Inspiriert durch Neptuns Reich
Die Natur experimentiert bereits seit der Urzeit mit Physik, Chemie, Materialkunde und Technik, um einfache, energieeffiziente und überlebensfähige Lebewesen zu schaffen. Sie ist das Labor und die Schatztruhe der Bioniker oder Biomimetiker, die sie zur Entwicklung neuer Technologien heranziehen. Meeresbewohner erzeugen beispielsweise Wirbel, deren Energie sie für ihre weitere Fortbewegung nutzen. Genauso nutzen sie die Energie der Wirbel, die vor ihnen schwimmende Fische erzeugen. Auf diese Methode kann auch der Mensch zurückgreifen, u. a. bei der Gewinnung regenerativer Energie. So kann die Energie solcher Wirbel mit einem Polymerwandler, der der Form eines Aals nachempfunden ist, aufgefangen werden. Das Polymer verformt sich, wenn die Wasserwirbel an ihm entlangwandern, und wandelt die Strömung in Energie um. Der „Aal“ schlängelt mit der gleichen Frequenz wie die Strömung, so wie es auch echte Fische tun.
„Die Natur findet für ihre Ziele gewöhnlich sparsamste Lösungen, was Energie- und Materialaufwand angeht.“
Lehrreiche Lektionen können auch Meereswürmer dem Menschen erteilen. Nur mit viel Druckluft können sich Bohrer von Ölplattformen in den Boden hineinarbeiten. Der Vielborster macht es sich leicht: Er drückt so lange gegen den Schlamm, bis sich ein Riss bildet. Dieser Riss vertieft sich wegen der Eigenschaften des Bodens von selbst weiter und ebnet dem Wurm den Weg, sodass er sich mit geringerem Energieaufwand als ein Bohrer hineinarbeiten kann.
„Durch die Untersuchung biologischer Prinzipien, die sich über zahlreiche Generationen hinweg entwickelt haben, können wir uns ganz neue Wege zur Lösung technischer Probleme erschließen.“
Die Medizintechnik kann von der Seegurke lernen. Diese kann je nach An- oder Entspannung hart oder weich sein. Im entspannten Zustand ist sie weich und kann sich durch fast jeden Spalt hindurchschlängeln. Im angespannten Zustand nimmt sie Wasser auf und verhärtet sich. Dabei verkleben die Kollagenfasern auf ihrer Haut zu einem festen Panzer. Gesteuert wird der Härtegrad vom Nervensystem der Seegurke. Diese Eigenschaften sind bei der Implantierung von Mikroelektroden ins Gehirn von Schlaganfallpatienten gefragt. Um sie einführen zu können, müssen sie hart sein, dann aber weich genug, damit sie sich dem Gewebe anpassen.
Roboter und künstliche Intelligenz
Roboter faszinieren Menschen schon lange. Dank Fortschritten in der Computertechnik, in der Herstellung synthetischer Materialien, in der Spracherkennung und der künstlichen Intelligenz wurden sie so weit entwickelt, dass sie bereits heute dem Menschen einige gefährliche oder auch lästige Tätigkeiten abnehmen können, z. B. die Erkundung der Tiefsee oder Arbeiten an Kernreaktoren. Dabei werden zwei Arten unterschieden:
- Menschenähnliche Roboter: Sie sehen aus wie Menschen und können deren Mimik und emotionale Reaktionen imitieren.
- Humanoide Roboter: Diese Art ist nur in groben Zügen dem menschlichen Äußeren nachempfunden und lässt sich darum leichter und kostengünstiger herstellen.
„Bewegungsprinzipien, die in sorgfältigen Studien an Meeresbewohnern ermittelt wurden, können zur Entwicklung von Geräten führen, die die Bewegungsenergie der Meere und Flüsse anzapfen.“
Roboter müssen dem Menschen in Größe, Statur und Beweglichkeit ähneln, um in der von ihm geformten Umwelt zurechtzukommen. Weil sie auf Objekte einwirken und dabei auch auf ihre Umwelt reagieren müssen, bedarf es der künstlichen Intelligenz, die sich am Vorbild Mensch orientiert. Dafür werden Mikroprozessoren, genetische Algorithmen, eine flexible Gummihaut, Bewegungssimulatoren und Sensoren eingesetzt. Die Software imitiert schon heute weitgehend die Funktionsweise des zentralen Nervensystems des Menschen, indem gute Eigenschaften, die eine Anpassung an die Umwelt ermöglichen, erhalten bleiben, schlechte hingegen gelöscht werden. Die Prothetik verwendet Gliedmaßen von Robotern. Denkbar sind künftig sogar Prothesen, die vom Nervensystem gesteuert werden und die behinderte Person fühlen lassen, was sie berührt.
