Wer regiert die Welt?

Buch Wer regiert die Welt?

Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Campus,
Auch erhältlich auf: Englisch


Rezension

Ian Morris’ gewichtiges Buch reiht sich in die Versuche umfassender Deutung von Welt­geschichte ein, wie sie etwa Oswald Spengler (Der Untergang des Abendlandes) oder Arnold J. Toynbee (Der Gang der Welt­geschichte) unternommen haben. Die Faktoren, die der Archäologe Morris aufzeigt, zeichnen den Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung nach. Das ergibt plausible Grundmuster. Toynbees Gedanke, dass sich Kulturen vor allem daran bewähren, wie sie mit Her­aus­forderun­gen fertig werden, spielt auch bei Morris eine wichtige Rolle. In seinem Buch wird der Westen zwar nicht ver­her­rlicht, aber da Morris hauptsächlich quan­ti­ta­tive, d. h. ökonomische und sozi­ol­o­gis­che Aspekte im Blick hat, erscheint der Westen der Gegenwart letztlich doch als vorläufiger Gipfelpunkt einer Art geschichtlicher Evolution. Das ließe sich hin­ter­fra­gen. Sehr flüssig und teilweise sogar amüsant beschreibt Morris die er­staunlichen Übere­in­stim­mungen zwischen West und Ost. BooksInShort empfiehlt dieses Buch wärmstens allen Geschichtsin­ter­essierten – wegen des profunden Überblicks über die Großtendenzen des globalen Geschehens seit dem Ende der Eiszeit und wegen des klugen Ausblicks auf die kommenden hundert Jahre.

Take-aways

  • Vor 70 000 Jahren begann der Homo sapiens sich auf der ganzen Welt zu verbreiten und verdrängte dabei alle Vormenschen.
  • Nach der letzten Eiszeit wurden die Menschen zuerst in Nahost, einige Tausend Jahre später auch in Fernost als Ackerbauern sesshaft.
  • Die Acker­bauge­sellschaften sind die Grundlage unserer Zivil­i­sa­tio­nen.
  • Die zivil­isatorische Entwicklung lässt sich messen anhand der Faktoren En­ergieaus­beute, Verstädterung, Nachrichtenübermittlung und Fähigkeit zur Kriegführung.
  • Fernost und der Westen (Vorderer Orient plus Europa) haben sich phasen­ver­schoben, aber insgesamt parallel entwickelt.
  • Auf Her­aus­forderun­gen wie Klimaveränderungen, Hungersnöte, Völk­er­wan­derun­gen und Staat­szusam­menbrüche wurden immer wieder Antworten gefunden.
  • Trotz mancher Rückschläge führte der Westen bis zur römischen Kaiserzeit.
  • Danach lag China bis ins 18. Jahrhundert in Führung.
  • Mit der Aufnahme des transat­lantis­chen Verkehrs und der in­dus­trielle Revolution begann der Westen aufzuholen – und führt bis heute.
  • Wegen der rasanten Entwicklung der Computer- und Gen­tech­nolo­gie stellt sich die Frage, ob Ost oder West vorne liegt, in naher Zukunft vielleicht gar nicht mehr.
 

Zusammenfassung

Es ist nicht die Biologie

Der Homo sapiens, der moderne Mensch, entwickelte sich vor etwa 150 000 Jahren in Afrika und begann vor 70 000 Jahren, sich weltweit auszubre­iten. Er könnte sich im Osten mit evtl. prim­i­tiv­eren Vormenschen und im Westen mit vielleicht etwas weniger primitiven vermischt haben. Solche Mutmaßungen, die eine biologische Überlegen­heit des Westens über den Osten nachweisen könnten, sind jedoch obsolet: Alle modernen Menschen, einschließlich der aus­tralis­chen Aborigines, sind genetisch aufs Engste miteinander verwandt.

Nach dem Ende der Eiszeit

Bereits während der letzten Eiszeiten lebten Homo-sapi­ens-Grup­pen in Süd- und Ostasien, in Australien und in Südsibirien, schließlich auch in Europa. Die ersten Kunstwerke auf der Schwäbischen Alb und die Höhlen­malereien rund um die Pyrenäen entstanden in einer Zwis­ch­eneiszeit. Darauf folgte eine vorerst letzte, aus­ge­sprochen frostige Vereisungsphase, und anschließend begann die halbwegs bekannte Geschichte der Jung­steinzeit.

