Talente werden dringend benötigt
Nicht erst seit dem demografischen Wandel ist Unternehmensführern und Personalchefs klar geworden, dass gute Leute nicht vom Himmel fallen. In fast allen Branchen ist mittlerweile der so genannte „War for Talents“ entbrannt: der Wettbewerb um die besten Fachkräfte. Bei der Definition ihrer Wunschvorstellung greifen selbst realistische Personaler nach den Sternen: Jeder will Exzellenz und Bestleistungen.
„Hochbegabte stellen alles infrage, sind rastlos, rasch gelangweilt und häufig anspruchsvoll. Da bevorzugen Organisationen lieber gefolgsame, graue Mitarbeiter, die brav ihren Dienst versehen, ohne unangenehm aufzufallen.“
Doch Talent ist begrenzt: Nur etwa 2 % der Bevölkerung sind hochbegabt, haben also einen IQ von mehr als 130. Als Mitarbeiter oder Manager sind diese Menschen einerseits begehrt, denn ihr Arbeitstempo, ihre Kreativität und ihre hohe Auffassungsgabe bringen Unternehmen voran. Andererseits sind sie gefürchtet: Hochbegabte gelten als rebellisch, schrullig und eigenbrötlerisch; ihnen wird sogar eine regelrechte Anpassungsresistenz nachgesagt. Keine Frage, Ausnahmetalente sind anders, und diese Andersartigkeit wertet die durchschnittliche Mehrheit oft als Bedrohung. Mitunter müssen Hochbegabte in Firmen sogar Mobbing erdulden. Unternehmen, die einige Grundregeln beherzigen, können aber vom Potenzial dieser besonderen Menschen profitieren.
Krieg um Köpfe
Viele Unternehmen scheuen davor zurück, Leute zu rekrutieren, die eindeutig hochbegabt sind. Personalexperten wünschen sich korrekte, formbare und in jeder Hinsicht angepasste Kandidaten. Sie wissen aus Erfahrung, dass Hochbegabte zwar gute Arbeit leisten, aber auch Arbeit machen: Sie fordern viel, neigen zu Respektlosigkeit, sind als bunte Hunde verschrien und wollen Dinge augenblicklich verändern, wenn sie diese als störend oder problematisch identifiziert haben. Sie sind also erst mal Störenfriede, auch wenn ihr Beitrag grundsätzlich als äußerst notwendig erkannt wird. Während andere Mitarbeiter überwiegend Sicherheit und ein festes Einkommen erwarten, wollen Hochbegabte in der Regel Herausforderung und Bestätigung.
„Hochbegabung und Hochsensibilität sind zwei Begriffe, die viele Menschen abschrecken. Ein Mitarbeiter, der intelligenter ist als Sie, ist nicht gefährlich, im Gegenteil.“
Doch wie alle anderen suchen auch Hochbegabte ideale Lebens- und Arbeitsbedingungen. Das führt seit Jahrzehnten zu einem Braindrain von Europa in Richtung USA. Auch Kanada und Australien versuchen im Krieg um die Köpfe Boden zu gewinnen. In Europa wandern Hochbegabte vor allem von Osten nach Westen. Deutschland ist derzeit hinsichtlich Zu- und Abwanderungen ausgeglichen, während Österreich Talente verliert. Die Schweiz und die Niederlande erfreuen sich eines höheren Zuzugs, der den Wegzug anderer Arbeitskräfte überwiegt.
Die Suche nach dem Sinn
Hochbegabte suchen immer nach dem Sinn einer Aufgabe. Wenn darauf im Job oft nicht eingegangen wird, sind sie schnell frustriert. Zur Sinnsuche gehört auch das elementare Bedürfnis, sich zu verwirklichen. Hochbegabte streben stets danach, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Haben sie den Eindruck, dass ihnen das nicht gelingt, werden sie unglücklich, nervös oder sogar angriffslustig. Das Bewusstsein, anderen etwas vorauszuhaben, begünstigt ein egozentrisches Weltbild. Die Gefahr, dass Hochbegabte sich und ihr Lieblingsthema zu sehr in den Vordergrund rücken und dabei die tatsächlichen Aufgaben vernachlässigen, besteht permanent. Was in Wahrheit vor allem Weltfremdheit ist, wirkt auf andere arrogant. Zugleich neigen Hochbegabte paradoxerweise dazu, ihr eigenes Talent als zu gering einzuschätzen – ihr übertriebener Ehrgeiz lässt sie ständig an den eigenen Ansprüchen scheitern.