Echolot: von Delfinen lernen
Unter Wasser zu sehen, ist für das menschliche Auge bedeutend schwieriger als über Wasser. Es gibt aber Situationen, in denen es notwendig ist, Objekte im Wasser zu erkennen, z. B. wenn Fischschwärme durch Fischfangflotten geortet oder Ungeborene im Fruchtwasser betrachtet werden sollen. Delfine mit ihrem Sonar sind hier wunderbare Vorbilder. Sie hören durch Ultraschallimpulse. Ingenieure entwickeln auf dieser Basis Echolotsysteme, mit deren Hilfe erkennbar wird, wo sich ein Objekt unter Wasser aufhält und wie es beschaffen ist. Bei sehr großen Zielen sind geringere Frequenzen nötig, bei kleinen entsprechend höhere. So genügen für die Ortung eines großen U-Boots 100–500 Hertz. Delfine nutzen 38 000–200 000 Hertz. Wie viele Fische in einem Schwarm schwimmen, können Fischer anhand der Echostärke ermitteln. Weiß man, wie stark das Echo eines Fisches ist, kann man das gesamte Echo durch diese Stärke dividieren und erhält so die Anzahl der Fische im Schwarm.
„Unsere Bewegungen sind relativ leicht zu imitieren, aber um nützlich zu sein, braucht ein menschenähnlicher Roboter zumindest etwas künstliche Intelligenz.“
Delfine arbeiten mit einem Breitbandsonar und sind darum in der Lage, auch andere Eigenschaften eines Objekts als nur dessen Entfernung auszumachen. Breitband heißt, dass mit einem breiten Frequenzspektrum am Objekt „geklopft“ wird. Dabei wird stets ein und derselbe Impuls gesendet. Es ist, wie wenn mit einem Stift an eine Vase und einen Computer geklopft wird. Es wird immer ein anderes Geräusch zurückgegeben. Ein Stift und ein Hammer als Klopfinstrumente hingegen ergeben per se schon unterschiedliche Geräusche, selbst an ein und demselben Gegenstand. Stellen Sie sich also vor, der Delfin würde immer ein und denselben Stift verwenden. Mit einem kurzen Ultraschallimpuls erkennt er, wie dick sein Beutefisch ist, woraus er besteht und wie er gestaltet ist. Für die Fischerei wären solche Sonare ebenfalls erstrebenswert, damit festgestellt werden kann, welche Art von Fisch sich da im Meer bewegt. Schließlich hängen die erzielbaren Erträge für den Fang direkt davon ab.
Kooperationen: ins Schwärmen geraten
Die Unterwasserwelt zu erforschen ist wichtig, weil dort u. a. neue Energiequellen erschlossen und klimarelevante Daten erfasst werden können. Weil die Erforschung der Unterwasserwelt, vor allem unter Eis, für Menschen sehr gefährlich ist, werden dafür unbemannte Erkundungen bevorzugt. Ein Beispiel für ein unbemanntes Unterwasserfahrzeug ist das in Großbritannien entwickelte Autosub. Weil das Gefährt zum einen sehr teuer ist und bei einem Systemausfall eine aufwändige Mission gefährdet wäre, tüfteln die Ingenieure an kostengünstigeren Fahrzeugen, die im Verbund unterwegs sind. Fällt eines aus, kann die Mission dennoch weitergeführt und erfüllt werden. Hinsichtlich der Frage, wie sich die Fahrzeuge im Verbund koordinieren lassen, orientieren sich die Wissenschaftler an den Regeln des Vogelflugs:
- nicht zu dicht an den Nachbarn heranfliegen,
- nicht zu weit weg von den Nachbarn fliegen,
- sich an der Bewegungsrichtung der Nachbarn orientieren.
„Das ideale Haus braucht einen Wärmetauscher, der bei Kälte Wärme aus der Abluft auf die Zuluft überträgt, sodass die Energie im Haus verbleibt.“
In einer Simulation schwammen fünf unbenannte Unterwasserfahrzeuge nebeneinander auf ein Ziel zu und mussten dabei Hindernissen ausweichen. Ganz wie es die Vögel vormachen, hielt sich jedes Fahrzeug an den Nachbarn, weshalb die Formation nicht auseinanderbrach. In der Realität wären dafür Sensoren nötig.
