Schluss mit lustig
Vorbei sind die Zeiten, als Aufsichtsratsversammlungen noch lockeren Kaffeerunden glichen. Spätestens seit der Aufdeckung von Bilanzmanipulationen monströsen Ausmaßes in den USA Anfang des neuen Jahrtausends wird die Praxis der Unternehmensaufsicht zunehmend hinterfragt. In der Folge schuf auch die deutsche Corporate-Governance-Regierungskommission einen Regel- und Verhaltenskodex: den Deutschen Corporate Governance Kodex, kurz DCGK, der seither Jahr für Jahr überarbeitet wird. Mittels einer Entsprechenserklärung geben börsennotierte deutsche Unternehmen an, ob und inwiefern sie sich an den Kodex halten. Abweichungen werden dokumentiert und kommentiert. Diese Neuerung war die eigentliche Geburtsstunde des professionellen Aufsichtsrats, der nicht einfach nur Mandate sammelt und vorgefasste Beschlüsse durchwinkt.
Willkommen in der Verantwortung
Früher war die Vorstellung, Aufsichtsräte einer eigenen Strafgesetzgebung zu unterwerfen, nicht einmal vorhanden. Zumal das deutsche Zweisäulenprinzip aus Vorstand und Aufsehern eine klare Aufgabenverteilung vorzuweisen hatte: hier die Geschäftsleitung und Exekutive, dort der ins operative Geschäft nicht eingebundene Aufsichtsrat. Die zahlreichen Gesetzeswerke der vergangenen Jahre brachten jedoch eine – zumindest teilweise – Abkehr von der bisherigen Betrachtung des Aufsichtsrats mit sich: Anstatt lediglich zurückzublicken, sind die Aufseher jetzt aufgerufen, die Geschäftsführung bei der zukunftsorientierten Ausrichtung des Unternehmens zu beraten und ggf. auch an Entscheidungen teilzuhaben. Dieses Konzept geht klar in Richtung des international vorherrschenden One-Board-Systems, das keine Aufteilung zwischen Vorstand und Aufsichtsrat vorsieht.
„Die Tage der Rotwein-Runden mit alten Freunden oder von Kopfnicker-Kreisen sind gezählt.“
Die erhebliche Erweiterung der grundlegenden Aufgabenstellung und Mitwirkungspflichten von Aufsichtsräten bedeutet umgekehrt eine strafrechtliche Haftung in Fällen, in denen die Aufseher „geschlafen“ oder gar wider besseres Wissen Entscheidungen durchgewinkt haben, die besser noch einmal überdacht worden wären.
Kontrolleure in der Krise
Speziell in der Krise werden die Überwachungspflichten wichtiger; die Entscheidungen können über das Schicksal des Unternehmens entscheiden. Gefragt sind kompetente Aufseher, die auch mit hausgemachten Problemen umgehen können: Die häufigsten Fälle betreffen eine der vielfältigen Formen von Untreue, etwa die Bildung schwarzer Kassen, Kickback-Vereinbarungen oder Risikoüberschreitungen bei Kreditvergaben. Die Unterlassungsstrafbarkeit der Aufseher hängt davon ab, in welchem Umfang der Aufsichtsrat auf die Geschäftsleitung Einfluss nehmen kann. Einerseits soll er mehr überwachen und gestalten, andererseits hat der Aufsichtsrat weiterhin keinerlei Weisungsrecht gegenüber dem Vorstand.
Der Aufsichtsrat sitzt am längeren Hebel
Der Aufsichtsrat verfügt jedoch über einige durchaus wirkmächtige Werkzeuge: So kann er Zustimmungsvorbehalte für bestimmte Arten von Geschäften anordnen, gesonderte Berichte anfordern oder, im schlimmsten Fall, Vorstandsmitglieder bei Vorliegen eines wichtigen Grundes abberufen. Ein solcher wichtiger Grund wäre z. B. der dringende Verdacht einer begangenen oder geplanten Straftat. Im Vorfeld einer drohenden Insolvenz laufen nicht nur die Manager Gefahr, sich eines Insolvenzdelikts strafbar zu machen, sondern auch die Aufseher. Handelt die Geschäftsleitung bei drohender Insolvenz nicht, müssen die Aufseher den Vorstand abberufen – andernfalls haften auch sie. Dass die Kontrolleure von der Insolvenzreife des Unternehmens keine Kenntnis hatten, müssten sie nämlich selbst beweisen.
