Die Industrie macht’s
Die Konjunktur in Deutschland boomt, nicht trotz, sondern gerade wegen der Globalisierung. Deutsche Spitzentechnologie ist auf der ganzen Welt gefragt. Doch die Konkurrenz in Schwellenländern wie China und Indien schläft nicht. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir noch stärker als bisher in Nano-, Umwelt- und Effizienztechnologien investieren. In Deutschland war es die produzierende Industrie, die das Land nach der Finanzkrise wieder auf die Beine brachte. Sie trägt 26 % zur Wertschöpfung bei, im Vergleich zu 17 % in den USA und 13,5 % in Frankreich. Fest steht aber auch: Rohstoffe werden immer knapper und teurer. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als sie besser zu nutzen. Die deutsche Industrie ist so gut aufgestellt, dass sie vom Zwang zur Ressourceneffizienz, zum „Wachsen ohne Wachstum“ nur profitieren kann. Der Innovations- und Beschäftigungsmotor in Deutschland ist und bleibt der Mittelstand, der allerdings heute schon über zu wenig qualifizierte Mitarbeiter verfügt. Nur wenn wir mehr Mittel in die Bildung und die Integration der hier lebenden ausländischen Mitbürger stecken, können wir die Herausforderungen der Zukunft meistern.
Fortschritt bewerten
Wer würde heute noch freiwillig auf Handy, Computer oder die Möglichkeit von Ultraschalluntersuchungen verzichten? Wir haben uns an die Segnungen der modernen Technik gewöhnt, und das ist gut so. Dennoch müssen wir den technischen Fortschritt neu bewerten: Umweltschutz und Gesundheit sollten uns mindestens so wichtig sein wie Funktionalität und Wirtschaftlichkeit. Das Prinzip der Nachhaltigkeit muss zum Leitbild für Ingenieure werden, wenn sie die Chancen und Risiken einer neuen Technik einschätzen. Außerdem sollte sich die Gesellschaft gegenüber Innovationen aufgeschlossener zeigen. Nur so können wir den drängendsten Herausforderungen der Zukunft begegnen. Diese Maßnahmen sind besonders wichtig:
- Begrenzung des Klimawandels auf eine mittlere Temperaturzunahme von 2° C: Von 2010 bis 2050 müssen wir die CO2-Effizienz alle zehn Jahre verdoppeln. Als Verbraucher am Ende der Wertschöpfungskette haben wir die größte Hebelwirkung.
- Effiziente Wassernutzungssysteme: In 40 Jahren könnten bereits zwei Drittel der Menschheit unter Wassermangel leiden. Teil einer ganzheitlichen Lösung ist die Mikro- oder Tröpfchenbewässerung mit einer potenziellen Effizienz von über 90 %.
- Effizientere Flächennutzung: Bis 2030 muss die Nahrungsmittelproduktion um 50 % steigen, damit alle Menschen satt werden. Hierzu kann u. a. eine verstärkte landwirtschaftliche Produktion in Städten beitragen.
- Bewahrung der Artenvielfalt: Selbst wenn die Menschheit sich zu zwei Dritteln von Weizen, Reis und Mais ernährt – ein Ökosystem, in dem einzelne Bausteine ausfallen, wird instabil. Effizienzsteigerungen dürfen nicht auf Kosten der Biodiversität gehen.
„Die anstehenden Herausforderungen, seien es Klima-, Energie- oder Ressourcenfragen, können nur von und mit der Technik gelöst werden.“
Effizienz lässt sich überall steigern. So sind z. B. Gebäude für 40 % des Endenergieverbrauchs in Deutschland verantwortlich. Insgesamt ließen sich hier mit Sanierungen 63 Megatonnen CO2-Äquivalente einsparen – für die Bauwirtschaft bedeutet das potenzielle Umsätze von 340 Milliarden Euro. Voraussetzung ist, dass der verschwenderische Ressourcenverbrauch durch den Einsatz von Wissen ersetzt wird. Fachkräfte müssen in Systemzusammenhängen denken und Prozesse über die gesamte Wertschöpfungskette analysieren.
