Eine Wissenschaft auf der Suche nach ihrem Gegenstand
Die junge Wissenschaft der Soziologie ist bemüht, ihren Platz im Konzert der etablierten Wissenschaften zu finden. Doch es herrscht Uneinigkeit über ihren eigentlichen Gegenstand. Die Soziologie will die Phänomene menschlichen Zusammenlebens, sprich: der Gesellschaft, erforschen. Doch womit genau hat sie es dabei zu tun? Was für ein Ding ist Gesellschaft? Ist sie eine Ansammlung von Einzelpersönlichkeiten? Oder ist sie aus sozialen Gruppen zusammengesetzt, also aus Familien, Unternehmen, Vereinen, Religionsgemeinschaften usw.? Beide Ansichten sind falsch: Gegenstand der Soziologie muss der so genannte Homo sociologicus sein, eine Art Modellmensch, der zum einen durch seine gesellschaftlich definierte Rolle bestimmt ist, zum anderen dadurch, wie er sich als Einzelmensch in dieser Rolle verhält. Wie z. B. die Physik ihre Überlegungen auf das atomare Teilchenmodell gründet, so kann sich die Soziologie dieses Homo sociologicus bedienen, um gesellschaftliche Vorgänge nachzubilden und auf diese Weise Erkenntnis über ihren Gegenstand zu gewinnen. Doch hier taucht eine Schwierigkeit auf. Im Fall der Physik hat man sich daran gewöhnt, dass es in einem gewissen Sinn zwei Welten gibt: diejenige der theoretischen Abstraktion und diejenige unserer naiven Alltagserfahrung. Anders bei der Soziologie: Hier empfinden wir Unbehagen angesichts der Modellierung eines abstrakten Menschen. Er kommt uns leblos und fremd vor.
Die Welt als Theater
Die Erfindung des Homo sociologicus lehnt sich an die Abstraktionen anderer Disziplinen an. So behelfen sich etwa die Wirtschaftswissenschaften mit dem so genannten Homo oeconomicus, einem Modellmenschen, dessen Urprinzip das Streben nach größtmöglichem Nutzen ist. Aus den neueren Entwicklungen der Psychologie, insbesondere den Überlegungen Sigmund Freuds, ist der „psychological man“ hervorgegangen, der zwischen Trieb und Gewissen hin- und hergerissene Mensch der Psychoanalyse. Doch weder der Homo oeconomicus noch der „psychological man“ stellen für den gesunden Menschenverstand eine solche Zumutung dar wie der Homo sociologicus. Dabei ist dessen grundlegende Kategorie, die soziale Rolle, durchaus keine Erfindung der Moderne. Die Spuren der Metapher von der Welt als Theater, auf dessen Bühne wir Menschen bloß Rollen spielen, lassen sich bis in die griechische Antike zurückverfolgen. Auch der Homo sociologicus ist ein Rollenspieler, doch während der wirkliche Mime sich seiner Rolle entledigt, wenn er von der Bühne abtritt, und in sein eigentliches Selbst zurückkehrt, kennt der Homo sociologicus eine solche Eigentlichkeit nicht – er ist ja nicht als Mensch aus Fleisch und Blut gedacht, sondern als Abstraktum. Er ist existiert nur, insofern er von der Gesellschaft vordefinierte Rollen spielt.
Herr Schmidt und seine sozialen Positionen
Eine genauere Vorstellung vom Wesen der sozialen Rolle erhält man, wenn man den Homo sociologicus konkretisiert. So lässt sich ein „Herr Schmidt“ denken, und an seinem Beispiel kann man einiges erklären. Herr Schmidt ist, so nehmen wir einmal an, von Beruf Studienrat. Außerdem engagiert er sich in einem Fußballverein als Kassenwart, ist Mitglied einer politischen Partei, fährt Auto, spielt Skat, ist Ehemann und Vater. All dies sind soziale Positionen die der imaginäre Herr Schmidt einnimmt. Eine soziale Position ist ein Ort im Netzwerk möglicher sozialer Beziehungen. Sie ist objektiv und nicht von der realen Person abhängig, die sie innehat. Zudem treten soziale Positionen nie vereinzelt auf, sondern stets in einem so genannten Positionsfeld, d. h., dass sich Herr Schmidt als Lehrer in einem Feld mit anderen Positionen befindet. Diese werden z. B. von Kollegen, Vorgesetzten, Eltern und Schülern besetzt. Da die Beziehungen zwischen den einzelnen Positionen naturgemäß sehr verschiedenartig sind, ist es sinnvoll, innerhalb eines solchen Positionsfeldes noch einmal zu differenzieren. Daher spricht die Soziologie von Positionssegmenten, also von Untereinheiten des Feldes. Ein Beispiel für ein Positionssegment innerhalb des Positionsfeldes „Schule“ ist die Beziehung „Studienrat – Rektor“.
