Homo Sociologicus

Buch Homo Sociologicus

Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle

Köln, 1958
Diese Ausgabe: VS Verlag,


Worum es geht

Die Doppelnatur des Menschen

Homo So­ci­o­log­i­cus handelt vom Menschen als Schaus­pieler auf der Bühne seines Lebens. Der Gedanke findet sich schon bei den alten Griechen, und die Romantiker griffen ihn wieder auf. In Dahrendorfs Essay erhält das Rollenspiel jedoch eine ganz neue Dimension: Weder die olympischen Götter noch die Individuen schreiben das Drehbuch für den Homo so­ci­o­log­i­cus, sondern die Gesellschaft. Sie bestimmt, an welche soziale Position welche Ver­hal­tensnor­men geknüpft sind. So engmaschig flicht sie das Netz der Vorschriften, dass dem Rol­len­spieler Mensch jeglicher Spielraum für sein eigentliches Selbst genommen zu sein scheint – eine be­un­ruhi­gende Vorstellung, die in der Frage gipfelt, ob der Mensch jenseits seiner Rollen überhaupt so etwas wie Eigentlichkeit besitzt. Der Liberale Dahrendorf besteht auf einem lei­den­schaftlichen Ja, wenn auch der Soziologe Dahrendorf weiß, dass die Wis­senschaft jenen abstrakten Homo so­ci­o­log­i­cus braucht, der ganz mit seinen Rollen identisch ist. Diese prob­lema­tis­che Doppelnatur des Menschen hat seinerzeit heftige Diskus­sio­nen ausgelöst; heute scheint man des Nachdenkens darüber ein wenig müde zu sein. Dahrendorfs Essay wirkt hier wie Kaffee: Er weckt auf und macht einem klar, wie heiß das Thema weiterhin ist.

Take-aways

  • Mit dem Essay Homo So­ci­o­log­i­cus legte Ralf Dahrendorf in Deutschland den Grundstein für die moderne Soziologie und sorgte für heftige Debatten.
  • Inhalt: Auf dem Weg zu einer exakten Wis­senschaft bedarf die Soziologie eines berechen­baren Grun­dele­ments. Ein solches findet sie im Homo so­ci­o­log­i­cus, der über bestimmte gesellschaftliche Rollen definiert wird. Die Soziologie begeht jedoch einen schweren Fehler, wenn sie den abstrakten, amoralis­chen Homo so­ci­o­log­i­cus mit dem konkreten, moralischen Einzel­men­schen gleichsetzt.
  • Mit der Forderung, die Soziologie müsse sich die Verbesserung des men­schlichen Zusam­men­lebens zum Ziel machen, provozierte Dahrendorf kon­ser­v­a­tive Soziologen, die auf strikter Trennung von Wis­senschaft und Politik beharrten.
  • Der Essay fand großen Anklang bei den re­voltieren­den Studenten der 60er Jahre.
  • Der Begriff der „sozialen Rolle“ wurde mit Dahrendorfs Text in der deutschen Soziologie verankert.
  • Als 14-Jähriger engagierte sich Dahrendorf im Widerstand gegen die Nazis, was 1944 zu seiner Verhaftung und In­ternierung im Gestap­o­lager Schwetig führte.
  • Die Erfahrungen seiner Gefan­gen­schaft weckten in ihm einen „fast klaus­tro­pho­bis­chen Drang zur Freiheit“.
  • 1967 wandte sich Dahrendorf der Politik zu und engagierte sich als FDP-Bun­destagsab­ge­ord­neter für sein Ideal einer frei­heitlichen Gesellschaft.
  • Für seine weit reichenden Verdienste wurde Dahrendorf, inzwischen britischer Staatsbürger, 1993 von Queen Elisabeth II. in den Adelsstand erhoben.
  • Zitat: „Am Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft steht homo so­ci­o­log­i­cus, der Mensch als Träger sozial vorge­formter Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft.“
 

