Persönlichkeit ist die Ansammlung von Notfallregeln
Als kleine Kinder fangen wir an, Handlungsroutinen einzuüben und so genannte Notfallregeln aufzustellen. Wir erleben das Handeln anderer Menschen und ziehen Schlüsse aus zwischenmenschlichen Situationen. Immer wenn wir später in ähnliche Situationen kommen, verfallen wir in Handlungsroutinen, die wir im Lauf der Zeit eingeübt haben. Wir haben gelernt, mit einem gewissen Repertoire an Routinen auf alle möglichen Situationen zu reagieren. Auch die Reaktionsgeschwindigkeit wird dabei immer schneller. Je stressiger eine Situation ist, desto automatischer reagieren wir. Das bedeutet, dass wir viele unserer Verhaltensweisen im Alltag und unter Stress nicht mehr wirklich bewusst steuern; sie sind erlernt. Unser Bild der zwischenmenschlichen Realität ist konstruiert. Deshalb scheitern wir z. B. so oft, wenn „die Chemie nicht stimmt“. Oder wir stolpern über immer wieder ähnliche Schwierigkeiten. Wenn Sie das ändern wollen und vorhaben, Ihr Verhalten sachlicher und bewusster zu gestalten, müssen Sie die erlernten Muster korrigieren.
Notfallregeln erfassen
Der erste Schritt zu einer Bearbeitung Ihrer automatischen Handlungsmuster besteht darin, Ihre Notfallregeln zu erkennen. Achten Sie darauf, ob sich Ihre Regeln im Privaten und Beruflichen unterscheiden. Machen Sie sich jede dieser Regeln bewusst. Grundlegend für jede Routine sind eine zentrale Angst, ein zentrales Bedürfnis sowie – um beides in Einklang zu bringen – ein bevorzugter Verhaltensstil. Ihr zentrales Bedürfnis erkennen Sie, wenn Sie sich daran erinnern, welche Wünsche Sie als Kind zu selten oder nur mit großer Anstrengung befriedigen konnten. Dabei kann es sich z. B. um den Wunsch nach Lob, Bewunderung, Aufmerksamkeit, Nähe, Schutz oder Autonomie handeln. Als Erwachsener werden Sie ständig irrationale Entscheidungen treffen, die dafür sorgen, dass exakt die Bedürfnisse von damals befriedigt werden. Die zentrale Angst sagt Ihnen, was Sie unbedingt vermeiden müssen, wenn Sie mit Menschen interagieren. Das kann z. B. die Angst davor sein, Anerkennung oder die Kontrolle zu verlieren. Der bevorzugte Verhaltensstil ist die Reaktion auf die ersten beiden Teile, auf die Angst und das Bedürfnis: Sie versuchen, beiden gerecht zu werden. Formulieren Sie in einem Satz, was Ihre Angst, Ihr Bedürfnis und Ihr Verhaltensstil ausmacht; dann haben Sie Ihre Notfallregel. Diese könnte etwa so lauten: „Wenn ich in wichtigen Beziehungen eher zu x bin, bewahre ich mir y und verhindere z.“ Dabei steht x für den bevorzugten Verhaltensstil, y für das zentrale Bedürfnis und z für die zentrale Angst.
Verhaltens- und Kommunikationsstile
Man unterscheidet sieben Verhaltens- und Kommunikationsstile, die im Alltag häufig auftreten und die alle auf einer bestimmten Notfallregel beruhen:
- selbstbezogen,
- gewissenhaft,
- dramatisierend,
- kritisch,
- rational-distanziert,
- kooperativ,
- sensibel-vermeidend.
„Die automatisierten Verhaltensweisen sind zeitlich sehr konstant und laufen relativ standardisiert ab. Je stressreicher eine Situation ist, in der man sich befindet, desto rigider wird das automatisierte Verhalten sein.“
Es ist hilfreich, diese Stile zu kennen – zum einen, damit Sie mit anderen Menschen angemessen interagieren können, zum anderen, damit Sie Ihre Notfallregel so formulieren, dass sie mit Ihrem persönlichen Stil übereinstimmt.
