Was Schule kann, darf und muss
Behördenvertreter, Pädagogik- und Didaktikprofessoren und Lehrer sollten gemeinsam neue Unterrichtskonzepte entwickeln, und zwar indem sie die Forschungsergebnisse der Neurobiologie mit einbeziehen. Doch das scheint schwierig zu sein, denn nicht nur über die Form des Unterrichts, sondern auch über seinen Inhalt und sogar über sein Ziel herrscht Uneinigkeit: Soll Schule Wissen allgemeiner oder praxisnaher Natur weitergeben? Ist Wissensvermittlung das alleinige Ziel oder muss bzw. darf der Lehrer versuchen, die Persönlichkeit des Schülers zum Positiven zu beeinflussen? Letzteres ist unbedingt mit Ja zu beantworten. Die Schule sollte autonome Persönlichkeiten ins Leben entlassen, die ihre Anliegen konsequent verfolgen, dabei aber flexibel bleiben; die auf ihr eigenes Wohlbefinden achten und gleichzeitig wertvolle Mitglieder der Gesellschaft werden. Zur Entwicklung der Unterrichtskonzepte für die Heranbildung solcher stabiler Persönlichkeiten können die Hirnforschung und die Psychologie empirisch überprüfte, gesicherte Erkenntnisse beitragen.
Persönlichkeit
Der Komplex des Lehrens und Lernens wird maßgeblich durch die Persönlichkeit sowohl des Schülers als auch des Pädagogen bestimmt. Die Persönlichkeit eines Menschen entscheidet darüber, wie gern und gut er lernt. Es macht einen Unterschied, ob jemand grundsätzlich neugierig ist, ob er Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten hat, ob er seine Talente realistisch einschätzt und ob er Geduld und Aufmerksamkeit aufbringt – oder ob er das eben nicht tut.
„Lehren und Lernen finden stets im Rahmen der Persönlichkeit des Lehrenden und Lernenden statt.“
Die Psychologie sieht die menschliche Persönlichkeit als ein Sammelsurium verschiedener Merkmale, die unterschiedlich stark entwickelt sind. Dazu gehören etwa die Eigenschaften extrovertiert vs. introvertiert oder impulsiv vs. ängstlich. Für die Neurowissenschaft entsteht Persönlichkeit im Gehirn, wobei ein Teil angeboren ist und ein Teil von Umwelteinflüssen bestimmt wird. Das folgende Vier-Ebenen-Modell illustriert, wie sich durch das Zusammenspiel der einzelnen Bereiche des Gehirns Persönlichkeit formt:
- Die vegetativ-affektive Ebene stellt sicher, dass der Mensch überlebt. Hier werden der Stoffwechsel, der Schlaf, der Kreislauf und der Blutdruck überwacht. Gleichzeitig regelt diese Ebene Empfindungen wie Wut, Angriffslust und Libido. Das genetisch bedingte Temperament eines Menschen wird bereits im Mutterleib bestimmt.
- Auf der zweiten Ebene erfolgt die emotionale Konditionierung. Besonders wichtig ist die Zeit unmittelbar nach der Geburt. Ereignisse mit positiven Folgen möchten wir wiederholen, solche mit schmerzhaften Folgen umgehen.
- Die dritte Ebene ist verantwortlich für die bewussten Emotionen, die mehrheitlich durch andere gelehrt werden. Hier sitzen das Bauchgefühl, die moralischen Ansichten und das, was Sigmund Freud das „Über-Ich“ nannte. Dieses Hirnareal benötigt bis zu 20 Jahre, um zur vollständigen Reife zu gelangen.
- Während die genannten drei Ebenen dem limbischen System als Hort der Gefühle, der Affekte und der Ethik angehören, beinhaltet die vierte, kognitiv-sprachliche Ebene die für die Intelligenz und die Wahrnehmung zuständigen Zonen. Das vernunftgeleitete Ich und der Verstand haben hier ihren Platz.
„Wenn es gilt, dass ,kein Schüler ist wie der andere‘, dann gilt dies wohl auch für den Lehrer.“
Diese vier Ebenen bzw. die entsprechenden Hirnareale interagieren miteinander. Sie senden Signale aus, die mithilfe von Neuromodulatoren, Neuropeptiden und Neurohormonen weitergetragen werden. Diese Stoffe sind unter anderen Bezeichnungen besser bekannt: So produziert das Gehirn angesichts potenziell gefährlicher Situationen Noradrenalin und Adrenalin – in hohen Dosen beeinflussen diese Stoffe schon das ungeborene Kind im Mutterleib negativ. Serotonin wiederum dient der Beruhigung. Menschen mit einem niedrigen Serotoninspiegel neigen zu Depressionen, Schlaflosigkeit und körperlicher Gewalt. Erlebt ein Kind ein psychisches Trauma, kann dies die Fähigkeit zur Selbstberuhigung nachhaltig schädigen.