Zusammenfassung

Eine Wis­senschaft auf der Suche nach ihrem Gegenstand

Die junge Wis­senschaft der Soziologie ist bemüht, ihren Platz im Konzert der etablierten Wis­senschaften zu finden. Doch es herrscht Uneinigkeit über ihren eigentlichen Gegenstand. Die Soziologie will die Phänomene men­schlichen Zusam­men­lebens, sprich: der Gesellschaft, erforschen. Doch womit genau hat sie es dabei zu tun? Was für ein Ding ist Gesellschaft? Ist sie eine Ansammlung von Einzelpersönlichkeiten? Oder ist sie aus sozialen Gruppen zusam­menge­setzt, also aus Familien, Unternehmen, Vereinen, Re­li­gion­s­ge­mein­schaften usw.? Beide Ansichten sind falsch: Gegenstand der Soziologie muss der so genannte Homo so­ci­o­log­i­cus sein, eine Art Mod­ell­men­sch, der zum einen durch seine gesellschaftlich definierte Rolle bestimmt ist, zum anderen dadurch, wie er sich als Einzel­men­sch in dieser Rolle verhält. Wie z. B. die Physik ihre Überlegungen auf das atomare Teilchen­mod­ell gründet, so kann sich die Soziologie dieses Homo so­ci­o­log­i­cus bedienen, um gesellschaftliche Vorgänge nachzu­bilden und auf diese Weise Erkenntnis über ihren Gegenstand zu gewinnen. Doch hier taucht eine Schwierigkeit auf. Im Fall der Physik hat man sich daran gewöhnt, dass es in einem gewissen Sinn zwei Welten gibt: diejenige der the­o­retis­chen Abstraktion und diejenige unserer naiven All­t­agser­fahrung. Anders bei der Soziologie: Hier empfinden wir Unbehagen angesichts der Mod­el­lierung eines abstrakten Menschen. Er kommt uns leblos und fremd vor.

Die Welt als Theater

Die Erfindung des Homo so­ci­o­log­i­cus lehnt sich an die Ab­strak­tio­nen anderer Disziplinen an. So behelfen sich etwa die Wirtschaftswis­senschaften mit dem so genannten Homo oeconomicus, einem Mod­ell­men­schen, dessen Urprinzip das Streben nach größtmöglichem Nutzen ist. Aus den neueren En­twick­lun­gen der Psychologie, ins­beson­dere den Überlegungen Sigmund Freuds, ist der „psy­cho­log­i­cal man“ her­vorge­gan­gen, der zwischen Trieb und Gewissen hin- und herg­eris­sene Mensch der Psy­cho­analyse. Doch weder der Homo oeconomicus noch der „psy­cho­log­i­cal man“ stellen für den gesunden Men­schen­ver­stand eine solche Zumutung dar wie der Homo so­ci­o­log­i­cus. Dabei ist dessen grundle­gende Kategorie, die soziale Rolle, durchaus keine Erfindung der Moderne. Die Spuren der Metapher von der Welt als Theater, auf dessen Bühne wir Menschen bloß Rollen spielen, lassen sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen. Auch der Homo so­ci­o­log­i­cus ist ein Rol­len­spieler, doch während der wirkliche Mime sich seiner Rolle entledigt, wenn er von der Bühne abtritt, und in sein eigentliches Selbst zurückkehrt, kennt der Homo so­ci­o­log­i­cus eine solche Eigentlichkeit nicht – er ist ja nicht als Mensch aus Fleisch und Blut gedacht, sondern als Abstraktum. Er ist existiert nur, insofern er von der Gesellschaft vordefinierte Rollen spielt.