Wärme- und Flüssigkeitsströme nutzen
Die Tier- und Pflanzenwelt nutzt Strömungen zu ihrem Vorteil, wie beispielsweise Vögel den Staudruck: Mit wachsender Geschwindigkeit nimmt der Druck auf die Vorderseite zu. Auf diese Weise stillen Vögel ihren erhöhten Sauerstoffbedarf. So funktionieren heute auch einige Automotoren. Statt Luft anzusaugen, kann sie durch den Fahrtwind von allein einströmen. Ströme anderer Art werden von Termiten genutzt: Ihre Bauten verfügen über ein ausgeklügeltes Be- und Entlüftungssystem, das den thermischen Auftrieb nutzt. Warme Luft strömt nach oben, während kalte absinkt. Termiten bauen darum so, dass die erwärmte und verbrauchte Luft über in der Mitte gelegene, senkrechte Schächte aufsteigen kann. Oben hat sie Platz, um sich auszubreiten, was sie gleichzeitig abkühlen lässt. So sinkt sie durch weiter am Rand gelegene Schächte wieder nach unten. Häuser in warmen Regionen können auf Klimaanlagen verzichten, wenn dieses Prinzip ausgenutzt wird. Hohe Fenster, die oben und unten offen sind, ermöglichen es, dass unten kühle Luft einströmt und die erwärmte Luft oben wieder nach außen dringt.
„Biologische Materialien und Strukturen sind hierarchisch organisiert: So bauen sich von der Molekülebene aufwärts selbst zusammen, weil die Entwicklungswege in biologischen Systemen gar nichts anderes zulassen.“
In vielen Regionen schwanken die Temperaturen stark. Zum Ausgleich speichern einige Tiere und Pflanzen Wärme, so etwa das Dromedar. Am Tag heizt sich der Körper sehr langsam bis 40 Grad auf. Nachts kühlt er sich ebenso langsam wieder ab. Die Erde speichert ebenfalls Wärme, die der Mensch mittels Erdwärmeleitungen zur Beheizung von Gebäuden nutzt. Sogar Temperaturschwankungen zwischen den Jahreszeiten lassen sich so ausgleichen. In manchen Häusern mit Solaranlagen wird die tagsüber aufgefangene Wärme in Form heißer Luft an Steinen im Keller vorbeigeleitet, so gespeichert und nachts wieder abgegeben.
„Die meisten Menschen versuchen ein Problem, mit dem sie konfrontiert werden, durch einen Gegenstand zu ,lösen‘. Innovativer ist es, zunächst das ideale Ergebnis (die zu erfüllende Funktion) zu identifizieren und dann zu überlegen, was nötig ist, um dieses Resultat zu erzielen.“
Auch die in umweltfreundlichen Gebäuden verwendeten Wärmetauscher gehen auf eine Idee der Natur zurück, zu sehen beispielsweise beim dicht angelegten Arteriennetz in den Beinen der Watvögel, das einen effizienten Wärmeaustausch erlaubt. Genutzt wird hier das Gegenstromprinzip. Durch die Öffnung parallel laufender Blutgefäße kann überschüssige Wärme abgegeben und gegen Kälte eingetauscht werden. So vermeiden die Vögel, dass die Wärme aus ihrem Rumpf in die kalten Beine gelangt und von dort ins Meerwasser abgestrahlt wird. Beim Wärmetauscher in Gebäuden wird im Winter die kalte Zuluft von draußen mit der Wärme der Abluft von drinnen aufgeheizt.
Beständige und günstige Materialien
Gute Baustoffe und eine effiziente Bauweise sind auch in der Natur gefragt. Günstig, verfügbar und haltbar müssen sie sein. So sind Pflanzenstängel beispielsweise so gebaut, dass die Außenzellen, wo der größte Druck herrscht, dicker sind als die Innenzellen. Auf diese Weise knicken die Stängel nicht so leicht ein. Dieses Prinzip nutzen Baufachleute auch bei Säulen, die einer Spannung ausgesetzt sind. Der Großteil des Baumaterials befindet sich am Rand. Ein reizvoller Werkstoff ist Perlmutt, weil es einfach aufgebaut und extrem fest ist. Künstlich erzeugtes Perlmutt könnte 100-mal fester sein als jede derzeit verfügbare Keramik. Außerdem würde seine Herstellung gerade mal ein Zehntel des Erdöls erfordern, das für feste Kunststoffe verbraucht wird.
„Die Biomimetik kann uns den Weg zu einer nachhaltigeren Zukunft weisen, wenn wir es schaffen, ihre Lehren auf unsere Technik oder – besser noch – unsere Technik in ein biologisches Format zu übertragen.“
Nachgeahmt wird bereits die wasserabweisende Oberfläche des Lotusblatts. Das gelingt mit einer kristallinen Kohlenwasserstoffschicht und minimalen Höckern, die ca. 10 Mikrometer weit auseinanderstehen. Auf diesem Prinzip beruht z. B. ein spezieller Hausanstrich, der bewirkt, dass Regentropfen vom Putz abperlen und diesen dabei noch reinigen. Ähnlich funktioniert das wasserabweisende Plastron von Insekten. Feinste Härchen sorgen für eine dünne Luftschicht auf der Oberfläche, die das Wasser abweist und trotzdem einen Luftaustausch ermöglicht. Ein Outdoorbekleidungshersteller hat seine atmungsaktive und wasserdichte Surferkleidung nach einem ähnlichen Prinzip entwickelt.