Es ist nicht die Biologie
Der Homo sapiens, der moderne Mensch, entwickelte sich vor etwa 150 000 Jahren in Afrika und begann vor 70 000 Jahren, sich weltweit auszubreiten. Er könnte sich im Osten mit evtl. primitiveren Vormenschen und im Westen mit vielleicht etwas weniger primitiven vermischt haben. Solche Mutmaßungen, die eine biologische Überlegenheit des Westens über den Osten nachweisen könnten, sind jedoch obsolet: Alle modernen Menschen, einschließlich der australischen Aborigines, sind genetisch aufs Engste miteinander verwandt.
Nach dem Ende der Eiszeit
Bereits während der letzten Eiszeiten lebten Homo-sapiens-Gruppen in Süd- und Ostasien, in Australien und in Südsibirien, schließlich auch in Europa. Die ersten Kunstwerke auf der Schwäbischen Alb und die Höhlenmalereien rund um die Pyrenäen entstanden in einer Zwischeneiszeit. Darauf folgte eine vorerst letzte, ausgesprochen frostige Vereisungsphase, und anschließend begann die halbwegs bekannte Geschichte der Jungsteinzeit.
„Alle heute lebenden Menschen stammen von Afrikanern ab, keine und keiner trägt genetische Spuren des Neandertalers oder des Peking-Menschen in sich.“
Die relativ rasche globale Erwärmung zwischen ca. 17 000 und 14 000 v. Chr. schuf einen klimatisch besonders begünstigten Streifen zwischen dem 20. und 35. nördlichen Breitengrad in Eurasien (Mittelmeergebiet, Vorderer Orient, Nordindien, Südchina) sowie in Mittel- und Südamerika. Aufgrund des schlagartig verbesserten Nahrungsangebots vermehrten sich die Menschen: Zwischen 18 000 und 10 000 v. Chr. kam es zu ihrer Verzwölffachung. Nach dem Ende der Eiszeit wurde nun auch Amerika von Menschen besiedelt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle Jäger und Sammler.
Antriebskräfte gesellschaftlicher Entwicklung
Aus anthropologischer Sicht treiben drei Kräfte die gesellschaftliche Entwicklung voran: Trägheit – man will sich das Leben leichter machen –, Gier und die Angst vor Hunger. Äußere Antriebskräfte sind Klimawandel, Hungersnot, Zusammenbruch von Staaten und Völkerwanderung. Messen lässt sich die gesellschaftliche Entwicklung mit einer Fülle von Kriterien. Nach sorgfältiger Erwägung genügen jedoch vier:
- Energieausbeute (Ernährung, Erwärmung, Transport und später auch fossile Brennstoffe),
- Verstädterung (der Indikator für den Organisationsgrad einer Gesellschaft),
- Nachrichtenübermittlung und
- Fähigkeit zur Kriegführung.
„Nicht weil die dort lebenden Menschen einzigartig intelligent gewesen wären, wurde der Ackerbau im Fruchtbaren Halbmond nachweislich Tausende Jahre früher entwickelt als irgendwo anders, sondern weil die geografischen Bedingungen diesen Menschen gute Startchancen boten.“
Anhand dieser Merkmale lässt sich eine Indexzahl errechnen, die den Vergleich zwischen verschiedenen Kulturkreisen erleichtert, vor allem zwischen West und Ost – ähnlich wie ein Aktienkurs. Lange Zeit wurde da oder dort ein bestimmter Höchststand erreicht, doch einen massiven Entwicklungsschub brachte erst die industrielle Revolution im Westen. Seither schießen die Werte in die Höhe.
Die Neolithische Revolution
Nichts hat die Lebensweise des Menschen so sehr verändert wie der Beginn des Ackerbaus und die damit verbundene Sesshaftigkeit ab ca. 12 000 v. Chr. Der Westen ging dem Osten dabei zeitlich voraus. Die Ursache ist zufällig: Im so genannten Fruchtbaren Halbmond (der sich von der östlichen Mittelmeerküste bis in den Westen Irans erstreckte) waren die klimatischen Bedingungen optimal, und die Artenvielfalt war größer. Die Menschheit erreichte hier deshalb früher als anderswo eine neue gesellschaftliche Entwicklungsstufe. Kerngebiete waren Südostanatolien und das Jordantal. Der eigentliche Auslöser für den Übergang zur Sesshaftigkeit ist nicht bekannt. Jedenfalls wurden nun die größeren Samen von Wildgetreide und Wildpflanzen ausgesät, die Böden bearbeitet und einige Tiere domestiziert. Diese Entwicklung zog sich über Jahrtausende hin. Bis 5000 v. Chr. hatte sich der Ackerbau bis nach Westeuropa ausgedehnt und nomadisierendes Jagen und Sammeln verdrängt. Im Tal des Jangtse begann der Prozess um 7500 v. Chr., in den Anden und Mittelamerika punktuell zwischen 8000 und 5000 v. Chr.