Von der Notfallregel zur Entwicklungsregel
Wenn Sie Ihre Notfallregel haben, bestimmen Sie, wie Sie diese verändern möchten. Sicher hat sie manchmal gut funktioniert. Sie bringt aber auch Nachteile mit sich: Was sind die Kosten Ihrer Notfallregel? Finden Sie so viele konkrete Beispiele dazu wie möglich. Daraus können Sie ableiten, wie Ihr verändertes Verhalten aussehen muss. Formulieren Sie dieses Verhalten in einem Satz: Damit haben Sie Ihre Entwicklungsregel. Im Alltag sollten Sie Ihr Verhalten in kleinen Schritten ändern. Wählen Sie zunächst entspannte, unkritische Situationen und verhalten Sie sich bewusst anders als sonst, nämlich so, wie es der veränderten Notfallregel, der Entwicklungsregel, entspricht. Wenn Sie das immer wieder tun, werden Sie darin sicherer und Ihre Automatismen werden sich verändern. Versuchen Sie auch, sich rein gedanklich zu verändern. Dies kann die Übung im Alltag nicht ersetzen, es hilft aber dem Prozess als Ganzem.
Veränderung durch Konsequenzen
Wenn zwei Dinge oft gleichzeitig auftreten, verknüpft Sie unser Gehirn miteinander. Wir assoziieren dann das eine mit dem anderen. Deshalb wird bei der ersten gedanklichen Veränderungsmethode, der Veränderung durch Konsequenzen, ein Trick angewandt: Sie verknüpfen die Notfallregel mit ihren negativen Konsequenzen und die Entwicklungsregel mit den positiven Folgen. Gehen Sie in vier Schritten vor:
- Notieren Sie die negativen Folgen der Notfallregel. Etwa: „Ich habe Angst, etwas falsch zu machen, arbeite deshalb mehr, als ich muss, und habe weniger Freizeit.“
- Notieren Sie die positiven Konsequenzen der Entwicklungsregel. Etwa: „Ich hätte mehr Zeit für meine Familie.“
- Lernen Sie Ihre Notfallregel, Ihre Entwicklungsregel, die negativen Folgen der Notfallregel sowie die positiven Folgen der Entwicklungsregel auswendig.
- Denken Sie möglichst oft an die Notfallregel, an deren negative Konsequenzen, an die Entwicklungsregel und an deren positive Konsequenzen – und zwar exakt in dieser Reihenfolge.
„Um das zentrale Bedürfnis zu erfassen, sollten Sie sich zunächst eine schwierige Situation im Umgang mit einem anderen Menschen vorstellen.“
Auf diese Weise werden Sie später die Entwicklungsregel mit positiven Dingen assoziieren und die Notfallregel mit negativen.
Veränderung durch positive und negative Vorstellungen
Machen Sie sich Ihre zu verändernde Notfallregel madig und Ihre Entwicklungsregel sexy. Dazu verknüpfen Sie die Notfallregel mit einer negativen Vorstellung und die Entwicklungsregel mit einer positiven. Wichtig ist, dass diese Vorstellungen oder Bilder in keinem direkten Verhältnis zur Notfall- oder Entwicklungsregel stehen. Suchen Sie sich also eine Vorstellung aus einem ganz anderen Lebensbereich aus und am besten etwas, worauf Sie sehr emotional reagieren. Gehen Sie in drei Schritten vor:
- Suchen Sie sich eine positive Vorstellung, die nicht mit der Notfall- und Entwicklungsregel zu tun hat. Das kann z. B. die Erinnerung an einen Urlaub sein.
- Suchen Sie sich eine für Sie persönlich negative Vorstellung, z. B. Ihren letzten Zahnarztbesuch.
- Stellen Sie sich Folgendes genau in dieser Reihenfolge vor: die Notfallregel, die möglichst genaue und intensive negative Vorstellung, die Entwicklungsregel, die möglichst genaue und intensive positive Vorstellung.
Veränderung durch Gegenargumente
In fünf Schritten unterstützen Sie die Veränderung der Notfallregel durch Gegenargumente:
- Im ersten Schritt halten Sie ganz allgemein fest, welche Argumente gegen Ihre Notfallregel sprechen, z. B.: „Kein Mensch ist perfekt.“
- Im zweiten Schritt halten Sie fest, was wichtige Personen in Ihrem Umfeld als Argumente gegen Ihre Notfallregel nennen. Fragen Sie diese Personen oder rufen Sie die Antworten dann in Gedanken ab.
- Notieren Sie als Drittes, welche Argumente aus Ihrer persönlichen Sicht dagegen sprechen, dass Ihre Notfallregel richtig ist. Denken Sie z. B. an konkrete Situationen, in denen sich die Regel als falsch erwiesen hat.
