Bildung braucht Persönlichkeit

Buch Bildung braucht Persönlichkeit

Wie Lernen gelingt

Klett-Cotta,
Erstausgabe:2011


Rezension

Psychologie, Pädagogik, Didaktik und Neu­rowis­senschaft – kaum ein anderer Autor hat sich so intensiv für deren Vernetzung eingesetzt wie Gerhard Roth. In diesem Buch erklärt er, warum die eine Disziplin ohne die anderen nicht auskommt. Er schildert, wie sich ein Austausch unter den Wis­senschaften fördern lässt und wie man dadurch das Bil­dungssys­tem reformieren kann. Roths Erken­nt­nisse sind nicht revolutionär, aber seine Empfehlun­gen für den Lehrbetrieb haben es in sich. Roth liefert einen kompakten Befund über den Forschungs­stand der erwähnten Disziplinen, gewürzt mit einigen populärwis­senschaftlichen Zus­pitzun­gen. BooksInShort empfiehlt die Lektüre allen Eltern, Erziehern und Lehrern, aber auch allen Personen im Un­ternehmen­su­m­feld, die sich für Lernen und Weit­er­bil­dung in­ter­essieren.

Take-aways

  • Intelligenz ist zu 50 Prozent angeboren und zu 50 Prozent auf das Umfeld zurückzuführen.
  • In­tel­li­gente Menschen haben ein ef­fizien­teres Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis und beanspruchen ihr Gehirn weniger.
  • Das menschliche Gehirn lässt sich in vier Ebenen einteilen: veg­e­ta­tiv-af­fek­tive Ebene, emotionale Kon­di­tion­ierung, bewusste Emotionen und kog­ni­tiv-sprach­liche Ebene.
  • Bei einem glücklichen und er­fol­gre­ichen Menschen stimmen unbewusste Motive mit bewussten Zielen überein.
  • Um etwas langfristig im Gedächtnis zu behalten, hilft nur eines: wiederholen!
  • Emotionen bee­in­flussen, wie gut man In­for­ma­tio­nen verarbeitet.
  • Die Persönlichkeit eines Schülers bestimmt den Lernerfolg; es gehört zu den Aufgaben des Lehrers, sie positiv zu bee­in­flussen.
  • Behörden, Lehrer und Wis­senschaftler müssen gemeinsam über neue Un­ter­richt­skonzepte nachdenken.
  • Lehrer sollten zwischen Frontalun­ter­richt, Grup­pe­nar­beit und Einze­lar­beit abwechseln.
  • Un­ter­richtsblöcke von eineinhalb bis zwei Stunden eignen sich fürs Lernen besser als die in der Realität vorherrschen­den 45-Minuten-Ein­heiten.
 

Zusammenfassung

Was Schule kann, darf und muss

Behörden­vertreter, Pädagogik- und Di­dak­tikpro­fes­soren und Lehrer sollten gemeinsam neue Un­ter­richt­skonzepte entwickeln, und zwar indem sie die Forschungsergeb­nisse der Neu­ro­bi­olo­gie mit einbeziehen. Doch das scheint schwierig zu sein, denn nicht nur über die Form des Unterrichts, sondern auch über seinen Inhalt und sogar über sein Ziel herrscht Uneinigkeit: Soll Schule Wissen allgemeiner oder praxisnaher Natur weitergeben? Ist Wis­sensver­mit­tlung das alleinige Ziel oder muss bzw. darf der Lehrer versuchen, die Persönlichkeit des Schülers zum Positiven zu bee­in­flussen? Letzteres ist unbedingt mit Ja zu beantworten. Die Schule sollte autonome Persönlichkeiten ins Leben entlassen, die ihre Anliegen konsequent verfolgen, dabei aber flexibel bleiben; die auf ihr eigenes Wohlbefinden achten und gle­ichzeitig wertvolle Mitglieder der Gesellschaft werden. Zur Entwicklung der Un­ter­richt­skonzepte für die Her­an­bil­dung solcher stabiler Persönlichkeiten können die Hirn­forschung und die Psychologie empirisch überprüfte, gesicherte Erken­nt­nisse beitragen.

Persönlichkeit

Der Komplex des Lehrens und Lernens wird maßgeblich durch die Persönlichkeit sowohl des Schülers als auch des Pädagogen bestimmt. Die Persönlichkeit eines Menschen entscheidet darüber, wie gern und gut er lernt. Es macht einen Unterschied, ob jemand grundsätzlich neugierig ist, ob er Vertrauen in sich und seine Fähigkeiten hat, ob er seine Talente realistisch einschätzt und ob er Geduld und Aufmerk­samkeit aufbringt – oder ob er das eben nicht tut.

