Chaos mit System
Chaotische Männer und Frauen bestechen durch ihre Lässigkeit. Sie erscheinen, ohne rot zu werden, zu spät bei Meetings, und ihr Auftritt wirkt dennoch nonchalant und sicher. Sie beginnen mit einer Aufgabe erst kurz vor dem Abgabetermin und überschreiten diesen notfalls. Chaoten wissen, dass die Realität nicht planbar ist. Jeder Arbeitstag hält neue Überraschungen bereit, die alle Zeitpläne binnen Kurzem über den Haufen werfen können. Daher ist es besser, zu lernen, wie man mit diesen Herausforderungen umgeht, und die hohe Kunst der Improvisation zu beherrschen. Der chaotische Manager oder Mitarbeiter ist ein Meister des Durchwurstelns. Per definitionem kennt sein System kaum Regeln, keine To-do-Listen (die übrigens ein typisches Perfektionistenmerkmal sind) und wenig organisatorische Strukturen.
Der chaotische Typ
Nicht alle Chaoten sind gleich chaotisch. Auch hier gibt es eine beträchtliche Bandbreite. Wer gelegentlich mal Handy, Schlüssel oder Brille verlegt, ist vielleicht ein bisschen schusselig, aber deswegen noch lange kein chaotischer Typ. Normalchaoten verfügen über ein beachtliches Maß an Selbstbewusstsein, das ausreicht, um die bekannten Maximen aus Zeitmanagementseminaren zu ignorieren und sich von Eltern, Lehrern oder Chefs kein schlechtes Gewissen wegen übertretener Regeln oder unterlassener Aufgaben einreden zu lassen. Der überchaotische Extremfall, der sich an keinerlei Regeln, Absprachen oder Vorgaben hält und eigentlich nur das tun möchte, wozu er gerade Lust hat, ist für das Erwerbsleben in größeren Organisationen nicht geeignet. Er ist zu konfus und unkalkulierbar. Er tut gut daran, sich als Animateur in einem Urlaubsclub oder als Künstler zu versuchen – oder reich zu heiraten.
Prioritäten setzen und dadurch Zeit sparen
Als tendenziell chaotischer Typ sind Sie ein instinktsicherer, bisweilen genialer Vereinfacher. Die Reduktion von Komplexität liegt Ihnen im Blut. Sie verzichten darauf, pünktlich zu einem Meeting zu erscheinen, denn in der ersten Viertelstunde wird ohnehin Zeit mit Begrüßungen und Small Talk verschwendet. Alle Manager kennen das Eisenhower-Prinzip, wonach Aufgaben in vier Kategorien unterteilt werden: „dringend und wichtig“, „wichtig, aber nicht dringend“, „dringend, aber nicht wichtig“ sowie „weder wichtig noch dringend“. Als chaotischer Manager befassen Sie sich nur mit dringenden Aufgaben. Falls so genannte wichtige Aufgaben jemals tatsächlich relevant werden sollten, werden sie schon von selbst dringend. So sparen Sie eine Menge Zeit. Diese Methode macht einen wichtigen Unterschied zum Vorgehen des pedantischen Perfektionisten aus: Er beschäftigt sich mit Vorliebe mit vermeintlich wichtigen Aufgaben. Dazu gehören etwa Zeitpläne erstellen, Ablage sortieren oder auch Grundlagenpapiere erarbeiten. Meistens sind diese Dinge nie wirklich wichtig. Damit hat er wertvolle Arbeitszeit vergeudet.
„Wenn ich die übliche Viertelstunde zu spät komme, hat das Meeting meist noch nicht richtig angefangen, und wieder habe ich Zeit gespart.“
Gemäß dem Pareto-Prinzip, der 80-zu-20-Regel, werden mit 20 % des Aufwands 80 % des Ergebnisses erzielt. Als chaotischer Manager reichen Ihnen diese 80 % völlig aus. So sparen Sie eine Menge Zeit, weil Sie z. B. wissen, dass niemand eine detailreiche, ausufernde Präsentation hören will. Sie haben sie auf den letzten Drücker erstellt, nämlich dann, als sie dringend wurde, und deshalb ist Ihre Präsentation kurz und knapp. Außerdem mussten Sie, weil Sie erst so spät angefangen haben, nur die neuesten Informationen verarbeiten. Eine aufwändige Umarbeitung von Folien und Unterlagen, wie sie ein wohlvorbereiteter, im Zeitplan gefangener perfektionistischer Kollege hätte vornehmen müssen, ist Ihnen erspart geblieben.
Die gewonnene Zeit nutzen
Die so gewonnene Zeit können Sie auf vielfältige Weise nutzen, sodass sich hinterher wieder ein Ertrag in Form weiterer Zeitersparnis ergibt:
- Unterhalten Sie sich zwanglos mit Ihren Kollegen. Dadurch erfahren Sie, was sich hinter den Kulissen abspielt, z. B. ob Projekte auf der Kippe stehen und es sich damit nicht lohnt, überhaupt Energie dafür aufzuwenden. Der verplante perfektionistische Kollege steht ständig unter Druck und findet für solche nützlichen Tätigkeiten nie Zeit.