„Viele Hochbegabte leiden unter starren Vorgaben und engen, klar definierten Aufgabenbereichen für den einzelnen Mitarbeiter in großen Organisationen.“
Der Umgang von Hochbegabten mit ihren Mitmenschen ist von Missverständnissen geprägt: Während sie neue Herausforderungen und unübersichtliche Aufgaben lieben, sind sie von Alltagsarbeit schnell gelangweilt und ermüdet, worunter deren Qualität leiden kann. Gleichzeitig setzen sie ihr eigenes hohes Tempo beim Denken oder Arbeiten meist auch bei anderen voraus. Werden sie in dieser Erwartung enttäuscht, machen sie lieber gleich alles selbst. Umgekehrt stoßen ihre unkonventionellen, für normal Begabte oft schwer nachvollziehbaren Problemlösungen und Strategien oft auf Ablehnung.
Teamphobie
Weil sie wissen, dass sie schneller Lösungen finden als die meisten Mitmenschen, entwickeln viele Hochbegabte eine Teamphobie. Sie verlassen sich nur noch auf sich selbst und sind überzeugt davon, nicht mit anderen zusammenarbeiten zu können. Bei Wissenslücken wird lieber nachgeschlagen, als dass man andere fragt. Viele Hochbegabte haben deshalb auch Mühe mit Führungsrollen. Grundsätzlich verfügen sie aber nicht über weniger Empathie als andere – ihre Sensibilität ist sogar zumeist ähnlich hoch ausgeprägt wie ihre Intelligenz. Soziale Kompetenzen können sie – wie alles andere – sehr schnell erlernen. Sie müssen nur von deren Notwendigkeit überzeugt werden.
„Ein hoher IQ allein ist kein Garant für den Erfolg eines Menschen. Wer mit anderen Menschen nicht gut auskommt, d. h. einen geringen EQ aufweist, wird es im Leben im Allgemeinen dennoch nicht sehr weit bringen.“
Da Hochbegabte Kompetenz in den Mittelpunkt stellen und diese beim Gegenüber oftmals in geringerem Maß vorfinden als bei sich selbst, haben sie wenig Respekt vor Vorgesetzten und lehnen Autorität oft grundsätzlich ab. Das äußert sich in offener Kritik ohne Rücksicht auf einen Gesichtsverlust der Führungskraft. Wenn der Angegriffene sich mit seiner Macht zur Wehr setzt, kann das für Hochbegabte schwere Konsequenzen haben. Da sie gelernt haben, dass sie mehr wissen als andere, haben sie kaum Hemmungen, Meinungen zu vertreten, die von der Mehrheit abweichen. Auch dadurch isolieren sie sich. Zugleich kann ihre Offenheit für ein Unternehmen eine Chance sein: Hochbegabte agieren als Frühwarner für Probleme und Krisen.
Gesucht: das Supertalent
Nicht jeder Mitarbeiter muss ein Hochbegabter sein – dafür gäbe es auch schlicht zu wenige Kandidaten. Aber einer unter 50 wäre wünschenswert. Namhafte Unternehmen erfreuen sich eines natürlichen Zustroms, kleine und unbekannte Marktteilnehmer haben es schwerer. Doch auch für sie gibt es Chancen, an die seltene Ressource heranzukommen: durch Exzellenz in Marktnischen und durch attraktive, ungewöhnliche Projekte.
„Hochbegabte, junge Mitarbeiter sollten mehr Verantwortung erhalten, als zu Beginn der Laufbahn regulär üblich ist. So können sie ihr Potenzial nutzen und wachsen.“
Die Aussicht, sich unter Gleichen zu bewegen, ist ebenfalls ein Motivationsfaktor: Eine Koryphäe lockt oft weitere an. Ausnahmetalente sind meist anspruchsvoll: Sie wünschen sich besondere Arbeitsbedingungen und träumen davon, dass man sie von Routinejobs befreit, damit sie sich ausschließlich den kniffligen Aufgaben widmen können. Auch mit modernen Arbeitszeitmodellen, einem legeren Dresscode und großzügigen Handlungsspielräumen ziehen Sie Hochbegabte an. Allzu viel Freiheit ist allerdings gerade für sie nicht gut. Achten Sie auf eine präsente Führung ohne Gängelung.
Woran Sie einen Hochbegabten erkennen
Wenn Sie Hochbegabte im Personal identifizieren wollen, bietet sich am ehesten ein IQ-Test an. Weitere Kriterien sind Lebensläufe: Wurden Klassen übersprungen oder Studiengänge unterhalb der Regelstudienzeit absolviert, könnte eine Hochbegabung vorliegen. Ebenso, wenn ein Bewerber parallel zur hervorragenden Hochschullaufbahn viele Hobbys pflegt. Außerdem weist ein breites Interessenspektrum auf ein Ausnahmetalent hin. Doch lassen Sie sich nicht täuschen: Viele Hochbegabte führen ein bequemes Leben mit halber Kraft, angepasst in der Masse, und nutzen ihr Potenzial nur privat. Vielleicht können Sie hochbegabte Mitarbeiter überzeugen, es auch beruflich einzusetzen. Seien Sie aber auf der Hut, wenn jemand Ihnen seine Hochbegabung ungefragt vor die Nase hält: Hier besteht dringender Verdacht auf Hochstapelei.