„Alle heute lebenden Menschen stammen von Afrikanern ab, keine und keiner trägt genetische Spuren des Ne­an­der­talers oder des Peking-Men­schen in sich.“

Die relativ rasche globale Erwärmung zwischen ca. 17 000 und 14 000 v. Chr. schuf einen klimatisch besonders begünstigten Streifen zwischen dem 20. und 35. nördlichen Breitengrad in Eurasien (Mit­telmeerge­biet, Vorderer Orient, Nordindien, Südchina) sowie in Mittel- und Südamerika. Aufgrund des schlagartig verbesserten Nahrungsange­bots vermehrten sich die Menschen: Zwischen 18 000 und 10 000 v. Chr. kam es zu ihrer Verzwölffachung. Nach dem Ende der Eiszeit wurde nun auch Amerika von Menschen besiedelt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Jäger und Sammler.

Antriebskräfte gesellschaftlicher Entwicklung

Aus an­thro­pol­o­gis­cher Sicht treiben drei Kräfte die gesellschaftliche Entwicklung voran: Trägheit – man will sich das Leben leichter machen –, Gier und die Angst vor Hunger. Äußere Antriebskräfte sind Klimawandel, Hungersnot, Zusam­men­bruch von Staaten und Völk­er­wan­derung. Messen lässt sich die gesellschaftliche Entwicklung mit einer Fülle von Kriterien. Nach sorgfältiger Erwägung genügen jedoch vier:

  1. En­ergieaus­beute (Ernährung, Erwärmung, Transport und später auch fossile Brennstoffe),
  2. Verstädterung (der Indikator für den Or­gan­i­sa­tion­s­grad einer Gesellschaft),
  3. Nachrichtenübermittlung und
  4. Fähigkeit zur Kriegführung.
„Nicht weil die dort lebenden Menschen einzigartig intelligent gewesen wären, wurde der Ackerbau im Fruchtbaren Halbmond nach­weis­lich Tausende Jahre früher entwickelt als irgendwo anders, sondern weil die ge­ografis­chen Bedingungen diesen Menschen gute Startchan­cen boten.“

Anhand dieser Merkmale lässt sich eine Indexzahl errechnen, die den Vergleich zwischen ver­schiede­nen Kul­turkreisen erleichtert, vor allem zwischen West und Ost – ähnlich wie ein Aktienkurs. Lange Zeit wurde da oder dort ein bestimmter Höchststand erreicht, doch einen massiven En­twick­lungss­chub brachte erst die in­dus­trielle Revolution im Westen. Seither schießen die Werte in die Höhe.

Die Ne­olithis­che Revolution

Nichts hat die Lebensweise des Menschen so sehr verändert wie der Beginn des Ackerbaus und die damit verbundene Sesshaftigkeit ab ca. 12 000 v. Chr. Der Westen ging dem Osten dabei zeitlich voraus. Die Ursache ist zufällig: Im so genannten Fruchtbaren Halbmond (der sich von der östlichen Mittelmeerküste bis in den Westen Irans erstreckte) waren die kli­ma­tis­chen Bedingungen optimal, und die Arten­vielfalt war größer. Die Menschheit erreichte hier deshalb früher als anderswo eine neue gesellschaftliche En­twick­lungsstufe. Kerngebiete waren Südostana­tolien und das Jordantal. Der eigentliche Auslöser für den Übergang zur Sesshaftigkeit ist nicht bekannt. Jedenfalls wurden nun die größeren Samen von Wild­getreide und Wildpflanzen ausgesät, die Böden bearbeitet und einige Tiere do­mes­tiziert. Diese Entwicklung zog sich über Jahrtausende hin. Bis 5000 v. Chr. hatte sich der Ackerbau bis nach Westeuropa ausgedehnt und no­ma­disieren­des Jagen und Sammeln verdrängt. Im Tal des Jangtse begann der Prozess um 7500 v. Chr., in den Anden und Mit­te­lamerika punktuell zwischen 8000 und 5000 v. Chr.

„Vor 15 000 Jahren, vor dem Ende der Eiszeit, bedeuteten Osten und Westen wenig. In einem Jahrhundert werden sie wiederum wenig bedeuten.“

Alle Zivil­i­sa­tio­nen gehen auf solche Acker­bauge­sellschaften zurück. Zur Auf­be­wahrung der pflan­zlichen Produkte wurden Keramikgefäße erfunden, im Osten früher als im Westen. Bewässerung­stech­niken und Rodung sorgten über Jahrtausende dafür, dass neues Land urbar gemacht wurde. Land und Vor­rat­shal­tung kon­sti­tu­ierten Eigentum; manche Gemein­schaften mussten sich alsbald durch Be­fes­ti­gungsan­la­gen verteidigen. Im Lauf der Jahrtausende en­twick­el­ten sich aus dörflichen An­sied­lun­gen Städte mit Ar­beit­steilung. Als erste Stadt im Westen gilt das südme­sopotamis­che Uruk. Vor­rat­shal­tung und dif­feren­ziert­ere Ar­beit­steilung führten zur Entwicklung von Schriften im Westen wie im Osten. Im Osten zeichnete sich eine stärkere kulturelle Kontinuität ab.