Herr Schmidt und seine sozialen Positionen

Eine genauere Vorstellung vom Wesen der sozialen Rolle erhält man, wenn man den Homo so­ci­o­log­i­cus konkretisiert. So lässt sich ein „Herr Schmidt“ denken, und an seinem Beispiel kann man einiges erklären. Herr Schmidt ist, so nehmen wir einmal an, von Beruf Studienrat. Außerdem engagiert er sich in einem Fußballverein als Kassenwart, ist Mitglied einer politischen Partei, fährt Auto, spielt Skat, ist Ehemann und Vater. All dies sind soziale Positionen die der imaginäre Herr Schmidt einnimmt. Eine soziale Position ist ein Ort im Netzwerk möglicher sozialer Beziehungen. Sie ist objektiv und nicht von der realen Person abhängig, die sie innehat. Zudem treten soziale Positionen nie vereinzelt auf, sondern stets in einem so genannten Po­si­tions­feld, d. h., dass sich Herr Schmidt als Lehrer in einem Feld mit anderen Positionen befindet. Diese werden z. B. von Kollegen, Vorge­set­zten, Eltern und Schülern besetzt. Da die Beziehungen zwischen den einzelnen Positionen naturgemäß sehr ver­schiedenar­tig sind, ist es sinnvoll, innerhalb eines solchen Po­si­tions­feldes noch einmal zu dif­feren­zieren. Daher spricht die Soziologie von Po­si­tion­sseg­menten, also von Un­tere­in­heiten des Feldes. Ein Beispiel für ein Po­si­tion­sseg­ment innerhalb des Po­si­tions­feldes „Schule“ ist die Beziehung „Studienrat – Rektor“.

Der Begriff der sozialen Rolle

Nun sind sowohl an die Position als Studienrat als auch an das Po­si­tion­sseg­ment „Studienrat – Rektor“ gewisse Vorschriften gebunden. Urheber dieser Vorschriften ist die Gesellschaft. Sie legt fest, wie ein beliebiger Inhaber der Position „Studienrat“ sich zu verhalten hat, welche äußeren Attribute von ihm erwartet werden. In seiner sozialen Rolle begegnet der Einzelne der Gesellschaft, indem er mit ihren Vorschriften kon­fron­tiert wird. Wie die soziale Position ist auch die soziale Rolle als objektiv und vom jeweiligen Akteur unabhängig gedacht; analog zum Begriff der Position gibt es überdies entsprechende Rol­lenseg­mente, die dem Einzelnen dif­feren­ziert vorschreiben, wie er sich innerhalb der ver­schiede­nen Po­si­tion­sseg­mente zu verhalten hat. Von Herrn Schmidt in seiner Rolle als Studienrat wird z. B. erwartet, dass er Anstand zeigt und ein geregeltes Leben führt; im Rol­lenseg­ment „Studienrat – Rektor“ soll er sich z. B. respektvoll verhalten.

Wehe, wenn du nicht ...!

Der Einzelne wird permanent von der Gesellschaft mit Ver­hal­tenser­wartun­gen gegängelt und in seinen Wünschen und Möglichkeiten beschnitten. Deshalb ist sie ihm ein Ärgernis. Zumal die Erwartungen, mit denen ihn die Gesellschaft in Form der sozialen Rollen kon­fron­tiert, keineswegs un­verbindliche Empfehlun­gen sind: Sollte Herr Schmidt es sich einfallen lassen, die Grenzen seiner Rollen zu durch­brechen, muss er mit Sanktionen rechnen. Deren Schwere hängt zum einen davon ab, wie weit der Einzelne vom vorgegebe­nen Kurs abgewichen ist, zum anderen davon, wie eng die Gesellschaft den Rahmen seiner Rolle gesteckt hat. Es lässt sich zwischen Muss-, Soll- und Kann-Er­wartun­gen un­ter­schei­den:

  • In den Bereich der Muss-Er­wartun­gen fallen naturgemäß alle Rol­len­vorschriften, die mit geset­zlichen Sanktionen bewehrt sind. Beispiel: Von Herrn Schmidt als Schatzmeis­ter des Fußballvereins wird erwartet, dass er sich nicht heimlich aus der Vere­in­skasse bedient. Tut er es dennoch, muss er mit strafrechtlichen Kon­se­quen­zen rechnen.
  • Auch ein Fehlver­hal­ten in der Kategorie der Soll-Er­wartun­gen kann durchaus empfind­liche Strafen nach sich ziehen. Beispiel: Zeigt sich Herr Schmidt innerhalb einer bestimmten politischen Partei wiederholt als Anhänger eines politischen Gegners, wird er aus der Partei aus­geschlossen.
  • Die Gruppe der Kann-Er­wartun­gen wird eher durch positive als durch negative Sanktionen verstärkt. Wenn z. B. Herr Schmidt seine knappe Freizeit darangibt, um Spenden für seine Partei zu sammeln, handelt er vermutlich aus dem Wunsch heraus, sich einen guten Ruf zu verschaffen und vielleicht in der Partei zu avancieren. Bliebe er nach Feierabend lieber zu Hause, würde ihm das auch niemand verübeln.