„Nicht alle Hochbegabten haben Top-Schulnoten und bringen exzellente Leistungen im Beruf – obgleich sie es könnten: Es bedarf ‚nur‘ des richtigen Managements.“
Wenn Sie Ihre Spitzenkräfte bereits kennen, sollten Sie für sie Verhaltensregeln aufstellen: Die Ausnahmetalente müssen ausdrücklich ermutigt werden, Kritik zu äußern. Hilfreich ist eine offene Kultur, in der alle alles infrage stellen dürfen, ohne Repressalien zu fürchten. Geben Sie bereits jungen Hochbegabten mehr Verantwortung und möglichst häufig neue Aufgaben – ohne Verpflichtung, diese zu Ende führen zu müssen. Die Stärke von Hochbegabten liegt im Knacken von Nüssen, nicht im Aufstapeln der Kerne. Ist die Lösung skizziert, können sich andere um den Rest kümmern. Berücksichtigen Sie, dass auch Ideen, die gerade nicht zu passen scheinen, ausgewertet werden – Hochbegabte schauen gleichzeitig in viele Richtungen und finden nebenbei auch Lösungen in Bereichen, für die sie nicht zuständig sind.
Viel Talent schlummert ungenutzt
Nur zwischen 50 und 80 % der Hochbegabten machen wirklich etwas aus ihrem Talent. In Ihrer Belegschaft schlummern vielleicht Ausnahmekönner, die nur durchschnittliche oder sogar ungenügende Leistungen bringen. Mit individuell angepasstem Management lassen sie sich fördern und fordern. Hochbegabte sind nicht fleißiger oder risikofreudiger als andere Menschen. Studien bescheinigen einem Drittel von ihnen ein Manko in Sachen Führungsqualitäten sowie geringe Stressresistenz. Aber: Hochbegabte lernen schnell, also können sie sich bei Bedarf auch Führungsqualifikationen leicht aneignen. Nichts ist schlimmer für ein Toptalent als Unterforderung. Betreuen Sie Ihre Superhirne deshalb ständig mit neuen, fordernden Aufgaben. Da sie in der Regel nach mehr Verantwortung streben, ist die Gefahr des Scheiterns bei Hochbegabten besonders groß. Daher empfiehlt sich bei jungen Kräften der Einsatz in einem Nebenbereich, z. B. im Labor oder im Lager, wo ein Scheitern nicht so hohe Schäden verursacht.
„Suchen Sie in Ihren Bewerbern nach Kompetenzen und Fähigkeiten, die Ihnen und Ihrem Team fehlen. Kaum etwas ist lähmender für eine Abteilung oder eine Firma als ein absolut homogenes Team.“
Die Identifikation von Hochbegabten im Personal ist wichtig; das bewahrt Vorgesetzte davor, sie allzu sehr zu gängeln. Vor allem das hohe Tempo von Hochbegabten führt oft zu Missverständnissen: Der Chef nimmt an, sie würden sich besonders für das spezifische Fachgebiet interessieren – und lässt sie sich lebenslang damit langweilen. Oder die Arbeitsgeschwindigkeit eines Talents macht ihm Angst, weil er Fehler erwartet. Doch Hochbegabte sind perfektionistisch, Pannen sind selten. Auch wenn mehrere Themen parallel bearbeitet werden, ist die Fehlerquote gering – sofern die Motivation stimmt. Hier sind Hochbegabte auf das Management angewiesen. Sie selbstständig arbeiten zu lassen, wäre unangebracht. Insbesondere beim Briefing bzw. Projektstart brauchen sie erheblich mehr Zuwendung als normale Mitarbeiter.
Talente binden
Hochbegabte zu engagieren ist schwierig, doch sie dauerhaft zu binden, ist noch viel anspruchsvoller. Sie verlieren schnell die Lust, ärgern sich laut über vermeintliche oder tatsächliche Inkompetenz, wirken arrogant und aggressiv – doch ihre Kreativität und ihre Schnelligkeit bringen das Unternehmen weiter. Deshalb sollten Sie bereit sein, besondere „Boni“ zu leisten. Behandeln Sie Ihre Mitarbeiter nicht alle gleich: Sie entlohnen schließlich auch nach Leistung! Trauen Sie sich also, Hochbegabten besondere Freiheiten zu gewähren, z. B. flexible Arbeitszeiten, eine offene Diskussionskultur usw.
„Hochbegabte werden häufig in der Schule so konditioniert, dass sie sich ständig beweisen wollen. Dieses ‚Prove it or lose it‘-Spiel kann sie in den Perfektionismus treiben.“
Was Hochbegabte an Unternehmen in der Regel nervt, sind Mittelmaß, Intrigen, Routine, mangelnde Kommunikation und Kontrollsucht. Geschätzt werden dagegen kleine und flexible Strukturen, formale Freiheiten, Inspiration durch andere Hochbegabte, Herausforderungen und knifflige Aufgaben sowie motivierende, delegierende Chefs.