„Lehren und Lernen finden stets im Rahmen der Persönlichkeit des Lehrenden und Lernenden statt.“

Die Psychologie sieht die menschliche Persönlichkeit als ein Sam­mel­surium ver­schiedener Merkmale, die un­ter­schiedlich stark entwickelt sind. Dazu gehören etwa die Eigen­schaften ex­tro­vertiert vs. in­tro­vertiert oder impulsiv vs. ängstlich. Für die Neu­rowis­senschaft entsteht Persönlichkeit im Gehirn, wobei ein Teil angeboren ist und ein Teil von Umwelteinflüssen bestimmt wird. Das folgende Vier-Ebe­nen-Mod­ell illustriert, wie sich durch das Zusam­men­spiel der einzelnen Bereiche des Gehirns Persönlichkeit formt:

  1. Die veg­e­ta­tiv-af­fek­tive Ebene stellt sicher, dass der Mensch überlebt. Hier werden der Stof­fwech­sel, der Schlaf, der Kreislauf und der Blutdruck überwacht. Gle­ichzeitig regelt diese Ebene Empfind­un­gen wie Wut, An­griff­s­lust und Libido. Das genetisch bedingte Temperament eines Menschen wird bereits im Mutterleib bestimmt.
  2. Auf der zweiten Ebene erfolgt die emotionale Kon­di­tion­ierung. Besonders wichtig ist die Zeit unmittelbar nach der Geburt. Ereignisse mit positiven Folgen möchten wir wiederholen, solche mit schmerzhaften Folgen umgehen.
  3. Die dritte Ebene ist ve­r­ant­wortlich für die bewussten Emotionen, die mehrheitlich durch andere gelehrt werden. Hier sitzen das Bauchgefühl, die moralischen Ansichten und das, was Sigmund Freud das „Über-Ich“ nannte. Dieses Hirnareal benötigt bis zu 20 Jahre, um zur vollständigen Reife zu gelangen.
  4. Während die genannten drei Ebenen dem limbischen System als Hort der Gefühle, der Affekte und der Ethik angehören, beinhaltet die vierte, kog­ni­tiv-sprach­liche Ebene die für die Intelligenz und die Wahrnehmung zuständigen Zonen. Das ver­nun­ft­geleit­ete Ich und der Verstand haben hier ihren Platz.
„Wenn es gilt, dass ,kein Schüler ist wie der andere‘, dann gilt dies wohl auch für den Lehrer.“

Diese vier Ebenen bzw. die entsprechen­den Hirnareale in­ter­agieren miteinander. Sie senden Signale aus, die mithilfe von Neu­ro­mod­u­la­toren, Neu­ropep­ti­den und Neu­ro­hor­mo­nen weit­er­ge­tra­gen werden. Diese Stoffe sind unter anderen Beze­ich­nun­gen besser bekannt: So produziert das Gehirn angesichts potenziell gefährlicher Situationen No­ra­dren­a­lin und Adrenalin – in hohen Dosen bee­in­flussen diese Stoffe schon das ungeborene Kind im Mutterleib negativ. Serotonin wiederum dient der Beruhigung. Menschen mit einem niedrigen Sero­tonin­spiegel neigen zu De­pres­sio­nen, Schlaflosigkeit und körperlicher Gewalt. Erlebt ein Kind ein psychisches Trauma, kann dies die Fähigkeit zur Selb­st­beruhi­gung nachhaltig schädigen.

Motiv und Ziel

Menschen werden von ver­schiede­nen Motiven angetrieben. Hat man Durst und trinkt etwas, handelt es sich um ein biogenes Motiv. Zu den soziogenen Motiven zählen der Wunsch nach Anschluss oder jener, Leistung zu erbringen. Beim Thema Lernen ist das letztere Motiv interessant: Menschen verfolgen ein Ziel umso intensiver, je höher die Aussicht auf einen Erfolg ist und je größer der Wert ist, den man diesem beimisst. Welche Ziele sich eine Person steckt, hängt wiederum von ihrer Persönlichkeit ab. Wichtig ist, dass die unbewussten Motive mit den bewussten Zielen übere­in­stim­men. Stellen Sie sich z. B. einen schüchternen, in­tel­li­gen­ten jungen Mann vor. Er wird von den Erziehern gefördert, schließt ein Studium ab und macht Karriere. In seiner Funktion erntet er Bewunderung, er steht in der Öffentlichkeit. Trotz seiner Erfolge wird er nie glücklich sein, da seinem im Grunde ruhigen Charakter ein zurückgezogenes Leben viel eher entspräche. Es liegt eine Inkongruenz zwischen Motiv und Ziel vor. Selb­st­wirk­samkeit kann ein solcher Mensch leider nicht erreichen. Selb­st­wirk­same Personen sind solche, die kon­tinuier­lich ihre re­al­is­tis­chen, nicht aber allzu einfach er­re­ich­baren Ziele verfolgen und sich an ihren Erfolgen freuen können.