Präzisierung des Gesellschafts­be­griffs

Die Gesellschaft also ist es, die soziale Rollen definiert. Allerdings ist die Rede von „der Gesellschaft “ bloß ein Notbehelf, der eine einheitlich handelnde Instanz vorgaukelt. Tatsächlich gibt es so etwas nicht. Viel eher lässt sich ein Begriff aus der jüngeren Soziologie auf den Bereich der Rol­len­the­o­rie anwenden: die so genannte Bezugs­gruppe. Denn mit Ausnahme der Muss-Er­wartun­gen, sprich: der geltenden Gesetze, die ja praktisch im Namen der gesamten Gesellschaft formuliert sind, haben Rol­len­vorschriften gewöhnlich nur einen begrenzten Ein­fluss­bere­ich. Die Frage z. B., wie Herr Schmidt sich in seiner Rolle als Lehrer gegenüber den Eltern seiner Schüler zu verhalten hat, betrifft nur einen bestimmten Per­so­n­enkreis; nur derjenige Teil der Gesellschaft, der mit dem Lebens­bere­ich Schule zu tun hat, formuliert hier die Erwartungen bzw. belegt den Zuwider­han­del­nden mit entsprechen­den Sanktionen. So wie der Einzelne etliche soziale Positionen gle­ichzeitig innehat (z. B. Vater, Deutscher, Lehrer, Kassenwart, Skatspieler usw.) und wie ihm zudem eine Vielzahl ver­schiedener sozialer Rollen zukommt, ist er über diese Rollen in ein vielschichtiges Netzwerk mehr oder weniger stark sank­tion­ierter Ver­hal­tensvorschriften eingebunden, denen jeweils bestimmte Bezugs­grup­pen zugeordnet werden können. Aufgrund dieser Vielzahl verschränkter Erwartungen kommt es regelmäßig zu Konflikten innerhalb einer Rolle, z. B. wenn ein Professor zwischen seiner Lehrverpflich­tung, eigenen Forschungen und Ver­wal­tungsauf­gaben hin- und hergerissen ist.

Wie Mensch und Rolle zusam­men­finden

Damit der Einzelne eine bestimmte Rolle erfolgreich spielen kann, muss er sie zunächst erlernen. Das geschieht vor allem im Rahmen des Erziehung­sprozesses durch Beobachtung, Nachahmung oder Un­ter­weisung. Die Aufgabe des Einzelnen ist es, die erlernten Normen zu verin­ner­lichen. Dabei übernimmt sein Gewissen die sank­tion­ierende Rolle der Gesellschaft bzw. der jeweiligen Bezugs­gruppe und ermahnt ihn zur Einhaltung der vorgegebe­nen Ver­hal­tensnor­men. Ist dieser Prozess der Rol­len­verin­ner­lichung abgeschlossen, spricht man von einer gelungenen Sozial­i­sa­tion: Aus dem Einzelnen in seiner Ganzheit und In­di­vid­u­alität ist der Homo so­ci­o­log­i­cus entstanden, der die vielfältigen Ansprüche der Gesellschaft anerkannt hat und ihnen möglichst Genüge tut.

„Am Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft steht homo so­ci­o­log­i­cus, der Mensch als Träger sozial vorge­formter Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft.“ (S. 23)

Das Paradox des doppelten Menschen Der Homo so­ci­o­log­i­cus ist also ein wahrer Musterknabe. Er verliert sich vollkommen in den von ihm gespielten Rollen und räumt der Gesellschaft größtmögliche normative Macht über sein Verhalten ein. Ganz of­fen­sichtlich ist er ein Kun­st­pro­dukt und mit dem wirklichen Menschen unserer Er­fahrungswelt nicht in Deckung zu bringen. An diesen Zwiespalt knüpfen sich einige Fragen: Was genau ist es, worin sich der Homo so­ci­o­log­i­cus vom konkreten, einmaligen Menschen un­ter­schei­det? Ist nicht auch der konkrete Mensch vollständig durch seine Rollen definiert? Ist nicht auch er eingewoben in ein fein­maschiges Netz sozialer Notwendigkeiten? Oder bleibt ihm doch ein „Back­stage­bere­ich“ hinter der Theaterbühne seines Lebens, wo er „er selbst“ ist, frei von allen Ansprüchen und Erwartungen der Gesellschaft? Anders gefragt: Was ist der Mensch, wenn nicht die Summe seiner Rollen?