Motiv und Ziel
Menschen werden von verschiedenen Motiven angetrieben. Hat man Durst und trinkt etwas, handelt es sich um ein biogenes Motiv. Zu den soziogenen Motiven zählen der Wunsch nach Anschluss oder jener, Leistung zu erbringen. Beim Thema Lernen ist das letztere Motiv interessant: Menschen verfolgen ein Ziel umso intensiver, je höher die Aussicht auf einen Erfolg ist und je größer der Wert ist, den man diesem beimisst. Welche Ziele sich eine Person steckt, hängt wiederum von ihrer Persönlichkeit ab. Wichtig ist, dass die unbewussten Motive mit den bewussten Zielen übereinstimmen. Stellen Sie sich z. B. einen schüchternen, intelligenten jungen Mann vor. Er wird von den Erziehern gefördert, schließt ein Studium ab und macht Karriere. In seiner Funktion erntet er Bewunderung, er steht in der Öffentlichkeit. Trotz seiner Erfolge wird er nie glücklich sein, da seinem im Grunde ruhigen Charakter ein zurückgezogenes Leben viel eher entspräche. Es liegt eine Inkongruenz zwischen Motiv und Ziel vor. Selbstwirksamkeit kann ein solcher Mensch leider nicht erreichen. Selbstwirksame Personen sind solche, die kontinuierlich ihre realistischen, nicht aber allzu einfach erreichbaren Ziele verfolgen und sich an ihren Erfolgen freuen können.
Lernen und Gedächtnis
Die Fähigkeit zu lernen hält den Menschen am Leben. Wir kommen mit begrenztem Wissen zur Welt und müssen erst entdecken, in welchen Situationen welche Reaktionen angemessen sind. Bei einem lauten Geräusch laufen wir vielleicht erst einmal davon, weil dieses unerwartete Ereignis einen Alarm in uns auslöst. Knallt es aber öfters, gewöhnen wir uns daran – das ist Habituation: Das Gehirn registriert, dass keine starke Abweichung vom Erwarteten mehr vorliegt. Von klassischer Konditionierung spricht man, wenn ein Mensch oder ein Tier mit einer automatischen Reaktion auf einen bestimmten Reiz reagiert. Manche Erwachsene kriegen immer noch ein mulmiges Gefühl, wenn sie an einem Schulgebäude vorbeigehen. In diesem Fall liegt eine Kontextkonditionierung vor. Außerdem lernt ein Mensch durch Imitation (ein Kind schaut sich Verhaltensweisen von den Eltern ab) sowie durch operante Konditionierung: Taten, die positive Folgen haben, werden wiederholt, während man jene mit negativen oder gar keinen Auswirkungen vermeidet.
„Psychische Ausgeglichenheit wird über eine teils genetisch, teils über Umwelteinflüsse und eigene Erfahrungen bedingte, höchst komplexe, aber recht stabile Interaktion vieler Botenstoffe und Hirnzentren bewirkt.“
Es gibt verschiedene Gedächtnisformen: das Wissens- oder Faktengedächtnis, das autobiografische, episodische und emotionale Gedächtnis sowie das prozedurale Gedächtnis, in dem Gewohnheiten und Fertigkeiten gespeichert sind. Eine neue Information muss erst durch das Ultrakurzzeit- und dann das Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis dringen, bevor sie im Langzeitgedächtnis verankert wird. Erinnerungen verblassen langsam, und Fertigkeiten wie das Klavierspielen verlernt man nach und nach, wenn man sie nicht praktiziert. Das macht durchaus Sinn: Der Mensch muss Dinge vergessen können, vor allem wenn es sich um negative Erlebnisse handelt. Dies führt aber auch dazu, dass wir uns 20 Minuten, nachdem wir einen Stoff erlernt haben, nur noch an 60 Prozent erinnern können und dass überhaupt nur 15 Prozent langfristig im Gedächtnis verankert bleiben (zumindest beim Lernen sinnloser Silben ist das so, wie ein Experiment ergab; bei anderen Lerninhalten sind die Werte besser). Will man etwas behalten, muss man es ständig wiederholen. So einfach ist das.
„Weniger Stoff, besser vermittelt, ist wesentlich effektiver als mehr Stoff, schlecht vermittelt.“
Unser Gehirn bewertet eine riesengroße Menge an Informationen und unterscheidet Wichtiges von Unwichtigem. Die Konzentration lässt aber nach einer bestimmten Zeit hoher Aufmerksamkeit nach. Bei einem komplizierten Vortrag steigt der Zuhörer nach wenigen Minuten aus. Die Informationsmenge, die das Arbeitsgedächtnis bearbeiten kann, ist beschränkt. Wenn die Grenze erreicht ist, braucht es eine Pause.