Der Begriff der sozialen Rolle
Nun sind sowohl an die Position als Studienrat als auch an das Positionssegment „Studienrat – Rektor“ gewisse Vorschriften gebunden. Urheber dieser Vorschriften ist die Gesellschaft. Sie legt fest, wie ein beliebiger Inhaber der Position „Studienrat“ sich zu verhalten hat, welche äußeren Attribute von ihm erwartet werden. In seiner sozialen Rolle begegnet der Einzelne der Gesellschaft, indem er mit ihren Vorschriften konfrontiert wird. Wie die soziale Position ist auch die soziale Rolle als objektiv und vom jeweiligen Akteur unabhängig gedacht; analog zum Begriff der Position gibt es überdies entsprechende Rollensegmente, die dem Einzelnen differenziert vorschreiben, wie er sich innerhalb der verschiedenen Positionssegmente zu verhalten hat. Von Herrn Schmidt in seiner Rolle als Studienrat wird z. B. erwartet, dass er Anstand zeigt und ein geregeltes Leben führt; im Rollensegment „Studienrat – Rektor“ soll er sich z. B. respektvoll verhalten.
Wehe, wenn du nicht ...!
Der Einzelne wird permanent von der Gesellschaft mit Verhaltenserwartungen gegängelt und in seinen Wünschen und Möglichkeiten beschnitten. Deshalb ist sie ihm ein Ärgernis. Zumal die Erwartungen, mit denen ihn die Gesellschaft in Form der sozialen Rollen konfrontiert, keineswegs unverbindliche Empfehlungen sind: Sollte Herr Schmidt es sich einfallen lassen, die Grenzen seiner Rollen zu durchbrechen, muss er mit Sanktionen rechnen. Deren Schwere hängt zum einen davon ab, wie weit der Einzelne vom vorgegebenen Kurs abgewichen ist, zum anderen davon, wie eng die Gesellschaft den Rahmen seiner Rolle gesteckt hat. Es lässt sich zwischen Muss-, Soll- und Kann-Erwartungen unterscheiden:
- In den Bereich der Muss-Erwartungen fallen naturgemäß alle Rollenvorschriften, die mit gesetzlichen Sanktionen bewehrt sind. Beispiel: Von Herrn Schmidt als Schatzmeister des Fußballvereins wird erwartet, dass er sich nicht heimlich aus der Vereinskasse bedient. Tut er es dennoch, muss er mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen.
- Auch ein Fehlverhalten in der Kategorie der Soll-Erwartungen kann durchaus empfindliche Strafen nach sich ziehen. Beispiel: Zeigt sich Herr Schmidt innerhalb einer bestimmten politischen Partei wiederholt als Anhänger eines politischen Gegners, wird er aus der Partei ausgeschlossen.
- Die Gruppe der Kann-Erwartungen wird eher durch positive als durch negative Sanktionen verstärkt. Wenn z. B. Herr Schmidt seine knappe Freizeit darangibt, um Spenden für seine Partei zu sammeln, handelt er vermutlich aus dem Wunsch heraus, sich einen guten Ruf zu verschaffen und vielleicht in der Partei zu avancieren. Bliebe er nach Feierabend lieber zu Hause, würde ihm das auch niemand verübeln.