Haftung oder: Die Reise nach Jerusalem
Die neue Denkweise und Gestaltung der Aufsichtsratstätigkeit hat zu einem spürbaren „Inanspruchnahmedruck“ geführt, nach dem Motto: Lieber mal Ansprüche gegen den Vorstand geltend machen als das Risiko eingehen, am Ende selbst in Regress genommen zu werden. Paradoxerweise führt gerade die Existenz so genannter D&O-(Directors & Officers)Vermögensschadens-Haftpflichtversicherungen dazu, das Management vermehrt in Anspruch zu nehmen. D&O-Versicherungen sollen das persönliche Vermögen schützen, mit dem ein Manager normalerweise einstehen müsste – im Prinzip unbegrenzt. Die Praxis jedoch sieht anders aus: Nicht einmal die Hälfte der reklamierten Fälle werden von den Versicherern reguliert, weil sie es mit verschiedenen Mitteln schaffen, die Ansprüche abzuwehren. Das Gros der D&O-Ansprüche scheitert am Vorsatzausschluss, da der Betroffene im Fall der Inanspruchnahme selbst beweisen muss, dass er nicht vorsätzlich gehandelt hat. Zwar werden die meisten Ansprüche gegen das operative Management geltend gemacht, doch können auch die Aufsichtsratsmitglieder ins Visier genommen werden. Die Kontrolleure sind darum gut beraten, sich intensiv mit dem Thema D&O-Versicherung auseinanderzusetzen, wollen sie nicht am Ende eines Disputs selbst ohne Versicherungsschutz dastehen.
Was tun bei Interessenkonflikten?
Der Aufsichtsrat hat sich bei seiner Tätigkeit von der Maxime des Vorrangs des Unternehmens- oder Konzerninteresses leiten zu lassen. Sagt das Gesetz. Was es nicht sagt, ist, wie man sich im Fall von Interessenkonflikten verhalten soll. Teilweise skurrile und bestenfalls vage Begründungen müssen hier fehlendes Recht ersetzen, sei es das „Gebot des geschäftlichen Anstands“, die „Sorgfaltspflicht“ oder auch nur der „allgemeine Rechtsgedanke“. Der DCGK kennt lediglich den Interessenkonflikt eines Aufsichtsrats dem Organ gegenüber, nicht jedoch einen externen Interessenkonflikt – schließlich unterliegt ein Aufsichtsrat keinem Wettbewerbsverbot. Was also tun? Einer einfachen Offenlegung eines punktuellen Interessenkonflikts könnte eine Verschwiegenheitspflicht auf anderer Seite widersprechen. Eine Stimmenthaltung im Ausschuss oder Plenum wäre zwar denkbar, löst den Interessenkonflikt aber nur kurzfristig. Das Gleiche gilt für den Verzicht auf eine Teilnahme an einer Sitzung: Genau wie bei einer Stimmenthaltung könnte der Aufsichtsrat durch Abwesenheit eines Mitglieds beschlussunfähig werden. Sollte das betroffene Aufsichtsratsmitglied nicht von sich aus einsichtig sein, kann der Vorsitzende dessen Stimmenthaltung anordnen, ihn von einer Sitzung ausschließen oder ihm einen Bericht vorenthalten. Damit solche unschönen Situationen in der Praxis gar nicht erst vorkommen, sollte sich der Aufsichtsrat eine Geschäftsordnung geben, in der der Umgang mit Interessenkonflikten vorbeugend geregelt wird.
Mannschaftsspieler gefragt
Die Zusammensetzung eines Aufsichtsratsgremiums sollte nicht dem Zufall überlassen werden – oder sich gar aus dem Freundes- und Bekanntenkreis des Unternehmensgründers speisen. Gerade die jüngste Finanzkrise hat in diesem Sinne viel zur Professionalisierungsdiskussion beigetragen. Gefragt sind neuerdings sich ergänzende Persönlichkeiten mit individuellen Stärken, Kompetenzen und Erfahrungen.