Intelligenz
Obwohl der Begriff der Intelligenz umstritten ist, wird er meist mit einem sehr effektiven Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis in Verbindung gebracht. Intelligente Menschen haben eine raschere Wahrnehmung und lösen Probleme mithilfe des Arbeitsgedächtnisses schneller. Entgegen der in Schulen oft gehörten Aufforderung „Nun streng doch mal dein Gehirn an!“ strapazieren Intelligente ihr Gehirn weniger, einfach deshalb, weil sie es effizienter nutzen. Ein Zusammenhang zwischen der Größe des Gehirns und der Intelligenz ist nicht belegt.
„Nötig ist eine intensive Dreiecksbeziehung zwischen Psycho-Neurowissenschaftlern, Pädagogen-Didaktikern und Schul-, Erwachsenen- und Weiterbildungspraktikern.“
Eine Fülle von Studien belegt, dass die allgemeine Intelligenz eines Kindes zu 50 Prozent auf genetische Faktoren und die Umstände während der Schwangerschaft zurückgeht. Gleich wichtig ist aber das Umfeld, in dem das Kind aufwächst. Wird es in einem Elternhaus erzogen, in dem gute Leistungen in der Schule hoch bewertet werden und in dem die Eltern selbst eine gute Bildung aufweisen, wird es später eher Karriere machen. Etwa 20 IQ-Punkte lassen sich auf solche Umweltfaktoren zurückführen. Trotzdem dürfen Kinder in den ersten Jahren nicht gezielt gefördert werden. Wollen Sie aus Ihrem Kind beispielsweise einen zukünftigen Mozart machen, schränken Sie seinen Lernhorizont zu sehr ein. Intelligente Menschen sind oft in einer unterstützenden und liebevollen Familie aufgewachsen, in der ihre Neugierde in möglichst vielen unterschiedlichen Bereichen gestillt wurde.
Die Rolle der Gefühle
Emotionen spielen beim Lernen eine wichtige Rolle. So beeinflussen die Atmosphäre in der Schule und das Vertrauensverhältnis zum Lehrer den Lernerfolg ebenso wie das Image von Bildung bei Bezugspersonen wie Eltern und Freunden. Langweiliges ermüdet schnell, während uns positive Erlebnisse oder emotional aufgeladene Situationen in Erinnerung bleiben. Doch Vorsicht: Die Emotionen dürfen nicht zu stark sein, da sie ansonsten das Kurzzeitgedächtnis behindern. Sich am Nachmittag, nach dem Unterricht, Gewaltvideos anzuschauen, stört etwa die Gedächtnisleistung und macht tatsächlich dumm.
Bessere Schule, bessere Bildung
Wir brauchen Lehrer, die sich in Teams zusammenschließen und neue Unterrichtskonzepte ausprobieren. Diesen Leitlinien sollten sie folgen:
- Ein Pädagoge ist kein Vertrauter des Schülers, sondern soll als Autorität respektiert sein.
- Die Auswahl des Unterrichtsstoffes durch die Schüler funktioniert nicht, es sei denn man hat es mit einigen wenigen Hochbegabten zu tun.
- Ein Schüler muss die Unterrichtssprache fließend beherrschen. Sein Gehirn lernt keine Inhalte, solange es mit dem Verstehen der Sprache aufgehalten wird.
- Erzieher haben den Auftrag, den Schüler auch in der Entfaltung seiner Persönlichkeit zu unterstützen. Schließlich gibt es immer mehr Familien mit alleinerziehenden, arbeitslosen oder alkoholkranken Eltern (um nur einige wenige Problemfelder zu nennen); das psychosoziale Umfeld der Kinder trägt oft nicht zu einer gesunden Entwicklung bei.
- Psychologen sollen den Schülern Methoden zur Selbstberuhigung und zum Umgang mit Stress und negativen Gefühlen zeigen.
- Lehrer müssen ein Auge darauf haben, dass Mobbing unter den Schülern verhindert wird.
- Die Lehrer sind gefordert, sich in den Bereichen Persönlichkeitspsychologie und Konfliktmanagement weiterzubilden.
- Frontalunterricht, Gruppenarbeiten sowie Einzelarbeiten sind als Unterrichtsformen abzuwechseln – auch auf die Gefahr hin, dass nicht der gesamte Stoff behandelt werden kann. Frontalvorträge dürfen nicht länger als 30 Minuten dauern.
- Besser geeignet als Unterrichtseinheiten von jeweils 45 Minuten sind Blöcke von eineinhalb bis zwei Stunden.
- Fachübergreifender Unterricht hilft den Schülern, Informationen aus unterschiedlichen Bereichen in einen logischen Zusammenhang zu bringen.
- Die Lehrkraft soll nicht die Klasse wechseln, sondern die Klasse den Unterrichtsraum. Ein je nach Thema entsprechend gestaltetes Zimmer fördert das Lernen.