Tendenzen und Wendepunkte im Osten und Westen

Auf dieser im Prinzip ähnlichen wirtschaftlichen Grundlage von Acker­bauge­sellschaften durchliefen Ost und West in der Grund­ten­denz auch ähnliche gesellschaftliche En­twick­lun­gen. Hier wie dort reagierten die Menschen nahezu gleich auf Her­aus­forderun­gen, seien es Kli­maschwankun­gen, Seuchen oder Migration. Zunächst ging der Westen in seiner Entwicklung zeitlich voraus. Zum Ende der Antike war ein gewisser Gleichstand erreicht.

  • Bronzezeit: Eine Klimaänderung nach 3800 v. Chr. brachte im Mit­telmeer­raum größere Trockenheit. Die Menschen an Euphrat, Tigris und Nil rückten enger zusammen. Es entstanden Stadt­staaten und Reiche mit komplexer Or­gan­i­sa­tion. Am Nil wurde dadurch der Pyra­mi­den­bau ermöglicht. Eine höhere Komplexität der Herrschaftssys­teme führte zu mehr Fragilität. Das erklärt den ständigen Wechsel der Reiche und Dynastien. Bis zum Ende der Bronzezeit bildeten sich nach zahlreichen Wechselfällen im Westen vier al­to­ri­en­tal­is­che Großmächte heraus: Ägypten, Altbabylon, die Hethiter und die minoische Seemacht Kreta. Der Osten bewegte sich zeit­ver­setzt entlang der gleichen Linien: Es kam zu Städte- und Re­ichs­bil­dun­gen sowie zu Grab- und Fes­tungs­bauten in den großen Flusstälern. Die noch leg­en­den­hafte Geschichte wird in China in die dy­nas­tis­chen Perioden Xia (ca. 2070–1600 v. Chr.) und Shang (ca. 1600–1050 v. Chr.) eingeteilt.
  • Eisenzeit: Um 1200 v. Chr. gingen die bronzezeitlichen Hochkul­turen der al­to­ri­en­tal­is­chen Reiche unter den ver­heeren­den Schlägen der eisen­zeitlichen Wanderungen unter. Erstmals seit der Eiszeit erlebte der Westen einen herben Rückschlag in seiner Entwicklung. Um 1050 v. Chr. setzt China seine Entwicklung unter der Zhou-Dy­nas­tie fort. Im Verlauf des ersten Jahrtausends v. Chr. fanden beide Sphären der Welt zu rationalen Herrschafts­for­men: despotische Ver­wal­tungs- und Militärstaaten im Orient, ein Beamten­staat in China, Stadtre­pub­liken in Griechen­land und Rom. Ab ca. 250 v. Chr. wurden beide Sphären in ein­heitlichen Reichen zusam­menge­fasst: Der erste chinesische Kaiser Qin (bekannt für seine Ter­rakotta-Armee) eroberte gewaltsam alle streitenden Reiche. Rom dehnte sich nach dem Sieg über Karthago rund ums Mittelmeer und jenseits der Alpen aus. Zur Zeit Cäsars hatten beide Sphären hin­sichtlich ihrer gesellschaftlichen Entwicklung Gleichstand erreicht. Im römischen Kaiserreich und im China der Han-Dy­nas­tie blühten Wirtschaft und Kultur bei relativem Frieden.
  • Achsenzeit: Dieser kul­turgeschichtliche Begriff stammt von dem Philosophen Karl Jaspers. Die neue globale En­twick­lungsstufe fand ihren religiös-philosophis­chen Ausdruck um die Mitte des Jahrtausends, als Konfuzius, Laotse, Buddha, die jüdischen Propheten, der Zoroas­tris­mus und die griechis­chen Philosophen von Thales bis Aristoteles den Menschen ein neues Selb­st­be­wusst­sein geben. Die neuen Religionen bis hin zum attischen Ver­nun­ft­denken waren – wie die Herrschafts­for­men – rationaler als die Mythen und Kulte davor.
  • Mittelalter: Durch die imperiale Überdehnung Roms und die einsetzende Völk­er­wan­derung erlebte der westliche Teil des Westens einen erneuten Rückschlag hin­sichtlich seiner gesellschaftlichen Entwicklung. China konnte sich unter den Sui und Song re­struk­turi­eren und behielt seine Führung auch unter den Mongolen (Yuan), den Ming und am Anfang der Qing-Dy­nas­tie, bis ca. 1775. Durch das Aufkommen des Islams entstand im Nahen Osten nach der Spätantike eine neue Dynamik und unter dem Kalifat auch eine gewisse kulturelle und politische Einheit. Der Mon­golene­in­fall erschütterte das überdehnte Kalifen­re­ich. In China einten die Mongolen das Reich. Es war übrigens dieses China unter der Herrschaft des Mongolen Kublai Khan, das Marco Polo den rückständigen Europäern in glühenden Farben schilderte. Nach mehreren Wechselfällen sta­bil­isierten die türkischen Osmanen den Nahen Osten und bedrohten Europa, brachten aber die gesellschaftliche Entwicklung des Westens nicht voran.
  • Renaissance und Kolo­nialzeital­ter: Erst nach den Ver­heerun­gen der Pestzeit (um 1350) holte der Westen im Vergleich zu China auf: Durch die Rückbesinnung auf geistige Lebens­for­men der Antike löste sich Europa in der Renaissance aus seiner Erstarrung. Das Ausgreifen über den Atlantik (Kolumbus) sowie nach Südasien (Vasco da Gama) eröffnete dem Westen neue ökonomische Spielräume und damit neue Ansätze seiner gesellschaftlichen Entwicklung. In China scheiterte dagegen der Anlauf zur Öffnung über das Meer am Beginn der Ming-Dy­nas­tie. Das Reich der Mitte schloss sich konservativ nach außen ab. China blieb aber im Kolo­nialzeital­ter jahrhun­derte­lang Großexporteur von Luxuswaren (Tee, Seide, Porzellan) in den Westen und importierte seinerseits nichts als Silber. Kurz vor 1700 besiegte China endgültig die Nomadenvölker der Steppen. Trotz hoher tech­nol­o­gis­cher Standards gelang China kein Durchbruch zu einer in­dus­triellen Revolution. Durch den transat­lantis­chen Verkehr (Waren, Sklaven, Auswanderer) verlagerte sich der En­twick­lungss­chw­er­punkt des Westens in die Nord­see-An­rain­er­staaten.
  • Moderne: Die Nutzung der Dampfkraft ab 1776 beschle­u­nigte die Entwicklung des Westens in umwälzender Weise. China musste gle­ichzeitig einen Niedergang hinnehmen, der durch das re­struk­turi­erte Japan nach 1900 verstärkt wurde. Als Folge des Ersten Weltkriegs verlagerte sich der Schwerpunkt des Westens über den Atlantik in die USA. Mao Zedong legte in China nach dem Zweiten Weltkrieg die politischen, Deng Xiaoping nach 1978 die ökonomischen Grundlagen für den Wieder­auf­stieg Chinas.