Wo bleibt der freie Wille?

Auch den Philosophen Immanuel Kant hat das Paradox des doppelten Menschen beschäftigt. Er fragte: Was bestimmt die Handlungen des Menschen? Sein freier Wille oder doch die lückenlose Kette kausaler Zusammenhänge? Kant löste das Paradox auf, indem er sagte: Es kommt darauf an, welchen Standpunkt man einnimmt. Der Gegenstand Mensch ist unserer Erkenntnis von zwei ver­schiede­nen Richtungen aus zugänglich: einmal von außen, als an­schaulicher Teil der physischen Welt und damit den Naturge­set­zen vollkommen unterworfen – dies ist sein empirischer Charakter; zum anderen von innen, als einmaliges, freies, unteilbares Geschöpf, das eine eigene Kausalität begründet – dies ist der in­tel­li­gi­ble Charakter des Menschen. Und hier kommt die entschei­dende Kategorie ins Spiel: die Moral. Nur in seinem in­tel­li­gi­blen Charakter nämlich ist der Mensch ein moralisches Wesen, nur hier ist er für sein Handeln und Nichthandeln ve­r­ant­wortlich. Der empirische Mensch steht durch sein Einge­bun­den­sein in die allgemeine Notwendigkeit grundsätzlich außerhalb moralischer Fragen. Und der Homo so­ci­o­log­i­cus ist, so scheint es, ein solcher empirischer und damit amoralis­cher Mensch.

Moralischer Appell an die Soziologie

Wenn nun die Soziologie den Menschen ausschließlich in seiner Gestalt als Homo so­ci­o­log­i­cus betrachtet, weist sie die Frage nach der Moral zurück. Die Reduzierung des Menschen auf seinen empirischen Charakter hat sich ihr als wirksames Mittel erwiesen, gesellschaftliche Zusammenhänge rational zu durch­drin­gen. Moralische Aspekte würden das Bild verwischen, da sie nicht rational erfassbar sind. Schon Max Weber, der Vater der modernen Soziologie, hat eine „reine“ Wis­senschaft gefordert, un­bee­in­flusst von politischen, ide­ol­o­gis­chen oder moralischen Stand­punk­ten. Doch inzwischen hat sich gezeigt, dass eine „reine“ Soziologie nicht möglich und sogar gefährlich ist: Das Men­schen­bild unserer Zeit weist, unter dem wachsenden Einfluss sozi­ol­o­gis­cher Theorien, immer mehr Züge des Homo so­ci­o­log­i­cus auf. Mit anderen Worten: Das Individuum tritt immer mehr hinter der Gesellschaft zurück. Der Soziologe muss daher erkennen, dass er, indem er den Menschen erforscht, sich automatisch in moralischen Kategorien bewegt. Daraus erwächst ihm große Ve­r­ant­wor­tung für die Kon­se­quen­zen seiner Arbeit. Stets muss er sich der Unvollständigkeit seines Ansatzes bewusst bleiben, er darf den Anspruch des Menschen auf In­di­vid­u­alität und Freiheit nicht aus den Augen verlieren und muss seine Forschung so ausrichten, dass sie auf Befestigung und Vergrößerung des Spielraums zielt, den die Gesellschaft dem Einzelnen gewährt.