- Lernen Sie als Nächstes alle Gegenargumente auswendig.
- Wiederholen Sie die Gegenargumente in der folgenden Reihenfolge: Notfallregel, theoretische Gegenargumente, Argumente wichtiger Personen, Ihre eigenen Argumente.
„Ähnlich wie es in der Physik eine ,Trägheit‘ gibt, scheint es auch eine Trägheit, ein Beharrungsvermögen im Verhalten zu geben.“
Am Anfang werden Sie die Gegenargumente vielleicht als sehr abstrakt erleben. Aber mit der Zeit werden Sie persönlicher und konkreter. Der positive Effekt: Ihre alte Notfallregel wird dabei zunehmend unglaubwürdig.
Formale Veränderung
Eine zentrale Rolle bei dieser Methode spielt Ihre innere Stimme und speziell deren Submodalitäten: Geschlecht, Höhe, Richtung, Lautstärke, Geschwindigkeit, Dialekt, Sprache und Melodie. Wenn Sie diese Submodalitäten ändern, verfremden Sie den Inhalt, und Sie bekommen Distanz zur Notfallregel. Ziehen Sie sich an einen ruhigen Ort zurück und nehmen Sie sich mindestens 15 Minuten Zeit. Wenn es Ihnen hilft, schließen Sie die Augen. Sagen Sie sich die Notfallregel immer wieder vor und achten Sie darauf, welches Geschlecht, welche Lautstärke, Tonhöhe usw. sie hat. Als Nächstes verändern Sie nacheinander die verschiedenen Submodalitäten. Sagen Sie sich den Satz immer wieder mit einer anderen Veränderung vor. Wiederholen Sie die Übung häufig. Denn hier wie für die anderen Methoden gilt: Die Veränderung einer Notfallregel braucht viele Wiederholungen.
Schwierigkeiten bei der Veränderung
Unser Gehirn ist in Stresssituationen nicht besonders kreativ, sondern verlässt sich auf Automatismen. Lassen Sie sich darum Zeit und verändern Sie Ihr Verhalten nicht für aktuelle Stresssituationen, sondern für die Zukunft. Lassen Sie sich also nicht von Ihren Übungen abhalten, wenn diese nicht sofort Früchte tragen, aber nehmen Sie es auch nicht als Entschuldigung, dass Sie die Verhaltensweisen als Kind gelernt haben. Machen Sie sich vielmehr klar, dass Kinder erstens leichter lernen und zweitens weniger kritisch Ihrer Umwelt gegenüber sind. Es ist normal, wenn Sie neue Muster und Denkweisen als fremd, unnatürlich oder aufgesetzt empfinden. Das ist sogar ein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass Sie etwas verändern, dass Sie nicht stehen bleiben. Mit jeder Übung müssen Sie weniger Energie aufwenden, und das Beharrungsvermögen Ihres alten Verhaltens schwindet.
Rückfälle wegstecken
Rückfälle sind normal, machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Auch nicht, wenn die Veränderung nicht sprunghaft ist. Eine Verhaltensänderung durchläuft normalerweise mehrere Phasen: Erst mal scheint sie unmöglich zu sein, weil Ihnen anderes wichtiger ist oder es Ihnen einfach nicht bekannt ist, dass Sie Ihr Verhalten ändern sollten. Später denken Sie über die Änderung nach und suchen Informationen; Aufwand und Nutzen sind Ihnen noch nicht ganz klar. In der nächsten Phase sind Sie für die Veränderung bereit und planen sie vielleicht sogar schon. Sie probieren etwas Neues aus und schauen, welche Schwierigkeiten auftreten können. Die neue Verhaltensweise wird nun auch für andere Personen sichtbar. Schließlich festigt sich Ihr neues Verhalten und wird immer automatischer. Aber Achtung: Sie werden diese Phasen nicht nacheinander durchlaufen, sondern vor- und rückwärts hüpfen, besonders, wenn Sie Angst und Ärger empfinden, in konfliktreichen Beziehungen stecken oder in einer Situation sind, in der Sie starken sozialen Druck erleben. Sie werden vielleicht auch in einer Phase stecken bleiben. Entscheidend ist, dass Ihnen das bewusst wird: Dann können Sie weitermachen und üben, bis Sie sich Ihrer Entwicklungsregel gemäß verhalten.