Präzisierung des Gesellschaftsbegriffs
Die Gesellschaft also ist es, die soziale Rollen definiert. Allerdings ist die Rede von „der Gesellschaft “ bloß ein Notbehelf, der eine einheitlich handelnde Instanz vorgaukelt. Tatsächlich gibt es so etwas nicht. Viel eher lässt sich ein Begriff aus der jüngeren Soziologie auf den Bereich der Rollentheorie anwenden: die so genannte Bezugsgruppe. Denn mit Ausnahme der Muss-Erwartungen, sprich: der geltenden Gesetze, die ja praktisch im Namen der gesamten Gesellschaft formuliert sind, haben Rollenvorschriften gewöhnlich nur einen begrenzten Einflussbereich. Die Frage z. B., wie Herr Schmidt sich in seiner Rolle als Lehrer gegenüber den Eltern seiner Schüler zu verhalten hat, betrifft nur einen bestimmten Personenkreis; nur derjenige Teil der Gesellschaft, der mit dem Lebensbereich Schule zu tun hat, formuliert hier die Erwartungen bzw. belegt den Zuwiderhandelnden mit entsprechenden Sanktionen. So wie der Einzelne etliche soziale Positionen gleichzeitig innehat (z. B. Vater, Deutscher, Lehrer, Kassenwart, Skatspieler usw.) und wie ihm zudem eine Vielzahl verschiedener sozialer Rollen zukommt, ist er über diese Rollen in ein vielschichtiges Netzwerk mehr oder weniger stark sanktionierter Verhaltensvorschriften eingebunden, denen jeweils bestimmte Bezugsgruppen zugeordnet werden können. Aufgrund dieser Vielzahl verschränkter Erwartungen kommt es regelmäßig zu Konflikten innerhalb einer Rolle, z. B. wenn ein Professor zwischen seiner Lehrverpflichtung, eigenen Forschungen und Verwaltungsaufgaben hin- und hergerissen ist.
Wie Mensch und Rolle zusammenfinden
Damit der Einzelne eine bestimmte Rolle erfolgreich spielen kann, muss er sie zunächst erlernen. Das geschieht vor allem im Rahmen des Erziehungsprozesses durch Beobachtung, Nachahmung oder Unterweisung. Die Aufgabe des Einzelnen ist es, die erlernten Normen zu verinnerlichen. Dabei übernimmt sein Gewissen die sanktionierende Rolle der Gesellschaft bzw. der jeweiligen Bezugsgruppe und ermahnt ihn zur Einhaltung der vorgegebenen Verhaltensnormen. Ist dieser Prozess der Rollenverinnerlichung abgeschlossen, spricht man von einer gelungenen Sozialisation: Aus dem Einzelnen in seiner Ganzheit und Individualität ist der Homo sociologicus entstanden, der die vielfältigen Ansprüche der Gesellschaft anerkannt hat und ihnen möglichst Genüge tut.
„Am Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft steht homo sociologicus, der Mensch als Träger sozial vorgeformter Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber diese Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft.“ (S. 23)
Das Paradox des doppelten Menschen Der Homo sociologicus ist also ein wahrer Musterknabe. Er verliert sich vollkommen in den von ihm gespielten Rollen und räumt der Gesellschaft größtmögliche normative Macht über sein Verhalten ein. Ganz offensichtlich ist er ein Kunstprodukt und mit dem wirklichen Menschen unserer Erfahrungswelt nicht in Deckung zu bringen. An diesen Zwiespalt knüpfen sich einige Fragen: Was genau ist es, worin sich der Homo sociologicus vom konkreten, einmaligen Menschen unterscheidet? Ist nicht auch der konkrete Mensch vollständig durch seine Rollen definiert? Ist nicht auch er eingewoben in ein feinmaschiges Netz sozialer Notwendigkeiten? Oder bleibt ihm doch ein „Backstagebereich“ hinter der Theaterbühne seines Lebens, wo er „er selbst“ ist, frei von allen Ansprüchen und Erwartungen der Gesellschaft? Anders gefragt: Was ist der Mensch, wenn nicht die Summe seiner Rollen?
Wo bleibt der freie Wille?