Zum Text

Aufbau und Stil

Homo So­ci­o­log­i­cus ist mit seinen 76 Seiten ein kurzer Text. Ursprünglich wurde er als Beitrag für eine Festschrift verfasst, dann allerdings in zwei Portionen in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. Der provokante Aufsatz ist in der heutigen Buchfassung etwas um­fan­gre­icher, da Ralf Dahrendorf die Debatte um seine Thesen wiederholt zum Anlass genommen hat, seinen Kritikern zu antworten. Die aktuelle Ausgabe enthält daher nicht nur insgesamt drei Vorworte, in denen der Autor auf die Entste­hungs- und Wirkungs­geschichte seines Werks zurückblickt, sondern ist zusätzlich um den Aufsatz Soziologie und menschliche Natur erweitert, in dem Dahrendorf sich detailliert mit den wichtigsten Gegen­po­si­tio­nen zum Homo So­ci­o­log­i­cus au­seinan­der­setzt.

Der eigentliche Text ist als klassischer Essay verfasst, d. h. in freier Form. Der Autor entwickelt seine Thesen in zehn handlichen Abschnitten. Trotz aller Kürze entsteht jedoch nie der Eindruck der Oberflächlichkeit; wichtige Punkte werden in der gebotenen Genauigkeit vertieft. Be­merkenswert ist, dass diese Präzision keineswegs auf Kosten der Lesbarkeit geht. Im Gegenteil: Statt auf wis­senschaftliche, trockene Verdichtung des Materials setzt Dahrendorf auf eine fast jour­nal­is­tisch anmutende, leichtfüßige und pointierte Schreib­weise.

In­ter­pre­ta­tion­sansätze

  • Dahrendorfs Bestreben, einer „weichen“ Wis­senschaft wie der Soziologie eine „strenge“ Grundlage nach dem Muster der Physik oder der Mathematik zu geben, ist im Grunde ein letzter Ausläufer der Wis­senschaft­se­uphorie aus der Zeit der Aufklärung. Unter dem Eindruck der Newton’schen Revolution war man damals zu­ver­sichtlich, dass irgendwann alle Wirk­lichkeits­bere­iche auf mechanische Prinzipien zurückgeführt werden könnten. Zwar vertritt Dahrendorf in seinem Essay einen solchen pos­i­tivis­tis­chen Standpunkt, doch waren ihm auch dessen Grenzen bewusst. Heute wiederum ist es eher die Biologie, der manche Wis­senschaftler eine umfassende Deutung men­schlichen Verhaltens zutrauen. Selbst die Moral – für Dahrendorf eine un­wis­senschaftliche Kategorie – wird im Hinblick auf ihre bi­ol­o­gis­chen Ursachen erforscht. Verkürzt könnte man also sagen: Die Wis­senschaft­se­uphorie ist zurück.
  • Viele der Kritiker des Homo So­ci­o­log­i­cus berufen sich auf den bedeutenden deutschen Soziologen Max Weber, der im so genannten Wer­turteilsstreit die Position verfocht, Wis­senschaft und Politik seien radikal au­seinan­derzuhal­ten. „Politik gehört nicht in den Hörsaal“, forderte Weber. Damit wehrte er sich gegen die zunehmende Ide­ol­o­gisierung im Wis­senschafts­be­trieb seiner Zeit. Allerdings steht Dahrendorf mit seiner Forderung nach einer moralisch ve­r­ant­wortlichen Soziologie nicht unbedingt im Widerspruch zu Weber. Vielmehr kann man seinen Ansatz als prag­ma­tis­chen Mittelweg betrachten.
  • Obwohl Ralf Dahrendorf ursprünglich überzeugter Sozialdemokrat war und erst 1967 FDP-Mit­glied wurde, zeigt er sich bereits in Homo So­ci­o­log­i­cus als glühender Liberaler, der vor übermäßiger Ein­flussnahme der Gesellschaft und des Staates auf die In­ter­essen­sphäre des Einzelnen warnt.