Für den Technikstandort ausbilden
In keinem anderen Industrieland ist die Produktivität in den vergangenen 20 Jahren so stark gestiegen wie in Deutschland. Dieser Umstand sowie die Qualität und Flexibilität der Mitarbeiter haben dazu geführt, dass weniger Arbeitsplätze ins Ausland ausgelagert wurden. Die Zahl der Beschäftigten hat sogar zugenommen. Ein wesentliches Erfolgsrezept ist das hervorragende deutsche Berufsbildungssystem. Allerdings klagen immer mehr Unternehmensvertreter, dass sie keine geeigneten Auszubildenden mehr finden. Hier gilt es gegenzusteuern. Wichtig sind:
- über Bundesländergrenzen hinweg geltende Bildungsziele und eine einheitliche Lehrerausbildung,
- die Aufwertung der Hauptschule, in der technisch und handwerklich begabte junge Menschen in einem anschaulichen Werk- und Sachunterricht Perspektiven erhalten,
- der Ausbau überbetrieblicher Ausbildungsstätten, damit Unternehmen für die Vermittlung von Grundfertigkeiten nicht die Produktion unterbrechen müssen,
- ein ständiger Dialog zwischen Unternehmen und Schulen sowie eine kontinuierliche Berufsberatung ab dem 7. Schuljahr,
- eine ganzheitliche naturwissenschaftliche Bildung, die neben der Vermittlung praktischer Kenntnisse im Technikunterricht auch gesellschaftliche Folgen und ethische Fragen umfasst.
„Eins steht bereits heute fest, egal welche Technologie die Zukunft bringt, es wird ein Wachsen nur ohne Wachstum der Ressourcen möglich sein.“
Allerdings nützen die ehrgeizigsten Initiativen nichts, wenn junge Menschen von ihren Eltern keine Unterstützung und Orientierung erhalten. Lust am Lernen erleben Kinder zuallererst in ihrem Elternhaus. Deshalb müssen Kinder und Eltern aus sozial schwachen Familien und aus solchen mit Migrationshintergrund auf ihrem Bildungsweg unterstützt werden. Damit mehr Frauen für technische Berufe begeistert werden können, hat die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oberste Priorität, z. B. mithilfe von Betriebskinderkrippen und flexibleren Arbeitszeiten.
Selbstständige Technik
Technologien verändern unser Leben und manchmal sogar ganze Gesellschaften. Sie wecken allerdings auch Ängste. Ein Beispiel hierfür ist die irrationale Diskussion über die Kernenergie, die Demagogen für ihre Zwecke missbrauchten. In der Folge wurde Deutschland bei der nuklearen Forschung und Entwicklung von Ländern wie Frankreich und England abgehängt. Wir brauchen mehr technische Aufklärung, damit sich jeder Bürger seine eigene Meinung über Technologien bilden kann. Warum glauben immer noch viele Prominente, mit ihrem mangelnden Technikverständnis kokettieren zu können? Und warum wird der Technikunterricht an allgemeinbildenden Schulen nach wie vor stiefmütterlich behandelt? Wer junge Leute für technische Berufe begeistern will, muss die Alltagsbezüge der Technik so früh wie möglich darstellen. Das fängt schon bei den Kleinsten an. Der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) z. B. hat einen Kinder-Technik-Klub eingerichtet. Unternehmen bieten die „Nacht der Technik“ oder den „Girls’ Day“ an, an dem Schülerinnen in technische Berufe hineinschnuppern können.
„Es geht um ein qualitatives Wachsen, welches nur mit qualifizierten Menschen mit einem starken Fokus auf die kluge Nutzung der Technik möglich ist.“
Technische Innovationen werden unser Leben grundlegend verändern. Beispiel Fahrzeugtechnik: Neben umweltfreundlicher Antriebstechnik werden Fahrerassistenzsysteme an Bedeutung gewinnen. Das Ziel sind selbstlenkende und -bremsende Autos, die Gefahren erkennen. Sie werden miteinander kommunizieren und einander vor Glatteis oder Staus warnen. Elektrofahrzeuge könnten Teil eines intelligenten Stromnetzes werden. Wenn es Energie im Überschuss gibt, laden sie ihre Batterien auf. Sobald die Nachfrage das Angebot übersteigt, speisen sie Energie ins Netz ein.
„Der Streit wird nicht aufgrund von Zahlen, Daten und Fakten geführt, sondern vielmehr ideologisch, und hat zu einer breiten Ablehnung von Kernenergie in der Bevölkerung geführt.“
Unter dem Schlagwort „Internet der Dinge“ vernetzen sich Objekte mit Menschen und werden so zu autonomem Handeln befähigt: Eine Heizungsanlage informiert automatisch den Wartungsservice, wenn etwas kaputt ist, und in der Logistikwirtschaft suchen sich die Waren – parallel zu den Bits und Bytes im Internet – die schnellsten und kürzesten Wege. Das Forschungsfeld des „Ambient Assisted Living“ befasst sich mit der Frage, wie man älteren Menschen mithilfe technischer Systeme ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen kann. Die Nanotechnologie wiederum hilft, den Wirkungsgrad von Fotovoltaiksystemen zu erhöhen, sie treibt die Brennstoffzellenforschung und die medizinische Forschung voran. Damit diese Innovationen nicht am uninformierten Widerstand der Bevölkerung scheitern, müssen Forscher und Medien konsequent Aufklärung betreiben.