„Für jede Unternehmensmarke wirkt es vertrauensfördernd und wertsteigernd, Aufsichtsratsmarken in den eigenen Reihen zu haben.“
Nach der neuesten Rechtsprechung muss jedes Aufsichtsratmitglied Mindestkenntnisse und -fähigkeiten besitzen (oder sich aneignen), um alle normalerweise anfallenden Geschäftsvorgänge verstehen und beurteilen zu können. Unwissenheit schützt also nicht länger vor Haftung. Das BilMoG (Bilanzmodernisierungsgesetz) brachte sogar noch eine Verschärfung: Die Anwesenheit von mindestens einem Finanzexperten ist nunmehr in jedem Kontrollgremium obligatorisch, d. h. jedes Board braucht einen Aufsichtsrat mit herausragenden Kenntnissen in der Bilanzierung und Rechnungslegung („Financial Expert“). Der optimal zusammengesetzte Aufsichtsrat besteht aus Experten für die folgenden Bereiche:
- Jahresabschluss und Wirtschaftsprüfung,
- Rechnungslegung und Steuern,
- Finanzmarkt,
- Compliance und Risikomanagement,
- Wirtschafts- und Aktienrecht,
- Personal- und Vergütungsmanagement,
- Strategische Unternehmensführung und -planung,
- Unternehmenskommunikation,
- Krisenmanagement und D&O-Versicherungen,
- Corporate Governance.
Schwächen identifizieren und ausbessern
Anhand einer Matrix lässt sich darstellen, welches Aufsichtsratsmitglied Kenntnisse welchen Niveaus besitzt. Auch lässt sich dergestalt gut ablesen, in welchem Bereich das Gremium insgesamt so starke Defizite besitzt, dass gar die Hinzuziehung ein neuen Mitglieds erwogen werden muss, das dann die gewünschten komplementären Fähigkeiten mitbringt. Systematische Board-Reviews, die den Aufsichtsräten Feedback über ihr eigenes Wirken und über Optimierungspotenziale geben, sind noch nicht die Regel, obwohl heute mehr denn je gefragt. Der Aufsichtsratsvorsitzende hat dabei die Aufgabe, die verschiedenen Persönlichkeiten zu integrieren, etwa wie ein Trainer in einem Mannschaftssport. Jedes Mitglied sollte nicht nur individuell bewertet, sondern auch gecoacht werden. Letztlich kann der professionelle Aufsichtsrat – der eben nicht beliebig zusammengewürfelt ist – langfristig den Unterschied im Wettbewerb ausmachen.
Kommunikationsschäden vermeiden
Von den grundlegenden Fähigkeiten und Kenntnissen abgesehen stellt sich ferner die Frage nach der „Parkettsicherheit“ (Rhetorik, Stil usw.) der Mandatsträger. Diese dürfen und sollen Stellung beziehen; Meinungspluralismus ist weiterhin nicht verboten. Ein Super-GAU wäre allerdings eine Eskalation in der Öffentlichkeit, wenn beispielsweise eine Restrukturierung oder eine Transaktion (Zukauf, Verkauf eines Bereichs o. Ä.) ansteht. Rasch kann dies negative Rückkopplungen auch im operativen Geschäft nach sich ziehen. Eine angemessene und wohlüberlegte Kommunikation muss daher die Befindlichkeiten aller Interessenvertreter (Wirtschaft, Politik, Mitarbeiter, Öffentlichkeit) berücksichtigen. Vergessen Sie nicht: Als oberster Repräsentant Ihres Unternehmens antworten Sie stellvertretend für viele, wenn nicht sogar alle!
Endziel Ikone?
Nicht jedes Kontrollgremium ist in der glücklichen Lage, die ultimative Identifikationsfigur in ihren Reihen zu wissen. So gilt Ferdinand Piëch, Aufsichtsratsvorsitzender von Volkswagen, als die personifizierte Autokompetenz; Linde-Chef Wolfgang Reitzle wird als Inkarnation von Technologiekompetenz wahrgenommen. Uli Hoeneß, der Aufsichtsratsvorsitzende des deutschen Fußballrekordmeisters Bayern München, mag zwar nicht überall außerhalb des Vereins beliebt sein, als national und international akzeptierte „Aufsichtsratsmarke“ ist er jedoch schwer wegzudenken. Jede Personalbesetzung kann Einfluss auf die Unternehmensmarke haben, wenn auch nicht immer so sehr wie bei den Genannten. Apple-Chef Steve Jobs, kürzlich zum „Manager of the Decade“ gekürt, kennt den Wert der Aufsichtsratsmarke: Im Apple-Aufsichtsgremium sitzen u. a. Al Gore, ehemals Vizepräsident der USA, oder Eric Schmidt, der Präsident von Google. So wirkt die Ikone Steve Jobs in sämtliche Richtungen, sei es als Anziehungskraft für Talente, Sprachrohr der Technologie-Community oder zentrale Identifikationsfigur für die Marke Apple.