His­torischer Hintergrund

Die Soziologie in der Nachkriegszeit

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte Deutschland die Zeit des Wieder­auf­baus. Unter der Regie des Alliierten Kon­troll­rats wurde in West­deutsch­land eine Demokratie modernen Zuschnitts geschaffen. Die Gründung der BRD mit der Ve­r­ab­schiedung des Grundge­set­zes 1949 sowie Konrad Adenauers Politik der Annäherung an die Westmächte gaben den politischen Rahmen vor. Mit der Währungsre­form und der Einführung der sozialen Mark­twirtschaft durch Ludwig Erhard wurden die Weichen für den wirtschaftlichen Aufschwung gestellt, der wenig später als „Wirtschaftswun­der“ den Deutschen ungeahnten Wohlstand bescherte. Zusätzlich zu diesen äußeren Veränderungen galt es, die Prinzipien einer frei­heitlichen Gesellschaft­sor­d­nung in den Köpfen der Menschen zu verankern. Hier war die Soziologie die Wis­senschaft der Stunde: Wie sollte eine Gesellschaft verfasst sein, welche Regeln des Zusam­men­lebens und welche In­sti­tu­tio­nen brauchte sie, auf welche Werte galt es sich zu verständigen, wie konnten diese Werte kom­mu­niziert und befestigt werden, damit nie wieder geschah, was zwischen 1933 und 1945 geschehen war? An der Beant­wor­tung dieser Fragen arbeiteten Denker wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die mit Kriegsende aus dem amerikanis­chen Exil zurückgekehrt waren. Doch der Höhenflug der Soziologie wurde bald gehemmt. Weite Teile der Bevölkerung zogen sich mit zunehmendem Wohlstand ins Private zurück, die Au­far­beitung der Ver­gan­gen­heit und die innere Demokratisierung gerieten ins Stocken, um die Aufrechter­hal­tung der öffentlichen Diskussion über politische und soziale Fragen musste mühsam gekämpft werden. Der Konflikt entlud sich schließlich in den Stu­den­te­nun­ruhen der 60er Jahre.

Entstehung

Im Sommer 1957 trat Ralf Dahrendorf, gerade habilitiert und voller Tatendrang, ein Forschungsstipendium im kali­for­nischen Palo Alto an. Dort hatte er Muße zum Nachdenken und Schreiben und genoss zudem die geistige Anregung durch Gespräche mit Wis­senschaftlern wie dem Historiker Fritz Stern oder Talcott Parsons, dem damals führenden Kopf der Soziologie. Wie Dahrendorf in seinen Erin­nerun­gen schreibt, war er „in­tellek­tuell mit einem weißen Blatt Papier“ nach Palo Alto gekommen. Er hatte also kein bestimmtes Projekt, an dem er gerade arbeitete. So blieb ihm genug Zeit für Pokerrunden mit den Wirtschaftswis­senschaftlern und zukünftigen No­bel­preisträgern George Stigler, Milton Friedman, Kenneth Arrow und Robert Solow sowie für die Gewöhnung an das Schreiben mit der Schreib­mas­chine. Irgendwann verdichteten sich die vielfältigen In­spi­ra­tio­nen zu einem Ganzen und Dahrendorf machte sich an die Arbeit. Eines der Ergebnisse war der Essay Homo So­ci­o­log­i­cus. Der Begriff der sozialen Rolle, den Dahrendorf darin darlegte und diskutierte, war keineswegs neu; vielmehr schloss Homo So­ci­o­log­i­cus an die Theorien ver­schiedener amerikanis­cher Wis­senschaftler an und zielte vor allem auf eine Belebung der kon­ti­nen­taleu­ropäischen Soziologie, die nach Meinung Dahrendorfs hinter der allgemeinen Entwicklung zurückgeblieben war. Allerdings hatte er es ursprünglich nicht auf eine eigenständige Veröffentlichung des Essays abgesehen; stattdessen sollte dieser als Beitrag zu einer Festschrift anlässlich des 65. Geburtstags seines Dok­tor­vaters Josef König Verwendung finden. Er erschien aber noch im gleichen Jahr in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsy­cholo­gie.