Lernen und Gedächtnis

Die Fähigkeit zu lernen hält den Menschen am Leben. Wir kommen mit begrenztem Wissen zur Welt und müssen erst entdecken, in welchen Situationen welche Reaktionen angemessen sind. Bei einem lauten Geräusch laufen wir vielleicht erst einmal davon, weil dieses unerwartete Ereignis einen Alarm in uns auslöst. Knallt es aber öfters, gewöhnen wir uns daran – das ist Habituation: Das Gehirn registriert, dass keine starke Abweichung vom Erwarteten mehr vorliegt. Von klassischer Kon­di­tion­ierung spricht man, wenn ein Mensch oder ein Tier mit einer au­toma­tis­chen Reaktion auf einen bestimmten Reiz reagiert. Manche Erwachsene kriegen immer noch ein mulmiges Gefühl, wenn sie an einem Schulgebäude vorbeigehen. In diesem Fall liegt eine Kon­tex­tkon­di­tion­ierung vor. Außerdem lernt ein Mensch durch Imitation (ein Kind schaut sich Ver­hal­tensweisen von den Eltern ab) sowie durch operante Kon­di­tion­ierung: Taten, die positive Folgen haben, werden wiederholt, während man jene mit negativen oder gar keinen Auswirkun­gen vermeidet.

„Psychische Aus­geglichen­heit wird über eine teils genetisch, teils über Umwelteinflüsse und eigene Erfahrungen bedingte, höchst komplexe, aber recht stabile Interaktion vieler Botenstoffe und Hirnzentren bewirkt.“

Es gibt ver­schiedene Gedächt­n­is­for­men: das Wissens- oder Faktengedächtnis, das au­to­bi­ografis­che, episodische und emotionale Gedächtnis sowie das prozedurale Gedächtnis, in dem Gewohn­heiten und Fer­tigkeiten gespeichert sind. Eine neue Information muss erst durch das Ul­tra­kurzzeit- und dann das Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis dringen, bevor sie im Langzeitgedächtnis verankert wird. Erin­nerun­gen verblassen langsam, und Fer­tigkeiten wie das Klavier­spie­len verlernt man nach und nach, wenn man sie nicht praktiziert. Das macht durchaus Sinn: Der Mensch muss Dinge vergessen können, vor allem wenn es sich um negative Erlebnisse handelt. Dies führt aber auch dazu, dass wir uns 20 Minuten, nachdem wir einen Stoff erlernt haben, nur noch an 60 Prozent erinnern können und dass überhaupt nur 15 Prozent langfristig im Gedächtnis verankert bleiben (zumindest beim Lernen sinnloser Silben ist das so, wie ein Experiment ergab; bei anderen Lern­in­hal­ten sind die Werte besser). Will man etwas behalten, muss man es ständig wiederholen. So einfach ist das.

„Weniger Stoff, besser vermittelt, ist wesentlich effektiver als mehr Stoff, schlecht vermittelt.“

Unser Gehirn bewertet eine riesengroße Menge an In­for­ma­tio­nen und un­ter­schei­det Wichtiges von Unwichtigem. Die Konzen­tra­tion lässt aber nach einer bestimmten Zeit hoher Aufmerk­samkeit nach. Bei einem kom­plizierten Vortrag steigt der Zuhörer nach wenigen Minuten aus. Die In­for­ma­tion­s­menge, die das Arbeitsgedächtnis bearbeiten kann, ist beschränkt. Wenn die Grenze erreicht ist, braucht es eine Pause.

Intelligenz

Obwohl der Begriff der Intelligenz umstritten ist, wird er meist mit einem sehr effektiven Arbeits- oder Kurzzeitgedächtnis in Verbindung gebracht. In­tel­li­gente Menschen haben eine raschere Wahrnehmung und lösen Probleme mithilfe des Arbeitsgedächtnisses schneller. Entgegen der in Schulen oft gehörten Auf­forderung „Nun streng doch mal dein Gehirn an!“ stra­pazieren In­tel­li­gente ihr Gehirn weniger, einfach deshalb, weil sie es effizienter nutzen. Ein Zusam­men­hang zwischen der Größe des Gehirns und der Intelligenz ist nicht belegt.