Ausblick in die Zukunft

Zieht man die gegenwärtigen En­twick­lungslin­ien einfach in die Zukunft fort, so erscheint es unauswe­ich­lich, dass der Osten im Lauf dieses Jahrhun­derts den Westen überholt. Die Experten streiten sich lediglich darüber, ob es schon 2025, 2050 oder erst etwas später so weit sein wird. Noch behauptet der Westen, ins­beson­dere die USA, seine Führung. Alle wesentlichen Neuerungen, in Genetik, Robotik, Nano- und Com­put­ertech­nik, entstehen vorerst noch dort. Aber vielleicht werden diese rasanten Umwälzungen auch relativ bald einen völlig neuen Zustand herbeiführen, eine Singularität men­schlich-gesellschaftlicher Entwicklung, die das seit der Jung­steinzeit bestehende Ost-West-Schema obsolet macht. Es geht nicht nur um globale Her­aus­forderun­gen wie Atomkrieg, Erderwärmung, Ressourcenknap­pheit, Megastädte, Terrorismus oder die Schrumpfung der Biodiversität. Möglicher­weise wird sich der Homo sapiens selbst tief greifend verändern. Wenn sich die Minia­tur­isierung im Com­put­er­bere­ich so weit­er­en­twick­elt wie bisher, sind die Auslagerung des Be­wusst­seins oder gen­ma­nip­ulierte Änderungen des Menschen keine Utopie mehr.

Über den Autor

Ian Morris, gebürtiger Brite, ist Archäologe und Al­th­is­toriker und lehrt seit 20 Jahren in Chicago und Stanford. Seine Arbeiten sind preisgekrönt und werden von namhaften Stiftungen gefördert.