Wirkungs­geschichte

Obwohl Dahrendorfs Essay wis­senschaftlich nichts ganz und gar Neues zu bieten hatte, entfaltete er innerhalb der deutschen Soziologie eine enorme und un­mit­tel­bare Wirkung. Gleich nach dem Erstabdruck in der Kölner Zeitschrift schob der West­deutsche Verlag die Buchversion hinterher; das Er­re­gungspoten­zial war so groß, dass ein Jahr später schon die vierte Auflage erschien. Kein deutscher Soziologe von Rang ließ es sich nehmen, zu Homo So­ci­o­log­i­cus Stellung zu beziehen. Dahrendorf seinerseits war um (oft polemisch zugespitzte) Antworten nicht verlegen; im Nu entbrannte eine lebhafte Diskussion, die nicht auf die Fachkreise beschränkt blieb. Vor allem Dahrendorfs Rede von der „ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft“ po­lar­isierte: Auf der einen Seite wurde ihm vorgeworfen, unter anderem vom Philosophen Helmuth Plessner, er würde zum Rückzug ins Private auffordern und so einen Keil zwischen den Einzelnen und die Gemein­schaft treiben; auf der anderen Seite griff wenig später die Stu­den­ten­be­we­gung dieses Schlagwort für ihre Zwecke auf, wobei sie es als Auf­forderung zum Kampf gegen überkommene Strukturen und In­sti­tu­tio­nen verstand. Eine weitere Debatte entzündete sich an der Frage, ob die Soziologie politische und moralische Ve­r­ant­wor­tung wahrnehmen müsse. Soziologen der alten Schule, u. a. Arnold Gehlen und Helmut Schelsky, lehnten das kategorisch ab: Die Soziologie, auf dem Weg zu einer exakten Wis­senschaft, müsse sich aller Werturteile enthalten. Dahrendorf wurde zur Leitfigur derjenigen, die sich von den Erken­nt­nis­sen der Soziologie gesellschaftliche Verbesserun­gen erhofften. Den Kon­tro­ver­sen um den moral­philosophis­chen Teil des Homo So­ci­o­log­i­cus ist es zu verdanken, dass der Essay seinen wis­senschaftlichen Anspruch erfüllte und den Rol­len­be­griff in der deutschen Soziologie verankerte.

Über den Autor

Ralf Dahrendorf wird am 1. Mai 1929 in Hamburg als Sohn eines prominenten Sozialdemokraten geboren. Nach der Machter­grei­fung Hitlers taucht die Familie in Berlin ab, wo der Vater sich dem Widerstand anschließt. Auch Ralf Dahrendorf stellt sich als 14-Jähriger gegen die Diktatur und wird 1944 verhaftet. Den Erfahrungen im Gestap­o­lager Schwetig verdankt er, wie er später schreibt, seinen „fast klaus­tro­pho­bis­chen Drang zur Freiheit“. Nach Kriegsende schlägt Dahrendorf eine akademische Karriere ein, promoviert im Fach Philosophie, fühlt sich jedoch bald zu den Sozial­wis­senschaften hingezogen, da er sich hier ein Betätigungsfeld für seinen Idealismus erhofft. Nach einer zweiten Promotion an der London School of Economics und der Ha­bil­i­ta­tion erhält er 1957 ein Forschungsstipendium am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences in Kalifornien, dem seinerzeit wohl berühmtesten Thinktank der noch jungen Soziologie. Mit kon­tro­ver­sen Essays macht er sich schnell einen Namen und wird unmittelbar nach seiner Rückkehr zum Professor für Soziologie an der Hamburger Akademie für Gemein­wirtschaft berufen. Weitere Professuren in Tübingen und Konstanz folgen. 1967 wendet Dahrendorf sich der Politik zu: Als FDP-Ab­ge­ord­neter im Bundestag, par­la­men­tarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt sowie als EG-Kom­mis­sar für Außenhandel in Brüssel vertritt er einen engagierten Lib­er­al­is­mus nach britischem Vorbild. 1974 kehrt er der Politik den Rücken und wird Rektor an der London School of Economics, seiner Alma Mater. 1993 wird er, inzwischen britischer Staatsbürger, in den Adelsstand erhoben. Als Baron Dahrendorf of Clare Market in the City of Westminster ist er tätiges Mitglied des House of Lords. 2007 erhält er den renom­mierten Prinz-von-As­turien-Preis. Am 17. Juni 2009 stirbt Ralf Dahrendorf in Köln; er wird in Hamburg beigesetzt.