„Nötig ist eine intensive Dreiecks­beziehung zwischen Psy­cho-Neu­rowis­senschaftlern, Päda­gogen-Di­dak­tik­ern und Schul-, Erwach­se­nen- und Weit­er­bil­dung­sprak­tik­ern.“

Eine Fülle von Studien belegt, dass die allgemeine Intelligenz eines Kindes zu 50 Prozent auf genetische Faktoren und die Umstände während der Schwanger­schaft zurückgeht. Gleich wichtig ist aber das Umfeld, in dem das Kind aufwächst. Wird es in einem Elternhaus erzogen, in dem gute Leistungen in der Schule hoch bewertet werden und in dem die Eltern selbst eine gute Bildung aufweisen, wird es später eher Karriere machen. Etwa 20 IQ-Punkte lassen sich auf solche Umwelt­fak­toren zurückführen. Trotzdem dürfen Kinder in den ersten Jahren nicht gezielt gefördert werden. Wollen Sie aus Ihrem Kind beispiel­sweise einen zukünftigen Mozart machen, schränken Sie seinen Lern­hor­i­zont zu sehr ein. In­tel­li­gente Menschen sind oft in einer unterstützenden und liebevollen Familie aufgewach­sen, in der ihre Neugierde in möglichst vielen un­ter­schiedlichen Bereichen gestillt wurde.

Die Rolle der Gefühle

Emotionen spielen beim Lernen eine wichtige Rolle. So bee­in­flussen die Atmosphäre in der Schule und das Ver­trauensverhältnis zum Lehrer den Lernerfolg ebenso wie das Image von Bildung bei Bezugsper­so­nen wie Eltern und Freunden. Lang­weiliges ermüdet schnell, während uns positive Erlebnisse oder emotional aufgeladene Situationen in Erinnerung bleiben. Doch Vorsicht: Die Emotionen dürfen nicht zu stark sein, da sie ansonsten das Kurzzeitgedächtnis behindern. Sich am Nachmittag, nach dem Unterricht, Gewaltvideos anzuschauen, stört etwa die Gedächt­nisleis­tung und macht tatsächlich dumm.

Bessere Schule, bessere Bildung

Wir brauchen Lehrer, die sich in Teams zusam­men­schließen und neue Un­ter­richt­skonzepte aus­pro­bieren. Diesen Leitlinien sollten sie folgen:

  • Ein Pädagoge ist kein Vertrauter des Schülers, sondern soll als Autorität respektiert sein.
  • Die Auswahl des Un­ter­richtsstoffes durch die Schüler funk­tion­iert nicht, es sei denn man hat es mit einigen wenigen Hochbe­gabten zu tun.
  • Ein Schüler muss die Un­ter­richtssprache fließend beherrschen. Sein Gehirn lernt keine Inhalte, solange es mit dem Verstehen der Sprache aufgehalten wird.
  • Erzieher haben den Auftrag, den Schüler auch in der Entfaltung seiner Persönlichkeit zu unterstützen. Schließlich gibt es immer mehr Familien mit allein­erziehen­den, ar­beit­slosen oder alko­holkranken Eltern (um nur einige wenige Prob­lem­felder zu nennen); das psy­chosoziale Umfeld der Kinder trägt oft nicht zu einer gesunden Entwicklung bei.
  • Psychologen sollen den Schülern Methoden zur Selb­st­beruhi­gung und zum Umgang mit Stress und negativen Gefühlen zeigen.
  • Lehrer müssen ein Auge darauf haben, dass Mobbing unter den Schülern verhindert wird.
  • Die Lehrer sind gefordert, sich in den Bereichen Persönlichkeit­spsy­cholo­gie und Kon­flik­t­man­age­ment weit­erzu­bilden.
  • Frontalun­ter­richt, Grup­pe­nar­beiten sowie Einze­lar­beiten sind als Un­ter­richts­for­men abzuwech­seln – auch auf die Gefahr hin, dass nicht der gesamte Stoff behandelt werden kann. Frontalvorträge dürfen nicht länger als 30 Minuten dauern.
  • Besser geeignet als Un­ter­richt­sein­heiten von jeweils 45 Minuten sind Blöcke von eineinhalb bis zwei Stunden.
  • Fachübergreifender Unterricht hilft den Schülern, In­for­ma­tio­nen aus un­ter­schiedlichen Bereichen in einen logischen Zusam­men­hang zu bringen.
  • Die Lehrkraft soll nicht die Klasse wechseln, sondern die Klasse den Un­ter­richt­sraum. Ein je nach Thema entsprechend gestaltetes Zimmer fördert das Lernen.

Über den Autor

Gerhard Roth studierte Philosophie, Germanistik, Musik­wis­senschaft und Biologie und promovierte in Philosophie und anschließend in Zoologie. Er hält seit 1976 eine Professur für Ver­hal­tensphys­i­olo­gie und En­twick­lungsneu­ro­bi­olo­gie an der Universität Bremen. Zu seinen über 200 Veröffentlichun­gen zählt das 2007 erschienene Buch Persönlichkeit, Entschei­dung und Verhalten.