- Bilden Sie durch Kollegengespräche, Betriebsrundgänge und Dienstreisen ein Netzwerk aus Freunden und Helfern. Da Sie als Chaot ab und zu in die Lage kommen, schnell mal etwas mithilfe anderer improvisieren zu müssen, ist ein solches Netzwerk sehr nützlich. Perfektionistischen Eigenbrötlern fehlt es.
- Surfen Sie im Internet, achten Sie auf Ihre Work-Life-Balance, kümmern Sie sich um Ihre Hobbys. Das fördert Ihre Kreativität und Ihre Motivation. Weil Sie dadurch einen weiten Horizont gewinnen und ein ausgeglichenes Seelenleben haben, kommen Ihnen im entscheidenden Moment, wenn Sie dringend nach einer Problemlösung oder einem tragfähigen Provisorium suchen, die zündenden Ideen. Diese findet der in seinen sturen Arbeits- und Zeitplänen festgefahrene, stets gestresste Perfektionist nicht.
- Kümmern Sie sich nur um Dinge, die Sie gern tun. So arbeiten Sie mit Leidenschaft zu Ihrer eigenen Zufriedenheit und zur Zufriedenheit der anderen. Auch Ihre Motivation ist dadurch wie von selbst gewährleistet. Sie oder Ihre Firma brauchen weder Zeit noch Geld für aufwändige Motivationsseminare einzusetzen.
Arbeitstechniken
Wenn Sie bestimmte Aufgaben mit Ihrem chaotischen Wesen vereinbaren möchten, können die folgenden Strategien Ihnen zum Erfolg verhelfen:
- Improvisation: Sobald sich eine Angelegenheit als dringend erweist oder ein unvorhergesehenes Ereignis eintritt, können Sie als chaotischer Typ Ihr Improvisationstalent zur Entfaltung bringen. Dank Ihrer Überraschungskompetenz entwickeln Sie Lösungsideen und mobilisieren Ihr Netzwerk. Dabei kommen Ihnen keine anderen Pläne in die Quere – weil Sie nie welche hatten. Der Perfektionist dagegen steht sich selbst im Weg, weil er nur an die Rettung seiner Pläne denkt.
- Last Minute: Wenn Sie Aufgaben im letzten Moment erledigen, ist die Priorisierung eindeutig: Sie konzentrieren sich vollkommen auf das Problem, blenden alles andere aus und schaffen das Pensum in kürzester Zeit – weil Ihnen gar nichts anderes übrig bleibt. Zeitressourcen werden nicht mehr vergeudet. Bei Präsentationen oder Prüfungen sind Sie frisch eingearbeitet und auf dem aktuellsten Stand, denn Sie haben fast alles auf den letzten Drücker gemacht. So arbeiten Sie wirklich konzentriert und effizient. Sie brauchen sich nicht noch einmal neu einzuarbeiten wie der Perfektionist, der von langer Hand geplant hat, sondern können schlagfertig Antwort geben. Wer seine Ausarbeitung schon seit Wochen fertig in der Schublade hat, hat die Hälfte der Details wieder vergessen und blamiert sich, wenn nachgehakt wird.
- Delegieren: Wenn Sie Mitarbeiter haben, denen Sie unangenehme Aufgaben übertragen können, tun Sie das unbedingt! Es schadet nichts, wenn diese Mitarbeiter zu Perfektionismus und Pedanterie neigen. Als Improvisationsmeister verstehen Sie es aber auch, Ihren pedantischen Chef zu führen: Da Sie sich als Improvisator angesichts der engen Deadline mit einer „Gut genug“-Ausarbeitung zufriedengegeben haben, kann er Ihre Textvorlage oder Ihr Konzept selbst noch perfektionieren. So spart er Ihnen Zeit und Arbeit und Sie vermitteln ihm das gute Gefühl, selbst den entscheidenden Beitrag geleistet zu haben.
- Aussitzen: Statt sich mit einem Zeitplan oder einer To-do-Liste abzuplagen, ignorieren Sie Aufgaben, die nicht dringend sind. Viele angeblich wichtige Probleme erledigen sich ohne jegliches Zutun irgendwie von selbst oder werden unwichtig, ganz einfach weil in der Zwischenzeit andere wichtige Probleme aufgetaucht sind. Wieder eine enorme Zeitersparnis.
Mit der Realität leben
Arbeit und Arbeitsalltag sind keine abstrakten Prozesse, die sich nach einem bestimmten Plan richten, sondern sie verlaufen von Natur aus chaotisch. Planvolle Abläufe gibt es nur in der Theorie, insbesondere der Managementtheorie. Meistens kommt es anders, als man denkt.