Auch den Philosophen Immanuel Kant hat das Paradox des doppelten Menschen beschäftigt. Er fragte: Was bestimmt die Handlungen des Menschen? Sein freier Wille oder doch die lückenlose Kette kausaler Zusammenhänge? Kant löste das Paradox auf, indem er sagte: Es kommt darauf an, welchen Standpunkt man einnimmt. Der Gegenstand Mensch ist unserer Erkenntnis von zwei verschiedenen Richtungen aus zugänglich: einmal von außen, als anschaulicher Teil der physischen Welt und damit den Naturgesetzen vollkommen unterworfen – dies ist sein empirischer Charakter; zum anderen von innen, als einmaliges, freies, unteilbares Geschöpf, das eine eigene Kausalität begründet – dies ist der intelligible Charakter des Menschen. Und hier kommt die entscheidende Kategorie ins Spiel: die Moral. Nur in seinem intelligiblen Charakter nämlich ist der Mensch ein moralisches Wesen, nur hier ist er für sein Handeln und Nichthandeln verantwortlich. Der empirische Mensch steht durch sein Eingebundensein in die allgemeine Notwendigkeit grundsätzlich außerhalb moralischer Fragen. Und der Homo sociologicus ist, so scheint es, ein solcher empirischer und damit amoralischer Mensch.
Moralischer Appell an die Soziologie
Wenn nun die Soziologie den Menschen ausschließlich in seiner Gestalt als Homo sociologicus betrachtet, weist sie die Frage nach der Moral zurück. Die Reduzierung des Menschen auf seinen empirischen Charakter hat sich ihr als wirksames Mittel erwiesen, gesellschaftliche Zusammenhänge rational zu durchdringen. Moralische Aspekte würden das Bild verwischen, da sie nicht rational erfassbar sind. Schon Max Weber, der Vater der modernen Soziologie, hat eine „reine“ Wissenschaft gefordert, unbeeinflusst von politischen, ideologischen oder moralischen Standpunkten. Doch inzwischen hat sich gezeigt, dass eine „reine“ Soziologie nicht möglich und sogar gefährlich ist: Das Menschenbild unserer Zeit weist, unter dem wachsenden Einfluss soziologischer Theorien, immer mehr Züge des Homo sociologicus auf. Mit anderen Worten: Das Individuum tritt immer mehr hinter der Gesellschaft zurück. Der Soziologe muss daher erkennen, dass er, indem er den Menschen erforscht, sich automatisch in moralischen Kategorien bewegt. Daraus erwächst ihm große Verantwortung für die Konsequenzen seiner Arbeit. Stets muss er sich der Unvollständigkeit seines Ansatzes bewusst bleiben, er darf den Anspruch des Menschen auf Individualität und Freiheit nicht aus den Augen verlieren und muss seine Forschung so ausrichten, dass sie auf Befestigung und Vergrößerung des Spielraums zielt, den die Gesellschaft dem Einzelnen gewährt.
Zum Text
Aufbau und Stil
Homo Sociologicus ist mit seinen 76 Seiten ein kurzer Text. Ursprünglich wurde er als Beitrag für eine Festschrift verfasst, dann allerdings in zwei Portionen in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. Der provokante Aufsatz ist in der heutigen Buchfassung etwas umfangreicher, da Ralf Dahrendorf die Debatte um seine Thesen wiederholt zum Anlass genommen hat, seinen Kritikern zu antworten. Die aktuelle Ausgabe enthält daher nicht nur insgesamt drei Vorworte, in denen der Autor auf die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte seines Werks zurückblickt, sondern ist zusätzlich um den Aufsatz Soziologie und menschliche Natur erweitert, in dem Dahrendorf sich detailliert mit den wichtigsten Gegenpositionen zum Homo Sociologicus auseinandersetzt.
Der eigentliche Text ist als klassischer Essay verfasst, d. h. in freier Form. Der Autor entwickelt seine Thesen in zehn handlichen Abschnitten. Trotz aller Kürze entsteht jedoch nie der Eindruck der Oberflächlichkeit; wichtige Punkte werden in der gebotenen Genauigkeit vertieft. Bemerkenswert ist, dass diese Präzision keineswegs auf Kosten der Lesbarkeit geht. Im Gegenteil: Statt auf wissenschaftliche, trockene Verdichtung des Materials setzt Dahrendorf auf eine fast journalistisch anmutende, leichtfüßige und pointierte Schreibweise.
