ohne Grund, doch ohne Ende“ gelobt. Seine Verblendung gab Cicero das Gefühl politischer Allmacht. So unterschätzte er die An­fein­dun­gen durch Publius Clodius Pulcher, den er sich durch seine Arroganz zum Feind gemacht hatte. Pulcher erkannte Ciceros Achilles­ferse: Trotz Sen­ats­beschluss, trotz jener weitre­ichen­den, doch eben nicht näher bestimmten Vollmacht, hatte sich Cicero mit der Hinrichtung der Catili­nar­ier außerhalb des Gesetzes begeben. Pulcher klagte ihn an und erreichte Ciceros Verbannung. Nach einem Jahr ermöglichten Freunde Cicero zwar die Rückkehr nach Rom, doch er war tief getroffen und zog sich vorerst aus dem öffentlichen Leben zurück.

Über den Autor

Marcus Tullius Cicero wird am 3. Januar 106 v. Chr. in Arpinum geboren. Sein Vater gehört zur zweithöchsten römischen Gesellschaftss­chicht. Verbindun­gen zu Angehörigen der Sen­at­saris­tokratie ermöglichen Cicero eine gute Ausbildung. Er studiert Recht, Rhetorik, Literatur und Philosophie in Rom, Griechen­land und Kleinasien. Im Jahr 77 v. Chr. kehrt er nach Rom zurück und beginnt seine Laufbahn als Recht­san­walt und Politiker. Es folgt eine Blitzkar­riere. Bereits im Jahr 63 v. Chr. bekleidet Cicero das Amt des Konsuls. Sein Wahlkampfgeg­ner Catilina lanciert eine Verschwörung, die allerdings im Ansatz erstickt wird. Doch Ciceros zahlreiche Gegner erwirken 58 v. Chr. seine Verbannung aus Rom: Er sei schuld an der Beseitigung der Catili­nar­ier, die ohne Verhandlung getötet wurden. 57 v. Chr. darf er zurückkehren. In den folgenden fünf Jahren entstehen seine wichtigsten politischen und philosophis­chen Schriften, darunter De oratore (Über den Redner, 55 v. Chr.) und De re publica (Vom Staat, 51 v. Chr.). Cicero setzt zunächst Hoffnungen auf den in­tel­li­gen­ten Cäsar, wendet sich aber von ihm ab, nachdem dieser mit Pompeius und Crassus ein Triumvirat eingeht. Im Bürgerkrieg schließt Cicero sich Pompeius an. An der Verschwörung gegen Cäsar ist er nicht beteiligt, doch äußert er seine Freude über dessen Tod 44 v. Chr. Als Cäsars Mitkonsul Marcus Antonius die Nachfolge des Allein­herrsch­ers anstrebt, tritt Cicero ihm mit seinen 14 Philip­pis­chen Reden entgegen und gewinnt im Senat wieder hohes Ansehen. Er bemüht sich erfolgreich, Octavian zum Krieg gegen Antonius zu bewegen. Octavian siegt zunächst, schließt sich danach aber mit dem wieder erstarkten Antonius und Marcus Lepidus zum zweiten Triumvirat zusammen. Die Triumvirn verfolgen ihre politischen Gegner, und Cicero steht ganz oben auf Antonius’ schwarzer Liste. Am 7. Dezember 43 v. Chr. wird er auf der Flucht ermordet, sein zerstückelter Leichnam wird auf der Redebühne des Forums zur Schau gestellt.