Jeder ist kreativ
Wer bewundert sie nicht, die inspirierenden Gemälde, Gedichte, Theaterstücke und Opern oder die vielen anderen Werke, die wir den größten Künstlern verschiedener Epochen zu verdanken haben? Nicht zu reden von genialen Wissenschaftlern und Tüftlern, die die Welt mit segensreichen Erfindungen verbessert haben. Oft verharren wir in staunender Bewunderung vor den Einfällen der Genies und können uns kaum vorstellen, dass wir selbst auch nur ansatzweise über solche Ideen verfügen. Doch das ist ganz falsch. Zwar vollbringen nur wenige Menschen schöpferische Spitzenleistungen. Doch jeder Mensch ist in seinem täglichen Leben kreativ. Diese Eigenschaft kann man als „Alltagskreativität“ bezeichnen.
„Eine Leistung, die neu und gleichzeitig nützlich ist, bezeichnet man als kreativ.“
Kreativ in diesem Sinn ist alles, was neu und zugleich nützlich ist – wobei mit „neu“ nicht gemeint ist, dass etwas vorher noch nicht da war: Jeden Morgen ein frisches Brötchen zu backen ist nicht kreativ; es braucht schon eine originelle Idee. Nützlichkeit umfasst nicht nur pure Zweckmäßigkeit, wie etwa die einer Teekanne, sondern auch ideellen oder geistigen Nutzen, wie ihn z. B. die Malerei hervorbringt. Sowohl der Grad der Neuheit als auch der Nützlichkeit können unterschiedlich ausgeprägt sein. Für den Innovationsgrad empfiehlt sich etwa eine Abstufung, die von null (z. B. täglich frische Brötchen) bis sieben, für bisher nie Dagewesenes (z. B. die Evolutionstheorie), reicht. Auch der Nutzen lässt sich abstufen: Von Stufe eins, bei der das Ergebnis nur dem Erzeuger selbst nutzt (z. B. das von einem Hobbymaler geschaffene Bild) bis zu Stufe sechs, bei der ein Nutzen für die ganze Menschheit besteht (z. B. die Entwicklung der Fotografie).
„Jeder Mensch ist in seinem Leben immer wieder kreativ.“
Kreative Spitzenleistungen haben in beiden Bereichen, Innovation und Nützlichkeit, extrem hohe Werte, Alltagskreativität dagegen kommt kaum über die ersten beiden Stufen hinaus. Sie ist in vielen Lebensbereichen anzutreffen und hat oft eher spielerische Formen, sie ist ein Bestandteil des täglichen Lebens. Beispiele dafür gibt es viele, von kreativen Weihnachtskarten auf dem heimischen Computer bis hin zu selbst erfundenen Kochrezepten oder originell gestalteten Familienfesten. Daneben gibt es noch weitere, kaum beachtete Formen der Kreativität: z. B. die List, die schlagfertige Antwort oder die Intuition, die spontan zu einer kreativen Lösung in einer brenzligen Situation führt.
Kreativität ist eine Entscheidung
Allerdings nützt die tollste Idee gar nichts, wenn sie nicht auch umgesetzt wird. Das gilt für den Alltagskreativen genauso wie für den genialen Künstler oder Erfinder. Oft herrscht der Glaube vor, dass Kreativität angeboren sei, doch das stimmt so nicht. Man muss sich für Kreativität entscheiden, man muss sie wollen. Oft ist das gar nicht so einfach – sei es, weil der Gruppendruck abweichende Ideen ablehnt (etwa was Kleidung in Jugendgruppen betrifft), weil Experten die Neuerung als schädlich einstufen (Beispiel Eisenbahn), weil eine Idee gängige Lehrmeinungen widerlegt (Bakterien als Ursache von Magengeschwüren), weil sie religiösen Überzeugungen widerspricht (Evolutionstheorie), weil sie moralische Regeln verletzt (Tampons) oder weil sie schlicht unterschätzt wird (Computer).
„Für Kreativität kann man sich entscheiden!“
Wer sich Kreativität als Quell ständigen Vergnügens und permanenter Freude vorstellt, liegt falsch: Oft ist der Weg zur kreativen Leistung mit Misserfolgen gepflastert oder der Erfolg will sich überhaupt nicht einstellen. Und selbst wenn alles gelingt, werden Topleistungen nicht immer als solche anerkannt. Oder, noch schlimmer: Sie werden von anderen kopiert, die dann Ruhm und Ehre einstreichen.