Interpretationsansätze
- Dahrendorfs Bestreben, einer „weichen“ Wissenschaft wie der Soziologie eine „strenge“ Grundlage nach dem Muster der Physik oder der Mathematik zu geben, ist im Grunde ein letzter Ausläufer der Wissenschaftseuphorie aus der Zeit der Aufklärung. Unter dem Eindruck der Newton’schen Revolution war man damals zuversichtlich, dass irgendwann alle Wirklichkeitsbereiche auf mechanische Prinzipien zurückgeführt werden könnten. Zwar vertritt Dahrendorf in seinem Essay einen solchen positivistischen Standpunkt, doch waren ihm auch dessen Grenzen bewusst. Heute wiederum ist es eher die Biologie, der manche Wissenschaftler eine umfassende Deutung menschlichen Verhaltens zutrauen. Selbst die Moral – für Dahrendorf eine unwissenschaftliche Kategorie – wird im Hinblick auf ihre biologischen Ursachen erforscht. Verkürzt könnte man also sagen: Die Wissenschaftseuphorie ist zurück.
- Viele der Kritiker des Homo Sociologicus berufen sich auf den bedeutenden deutschen Soziologen Max Weber, der im so genannten Werturteilsstreit die Position verfocht, Wissenschaft und Politik seien radikal auseinanderzuhalten. „Politik gehört nicht in den Hörsaal“, forderte Weber. Damit wehrte er sich gegen die zunehmende Ideologisierung im Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit. Allerdings steht Dahrendorf mit seiner Forderung nach einer moralisch verantwortlichen Soziologie nicht unbedingt im Widerspruch zu Weber. Vielmehr kann man seinen Ansatz als pragmatischen Mittelweg betrachten.
- Obwohl Ralf Dahrendorf ursprünglich überzeugter Sozialdemokrat war und erst 1967 FDP-Mitglied wurde, zeigt er sich bereits in Homo Sociologicus als glühender Liberaler, der vor übermäßiger Einflussnahme der Gesellschaft und des Staates auf die Interessensphäre des Einzelnen warnt.
Historischer Hintergrund
Die Soziologie in der Nachkriegszeit
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte Deutschland die Zeit des Wiederaufbaus. Unter der Regie des Alliierten Kontrollrats wurde in Westdeutschland eine Demokratie modernen Zuschnitts geschaffen. Die Gründung der BRD mit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 sowie Konrad Adenauers Politik der Annäherung an die Westmächte gaben den politischen Rahmen vor. Mit der Währungsreform und der Einführung der sozialen Marktwirtschaft durch Ludwig Erhard wurden die Weichen für den wirtschaftlichen Aufschwung gestellt, der wenig später als „Wirtschaftswunder“ den Deutschen ungeahnten Wohlstand bescherte. Zusätzlich zu diesen äußeren Veränderungen galt es, die Prinzipien einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung in den Köpfen der Menschen zu verankern. Hier war die Soziologie die Wissenschaft der Stunde: Wie sollte eine Gesellschaft verfasst sein, welche Regeln des Zusammenlebens und welche Institutionen brauchte sie, auf welche Werte galt es sich zu verständigen, wie konnten diese Werte kommuniziert und befestigt werden, damit nie wieder geschah, was zwischen 1933 und 1945 geschehen war? An der Beantwortung dieser Fragen arbeiteten Denker wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die mit Kriegsende aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt waren. Doch der Höhenflug der Soziologie wurde bald gehemmt. Weite Teile der Bevölkerung zogen sich mit zunehmendem Wohlstand ins Private zurück, die Aufarbeitung der Vergangenheit und die innere Demokratisierung gerieten ins Stocken, um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Diskussion über politische und soziale Fragen musste mühsam gekämpft werden. Der Konflikt entlud sich schließlich in den Studentenunruhen der 60er Jahre.