„Vor 15 000 Jahren, vor dem Ende der Eiszeit, bedeuteten Osten und Westen wenig. In einem Jahrhundert werden sie wiederum wenig bedeuten.“
Alle Zivilisationen gehen auf solche Ackerbaugesellschaften zurück. Zur Aufbewahrung der pflanzlichen Produkte wurden Keramikgefäße erfunden, im Osten früher als im Westen. Bewässerungstechniken und Rodung sorgten über Jahrtausende dafür, dass neues Land urbar gemacht wurde. Land und Vorratshaltung konstituierten Eigentum; manche Gemeinschaften mussten sich alsbald durch Befestigungsanlagen verteidigen. Im Lauf der Jahrtausende entwickelten sich aus dörflichen Ansiedlungen Städte mit Arbeitsteilung. Als erste Stadt im Westen gilt das südmesopotamische Uruk. Vorratshaltung und differenziertere Arbeitsteilung führten zur Entwicklung von Schriften im Westen wie im Osten. Im Osten zeichnete sich eine stärkere kulturelle Kontinuität ab.
Tendenzen und Wendepunkte im Osten und Westen
Auf dieser im Prinzip ähnlichen wirtschaftlichen Grundlage von Ackerbaugesellschaften durchliefen Ost und West in der Grundtendenz auch ähnliche gesellschaftliche Entwicklungen. Hier wie dort reagierten die Menschen nahezu gleich auf Herausforderungen, seien es Klimaschwankungen, Seuchen oder Migration. Zunächst ging der Westen in seiner Entwicklung zeitlich voraus. Zum Ende der Antike war ein gewisser Gleichstand erreicht.
- Bronzezeit: Eine Klimaänderung nach 3800 v. Chr. brachte im Mittelmeerraum größere Trockenheit. Die Menschen an Euphrat, Tigris und Nil rückten enger zusammen. Es entstanden Stadtstaaten und Reiche mit komplexer Organisation. Am Nil wurde dadurch der Pyramidenbau ermöglicht. Eine höhere Komplexität der Herrschaftssysteme führte zu mehr Fragilität. Das erklärt den ständigen Wechsel der Reiche und Dynastien. Bis zum Ende der Bronzezeit bildeten sich nach zahlreichen Wechselfällen im Westen vier altorientalische Großmächte heraus: Ägypten, Altbabylon, die Hethiter und die minoische Seemacht Kreta. Der Osten bewegte sich zeitversetzt entlang der gleichen Linien: Es kam zu Städte- und Reichsbildungen sowie zu Grab- und Festungsbauten in den großen Flusstälern. Die noch legendenhafte Geschichte wird in China in die dynastischen Perioden Xia (ca. 2070–1600 v. Chr.) und Shang (ca. 1600–1050 v. Chr.) eingeteilt.
- Eisenzeit: Um 1200 v. Chr. gingen die bronzezeitlichen Hochkulturen der altorientalischen Reiche unter den verheerenden Schlägen der eisenzeitlichen Wanderungen unter. Erstmals seit der Eiszeit erlebte der Westen einen herben Rückschlag in seiner Entwicklung. Um 1050 v. Chr. setzt China seine Entwicklung unter der Zhou-Dynastie fort. Im Verlauf des ersten Jahrtausends v. Chr. fanden beide Sphären der Welt zu rationalen Herrschaftsformen: despotische Verwaltungs- und Militärstaaten im Orient, ein Beamtenstaat in China, Stadtrepubliken in Griechenland und Rom. Ab ca. 250 v. Chr. wurden beide Sphären in einheitlichen Reichen zusammengefasst: Der erste chinesische Kaiser Qin (bekannt für seine Terrakotta-Armee) eroberte gewaltsam alle streitenden Reiche. Rom dehnte sich nach dem Sieg über Karthago rund ums Mittelmeer und jenseits der Alpen aus. Zur Zeit Cäsars hatten beide Sphären hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Entwicklung Gleichstand erreicht. Im römischen Kaiserreich und im China der Han-Dynastie blühten Wirtschaft und Kultur bei relativem Frieden.