Wertschätzung von Kreativität
Kreativität wird also keineswegs automatisch gewürdigt, und das gilt nicht nur für Spitzenleistungen, sondern erst recht im Alltag. Zudem schätzt die Nachwelt die Nützlichkeit einer Idee oft mehr als die Originalität. Dann erntet erst der Weiterentwickler den Ruhm, nicht der eigentliche Erfinder (so geschehen z. B. bei Eisenbahn und Dampfmaschine). Wer Kreativität bei anderen richtig wertschätzt, kann auch selbst leichter kreativ werden. Schauen Sie sich einfach mal um: Produktgestaltung, Literatur, bildende Kunst, Werbung, Schaufensterdekoration, Gesellschaftsspiele – die Welt ist voller origineller Ideen. Wer sich bei einigen innovativen Ansätzen unbehaglich fühlt, hat vielleicht innere Denkschranken. Die können beispielsweise durch religiöse oder politische Überzeugungen, durch Unsicherheit oder psychische Hemmungen bedingt sein.
Die Bedingungen der Kreativität
Was treibt den Kreativen an? Normalerweise ist es keineswegs der abstrakte genialische Schaffensdrang, sondern vielmehr ein Problem, das gelöst werden muss. Manchmal ist es pure Not – wenn etwa ein Arzt eine neue Therapie für seine unheilbar kranke Gattin entwickelt. Auch körperliches Leiden oder seelische Qualen können den Schaffensdrang durchaus beflügeln. Zudem helfen nicht selten Alkohol oder andere Drogen, von Marihuana über LSD bis Meskalin, der Inspiration auf die Sprünge. Gerade bei Genies sind die Grenzen zur psychischen Erkrankung manchmal fließend, allerdings gilt dies eher für Künstler als für Naturwissenschaftler. Nicht wenige Genies pflegen auch einen ungewöhnlichen Lebensstil, der beispielsweise von eingeschränkten Sozialkontakten, motorischen oder sprachlichen Defiziten oder ungewöhnlichem Verhalten, etwa dem strikten Einhalten von Routinen, geprägt ist. Viele sind Außenseiter, etwa wegen einer homosexuellen Neigung oder weil sie früh einen Elternteil verloren haben.
„Man wird nicht kreativ geboren.“
Viele Kreative suchen außerdem gezielt nach Anregungen, sie interessieren sich für alles Mögliche, unternehmen Reisen in ferne Länder oder pflegen ein Hobby auf professionellem Niveau. Albert Einstein beispielsweise spielte sehr gut Geige, Goethe beschäftigte sich mit Naturwissenschaften. Fördernd wirken außerdem ein unterstützendes Umfeld, etwa Kollegengruppen oder enge private Beziehungen. Und nicht zuletzt gehören zur Umsetzung kreativer Ideen natürlich Zeit und, zumindest in einem bestimmten Ausmaß, Geld. Vincent van Gogh wurde z. B. von seinem Bruder Theo finanziert.
Kreativitätsfördernde Verhaltensweisen
Bestimmte Verhaltensmuster begünstigen Kreativität mehr als andere: Je weniger routiniert und eingefahren das eigene Alltagsverhalten ist und je offener man steht neuen Erfahrungen und Eindrücken gegenübersteht, desto leichter fällt Kreativität. Auch Spontaneität, ein Schuss Exzentrik und Fantasie machen das kreative Leben leichter. Um die eigene Schaffenskraft zu fördern, sollten Sie ich also ganz bewusst neue Reize suchen und neue Wege abseits der ausgetretenen Pfade gehen. Sie sollten Ihr Leben nicht komplett verplanen, sondern auch spontanen Einfällen Raum geben und sich neue Welten fantasievoll ausmalen. Beobachten Sie z. B. einen zufällig vorbeilaufenden Passanten und überlegen Sie, wie es wohl wäre, mit ihm verheiratet zu sein.
„Die Anerkennung einer Idee hängt nicht von dem Erfinder ab, sondern von den Experten eines Gebiets.“
Da Ideen nur selten aus heiterem Himmel kommen, sollten Sie sich bewusst ein Problem oder eine Aufgabe stellen, die Sie lösen wollen, etwa die Aufgabe, einen neuen Partner zu finden. Wer sich für eine kreative Lösung entscheidet (z. B. eine originelle Kontaktanzeige), entdeckt viele neue Handlungsmöglichkeiten. Manchmal muss man auch etwas für das Selbstwertgefühl tun, denn oft ist es schwierig, andere von den eigenen Ideen zu überzeugen. Sie sollten sich klarmachen, dass selbst erfolgreiche Kreative ihre Werke oft zigfach angeboten haben, bevor diese anerkannt oder publiziert wurden. Lassen Sie sich also nicht entmutigen und führen Sie sich zwecks Stärkung des Egos Ihre eigenen Erfolge und Kompetenzen stets vor Augen.
„Kinder sind nicht automatisch kreativer als Erwachsene.“
Auch Tagträume von Erfolg und Anerkennung beflügeln die Schaffenskraft, ebenso die Auflockerung von Gewohnheiten: Warum nicht mal in neue Wahrnehmungswelten eintauchen, tägliche Gewohnheiten, z. B. den Arbeitsweg, verändern oder Denkgewohnheiten kritisch hinterfragen? Und natürlich sollte man immer neugierig bleiben und sich mit Dingen, die man nicht versteht, auseinandersetzen. Einseitige Spezialbegabungen gezielt zu entwickeln, ist allerdings nicht möglich. Ein fotografisches Gedächtnis beispielsweise, mit dessen Hilfe man eine komplette Druckseite nach einmaligem Betrachten wörtlich wiedergeben kann, ist angeboren.