Entstehung
Im Sommer 1957 trat Ralf Dahrendorf, gerade habilitiert und voller Tatendrang, ein Forschungsstipendium im kalifornischen Palo Alto an. Dort hatte er Muße zum Nachdenken und Schreiben und genoss zudem die geistige Anregung durch Gespräche mit Wissenschaftlern wie dem Historiker Fritz Stern oder Talcott Parsons, dem damals führenden Kopf der Soziologie. Wie Dahrendorf in seinen Erinnerungen schreibt, war er „intellektuell mit einem weißen Blatt Papier“ nach Palo Alto gekommen. Er hatte also kein bestimmtes Projekt, an dem er gerade arbeitete. So blieb ihm genug Zeit für Pokerrunden mit den Wirtschaftswissenschaftlern und zukünftigen Nobelpreisträgern George Stigler, Milton Friedman, Kenneth Arrow und Robert Solow sowie für die Gewöhnung an das Schreiben mit der Schreibmaschine. Irgendwann verdichteten sich die vielfältigen Inspirationen zu einem Ganzen und Dahrendorf machte sich an die Arbeit. Eines der Ergebnisse war der Essay Homo Sociologicus. Der Begriff der sozialen Rolle, den Dahrendorf darin darlegte und diskutierte, war keineswegs neu; vielmehr schloss Homo Sociologicus an die Theorien verschiedener amerikanischer Wissenschaftler an und zielte vor allem auf eine Belebung der kontinentaleuropäischen Soziologie, die nach Meinung Dahrendorfs hinter der allgemeinen Entwicklung zurückgeblieben war. Allerdings hatte er es ursprünglich nicht auf eine eigenständige Veröffentlichung des Essays abgesehen; stattdessen sollte dieser als Beitrag zu einer Festschrift anlässlich des 65. Geburtstags seines Doktorvaters Josef König Verwendung finden. Er erschien aber noch im gleichen Jahr in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.
Wirkungsgeschichte
Obwohl Dahrendorfs Essay wissenschaftlich nichts ganz und gar Neues zu bieten hatte, entfaltete er innerhalb der deutschen Soziologie eine enorme und unmittelbare Wirkung. Gleich nach dem Erstabdruck in der Kölner Zeitschrift schob der Westdeutsche Verlag die Buchversion hinterher; das Erregungspotenzial war so groß, dass ein Jahr später schon die vierte Auflage erschien. Kein deutscher Soziologe von Rang ließ es sich nehmen, zu Homo Sociologicus Stellung zu beziehen. Dahrendorf seinerseits war um (oft polemisch zugespitzte) Antworten nicht verlegen; im Nu entbrannte eine lebhafte Diskussion, die nicht auf die Fachkreise beschränkt blieb. Vor allem Dahrendorfs Rede von der „ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft“ polarisierte: Auf der einen Seite wurde ihm vorgeworfen, unter anderem vom Philosophen Helmuth Plessner, er würde zum Rückzug ins Private auffordern und so einen Keil zwischen den Einzelnen und die Gemeinschaft treiben; auf der anderen Seite griff wenig später die Studentenbewegung dieses Schlagwort für ihre Zwecke auf, wobei sie es als Aufforderung zum Kampf gegen überkommene Strukturen und Institutionen verstand. Eine weitere Debatte entzündete sich an der Frage, ob die Soziologie politische und moralische Verantwortung wahrnehmen müsse. Soziologen der alten Schule, u. a. Arnold Gehlen und Helmut Schelsky, lehnten das kategorisch ab: Die Soziologie, auf dem Weg zu einer exakten Wissenschaft, müsse sich aller Werturteile enthalten. Dahrendorf wurde zur Leitfigur derjenigen, die sich von den Erkenntnissen der Soziologie gesellschaftliche Verbesserungen erhofften. Den Kontroversen um den moralphilosophischen Teil des Homo Sociologicus ist es zu verdanken, dass der Essay seinen wissenschaftlichen Anspruch erfüllte und den Rollenbegriff in der deutschen Soziologie verankerte.