Innovationsbereitschaft unterstützen
Inkrementelle Innovationen sind geringfügige, kontinuierliche Verbesserungen eines bestehenden Systems; radikale Innovationen dagegen solche, die einen völlig neuen Markt schaffen. Beispiele hierfür sind das Internet, aber auch der Transrapid. Die eine Innovation hat sich weltweit durchgesetzt, die andere wurde fatalerweise aus Deutschland nach China verkauft. Fest steht: Innovationen benötigen einen Markt. Um den großen, lebensverändernden Ideen eine Chance zu geben, muss die Politik sich bei der Regulierung zurückhalten. Politiker sollten keine konkreten Umsetzungsvorschriften erlassen, sondern sich auf Wirkvorschriften, d. h. auf die Festlegung von Grenzwerten, beschränken.
„Wir werden kein Anwachsen der Arbeitszeit haben, aber unsere Unternehmen müssen trotzdem wachsen. Das heißt auch hier: Wachsen ohne Wachstum.“
Wie viel Potenzial grüne Technologien bieten, beweist die Recyclingwirtschaft in Deutschland. Der Einsatz wiederverwerteter Stoffe anstelle der Primärstoffe für Stahl, Aluminium, Brennstoffe, Verpackungen und Zink generierte 2005 eine Wertschöpfung von 3,7 Milliarden Euro, die vor allem auf eingesparte Energie zurückzuführen ist. Sensorgestützte Sortierung garantiert eine vergleichsweise hohe Qualität wiederverwerteter Rohstoffe. Reine Rohstofflieferanten laufen Gefahr, langfristig von Anbietern neuer Materialien oder Effizienztechnologien wie z. B. modernen Informations- und Kommunikationstechnologien verdrängt zu werden.
Aus weniger wird mehr
Bis 2050 wird die deutsche Bevölkerung von heute 82,5 Millionen auf 69–74 Millionen Menschen schrumpfen. Heute kommen auf 100 Erwerbstätige 32 Rentner – in 40 Jahren werden es doppelt so viele sein. Fachkräfte werden in vielen Branchen gesucht, und unter Ingenieuren ist diese Entwicklung besonders dramatisch. 40 000 Ingenieure mehr bräuchten deutsche Unternehmen, um ihr Wertschöpfungspotenzial voll zu nutzen. Das Durchschnittsalter der heute arbeitenden Ingenieure beträgt 50 Jahre. Die Folge: Wenn nicht deutlich mehr jüngere Menschen zu Ingenieuren ausgebildet werden, steuert das Land auf einen dramatischen Fachkräftemangel zu. Über das Anwerben ausländischer Ingenieure ist dieser nicht zu kompensieren. Länder wie Polen, China oder Indien brauchen ihre Ingenieure selbst, und sie beginnen sogar bereits, welche aus Deutschland abzuwerben. Massive Investitionen in die Aus- und Weiterbildung hiesiger Ingenieure sind deshalb nötig. Unternehmen, die ihre Mitarbeiter weiterbilden, gewinnen doppelt: Sie stellen sich den drängenden Zukunftsfragen und binden wertvolles Personal. Hochschulen und Forschungseinrichtungen bieten wertvolle Kooperationen an: Unternehmen, die sich keine eigene Forschung leisten, können ihre eigenen Mitarbeiter zum Lernen und Lehren in Labore und Hochschulen schicken.
„Gerade die Demografie zwingt dazu, dass die Menschen sich ständig weiterbilden – und das geht am besten, wenn sie eine Grundlage bekommen haben, also ,das Lernen gelernt‘ haben.“
Was für unser Land auf dem Spiel steht, verdeutlicht ein Szenario, bei dem der Preis für ein Fass Öl innerhalb der kommenden Jahre auf 300 $ steigen wird – eine keinesfalls undenkbare Entwicklung. Die Folgen für die deutsche Wirtschaft wären dramatisch: Öl-, Gas- und Kohlekraftwerke stünden vor dem Aus. Luft- und Schifffahrt würden stark eingeschränkt. Gleichzeit wäre der Preisschock das größte Förderprogramm für regenerative Energien aller Zeiten: Elektromobilität, der Schienenverkehr und Passivhäuser würden einen Investitionsschub erleben und so gut wie alle Kunststoffe würden recycelt.