„Der kreative Mensch ist hemmungslos neugierig.“
Trotz aller Vorbereitung: Die eigentliche Idee kommt häufig scheinbar aus dem Nichts, sozusagen als Aha-Erlebnis. Viele Anregungen finden Kreative beispielsweise in Träumen. Dies funktioniert allerdings nur, wenn man sich vorher eingehend mit einem Problem beschäftigt hat. Ähnlich kann auch ein zufälliges Ereignis den entscheidenden Kick geben. Gelegentlich stammt eine Idee ursprünglich sogar aus der Kindheit des Kreativen. Und manchmal liegt ein Einfall zu einer bestimmten Zeit auch einfach in der Luft: Immer wieder kommt es vor, dass zeitgleich dieselbe Idee bei verschiedenen Personen auftaucht. Das war etwa bei der Erfindung des Teleskops, der Fotografie oder des Telefons der Fall. Der Grund sind meist entsprechende Vorerfindungen oder Vorentdeckungen. Außerdem spielt auch die Gesellschaft, in der man lebt, eine Rolle: Politischer Wettstreit, Machtstreben und Kriege fördern neue Ideen, und Not macht bekanntlich erfinderisch. Letzteres zeigt sich auch in der modernen Konsumgesellschaft: Das Überleben der Unternehmen hängt zunehmend von innovativen Produktideen ab.
Störungen der Kreativität
Leider kann Kreativität manchmal auch gestört sein: Man ist blockiert, hat Angst vor dem leeren Blatt, fühlt sich niedergeschlagen oder aber man versinkt in einem derartigen Übermaß an Ideen, dass am Ende nichts davon umgesetzt wird. Ein weiteres Problem: mangelndes Durchhaltevermögen. Manch ein genialer Kreativer wirft schlicht die Flinte zu früh ins Korn. Doch Kreativität kann man fördern, und dazu gibt es bewährte Techniken und Hilfen. Beispielsweise können Sie gezielt in fremden Fachgebieten recherchieren. Oder Sie nutzen die Kreativität anderer: Wenn Sie mit Freunden über ein Problem sprechen, haben die oft gute Lösungsansätze. Bekannt ist auch das Brainstorming in der Gruppe. Manchmal kommt der Zufall zu Hilfe – auch das kann man fördern, indem man z. B. einfach drauflosschreibt und hinterher schaut, ob sich daraus eine Geschichte ergibt. Oder Sie stellen mittels Kreuztabelle relevante Faktoren eines Problems dar und versuchen darüber neue Lösungen zu finden. Sie können sich Träume zunutze machen, indem Sie sich vor dem Einschlafen gezielt mit der offenen Frage befassen. Hilfreich sind außerdem die Visualisierung des Problems in Bildern sowie die gezielte Suche nach Analogien (etwa Blutkreislauf, Stromkreislauf, Geldkreislauf ...).
„Das Wissen kann die Gedanken auch festlegen.“
Natürlich spielt auch Wissen bei der Kreativität eine Rolle. Je mehr Sie über ein Problem wissen, desto leichter finden Sie zu einer Idee. Umgekehrt kann zu viel Fachwissen die Kreativität aber auch einschränken. Deshalb gilt es, sich gründlich zu informieren, aber zugleich Hypothesen und erste Ideen so früh wie möglich zu formulieren. Hilfreich ist auch das „janusische Denken“, was bedeutet, bei jedem Ding auch sein Gegenteil mitzudenken, bei schwarz also weiß, bei nass trocken, bei Brücke Tunnel usw. Klar, dass Kreativität oft durch zu frühe Kritik abgewürgt wird – lassen Sie auch die schrägsten Ideen erst mal stehen, das Ausmisten kommt später.
„Viele bedeutende kreative Leistungen sind im hohen Alter entstanden.“
Übrigens ist Kreativität nicht an das Alter gebunden: Kinder sind keineswegs kreativer als Erwachsene, und der Mensch kann bis ins hohe Lebensalter schöpferisch sein. Allerdings gilt dies nur für den künstlerischen Bereich; Geniestreiche in den Naturwissenschaften gelingen fast immer vor dem 40. Lebensjahr. Auch zwischen den Geschlechtern gibt es keinen Unterschied. Dass nur so wenige Frauen als große Kreative bekannt sind, liegt eher an den gesellschaftlichen Umständen, durch die das weibliche Geschlecht an den Herd verbannt wurde. Oft hatten Frauen sogar großen Anteil an bedeutenden Innovationen, nicht selten wurden ihre Ideen nämlich von Männern vereinnahmt und als eigene ausgegeben.