„Zeitmanagement-Jünger kommen überhaupt nicht zum Arbeiten: Vormittags organisieren sie ihren Schreibtisch und nachmittags verwalten sie ihr übertriebenes Termin- und Merksystem.“
In dieser Hinsicht sind Sie als improvisierender Chaot bestens trainiert und vorbereitet. Bei Ihnen läuft nichts außerplanmäßig, weil Sie aufs Plänemachen keine Zeit verschwendet haben. Dadurch geraten Sie auch nur selten unter Druck. Ist dies doch der Fall, nutzen Sie den Druck kreativ, und die Sache ist schnell wieder vorbei. Die Work-Life-Balance stimmt. Burn-out kennen Sie nicht. Dank Ihres Netzwerks sind Sie stets gut informiert und brauchen nicht erst umständlich Informationen einzuholen. Sie können darauf verzichten, Daten zu analysieren oder akribisch Unterlagen zu prüfen. Durch die Ihnen zugetragene informelle Information sind Sie bereits bestens im Bild und entscheiden aus dem Bauch heraus. Sie sind hellwach und aktionsbereit, wenn es darauf ankommt. In Planungen Zeitbedarf zu schätzen, ist überflüssig, denn im chaotischen Alltag bleibt sowieso nur die Zeit, die eben zur Verfügung steht, mehr nicht. Nichts ist sicherer als der Zufall, deswegen muss vor allem dieser eingeplant werden. Dadurch bleiben Sie offen und flexibel und sehen neue Chancen, die der Perfektionist gar nicht erkennen kann.
Der chaotische Schreibtisch
Der Schreibtisch eines Chaoten ist eigentlich gar nicht chaotisch, sondern unterliegt der geheimen, inneren Ordnung seines Benutzers. Deswegen darf er nie aufgeräumt werden – das wäre in der Tat eine Katastrophe. Alles, was oben und in Reichweite liegt, ist aktuell, wichtig und dringend. Nur sein Benutzer findet intuitiv und relativ schnell die benötigten Unterlagen. Mangels Ablagesystem kann nichts falsch abgelegt sein.
„Für eine Aufgabe braucht man die Zeit, die einem tatsächlich bleibt, und nicht die, die man geschätzt hat.“
Ein bisschen Suchzeit ist erlaubt, schließlich wurde bereits Zeit gespart, indem man auf die Ablage verzichtet hat. Während ein aufgeräumter, leerer Schreibtisch womöglich Signale wie Faulheit, Erfolglosigkeit oder Entbehrlichkeit aussendet, signalisiert ein voller Schreibtisch Geschäft, Aktion, Erfolg und Unentbehrlichkeit. Er schützt vor voreiligen, spontanen Reaktionen und liefert, etwa bei Nachfragen, u. U. auch dringend benötigte Bedenkzeit – und sei es nur für eine Ausrede. Auf einem vollen Schreibtisch geht nichts verloren; man kann sich die Zeit für unnötige Wiedervorlagen sparen. Was wirklich benötigt wird, kommt erfahrungsgemäß wie von selbst wieder nach oben. Außerdem hat man ja alles im Blick; als Chaot braucht man sich daher nie Termine und Vorgänge zu merken: Es ist alles da und man hat den Kopf frei.
Was Chaoten von Perfektionisten lernen können
Als Chaot müssen Sie allerdings aufpassen, dass Sie nicht den Ruf bekommen, konfus zu sein. Zudem dürfen Sie Ihre Dynamik nicht in Hektik ausarten lassen. Lernen Sie aus Fehlern, aber wiederholen Sie sie möglichst nicht, sonst gelten Sie bald nicht mehr als begnadeter Krisenmanager, sondern als Versager. Ihre Kontaktfreude darf nicht als Geschwätz, Ihre improvisierten Auftritte und Unterlagen dürfen nicht als Blendwerk und Ihre Flexibilität sollte nicht als Verzetteln missdeutet werden.
„Bleiben Sie chaotisch, aber werden Sie nicht konfus, das wäre zu viel des Guten. Hinter konfus lauert gestört.“
Um ein bisschen Ordnung kommen Sie nicht herum: Beugen Sie häufigen Fehlern mithilfe kleiner Checklisten oder Spickzettel vor, sammeln Sie wichtige Urkunden in einer Tüte (auch Spesenquittungen), planen Sie Zeitpuffer vor Präsentationen ein und schalten Sie Störer wie ankommende Mails oder Anrufe aus, wenn Sie sich konzentrieren müssen. Finden Sie heraus, ob Sie ein Tag- oder Nachtmensch sind, und folgen Sie Ihrem inneren Rhythmus. Wenn Sie eine Führungsposition bekleiden, engagieren Sie eine perfektionistische Assistentin, damit Ihre Qualitäten optimal ergänzt werden.