- Achsenzeit: Dieser kulturgeschichtliche Begriff stammt von dem Philosophen Karl Jaspers. Die neue globale Entwicklungsstufe fand ihren religiös-philosophischen Ausdruck um die Mitte des Jahrtausends, als Konfuzius, Laotse, Buddha, die jüdischen Propheten, der Zoroastrismus und die griechischen Philosophen von Thales bis Aristoteles den Menschen ein neues Selbstbewusstsein geben. Die neuen Religionen bis hin zum attischen Vernunftdenken waren – wie die Herrschaftsformen – rationaler als die Mythen und Kulte davor.
- Mittelalter: Durch die imperiale Überdehnung Roms und die einsetzende Völkerwanderung erlebte der westliche Teil des Westens einen erneuten Rückschlag hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Entwicklung. China konnte sich unter den Sui und Song restrukturieren und behielt seine Führung auch unter den Mongolen (Yuan), den Ming und am Anfang der Qing-Dynastie, bis ca. 1775. Durch das Aufkommen des Islams entstand im Nahen Osten nach der Spätantike eine neue Dynamik und unter dem Kalifat auch eine gewisse kulturelle und politische Einheit. Der Mongoleneinfall erschütterte das überdehnte Kalifenreich. In China einten die Mongolen das Reich. Es war übrigens dieses China unter der Herrschaft des Mongolen Kublai Khan, das Marco Polo den rückständigen Europäern in glühenden Farben schilderte. Nach mehreren Wechselfällen stabilisierten die türkischen Osmanen den Nahen Osten und bedrohten Europa, brachten aber die gesellschaftliche Entwicklung des Westens nicht voran.
- Renaissance und Kolonialzeitalter: Erst nach den Verheerungen der Pestzeit (um 1350) holte der Westen im Vergleich zu China auf: Durch die Rückbesinnung auf geistige Lebensformen der Antike löste sich Europa in der Renaissance aus seiner Erstarrung. Das Ausgreifen über den Atlantik (Kolumbus) sowie nach Südasien (Vasco da Gama) eröffnete dem Westen neue ökonomische Spielräume und damit neue Ansätze seiner gesellschaftlichen Entwicklung. In China scheiterte dagegen der Anlauf zur Öffnung über das Meer am Beginn der Ming-Dynastie. Das Reich der Mitte schloss sich konservativ nach außen ab. China blieb aber im Kolonialzeitalter jahrhundertelang Großexporteur von Luxuswaren (Tee, Seide, Porzellan) in den Westen und importierte seinerseits nichts als Silber. Kurz vor 1700 besiegte China endgültig die Nomadenvölker der Steppen. Trotz hoher technologischer Standards gelang China kein Durchbruch zu einer industriellen Revolution. Durch den transatlantischen Verkehr (Waren, Sklaven, Auswanderer) verlagerte sich der Entwicklungsschwerpunkt des Westens in die Nordsee-Anrainerstaaten.
- Moderne: Die Nutzung der Dampfkraft ab 1776 beschleunigte die Entwicklung des Westens in umwälzender Weise. China musste gleichzeitig einen Niedergang hinnehmen, der durch das restrukturierte Japan nach 1900 verstärkt wurde. Als Folge des Ersten Weltkriegs verlagerte sich der Schwerpunkt des Westens über den Atlantik in die USA. Mao Zedong legte in China nach dem Zweiten Weltkrieg die politischen, Deng Xiaoping nach 1978 die ökonomischen Grundlagen für den Wiederaufstieg Chinas.
Ausblick in die Zukunft
Zieht man die gegenwärtigen Entwicklungslinien einfach in die Zukunft fort, so erscheint es unausweichlich, dass der Osten im Lauf dieses Jahrhunderts den Westen überholt. Die Experten streiten sich lediglich darüber, ob es schon 2025, 2050 oder erst etwas später so weit sein wird. Noch behauptet der Westen, insbesondere die USA, seine Führung. Alle wesentlichen Neuerungen, in Genetik, Robotik, Nano- und Computertechnik, entstehen vorerst noch dort. Aber vielleicht werden diese rasanten Umwälzungen auch relativ bald einen völlig neuen Zustand herbeiführen, eine Singularität menschlich-gesellschaftlicher Entwicklung, die das seit der Jungsteinzeit bestehende Ost-West-Schema obsolet macht. Es geht nicht nur um globale Herausforderungen wie Atomkrieg, Erderwärmung, Ressourcenknappheit, Megastädte, Terrorismus oder die Schrumpfung der Biodiversität. Möglicherweise wird sich der Homo sapiens selbst tief greifend verändern. Wenn sich die Miniaturisierung im Computerbereich so weiterentwickelt wie bisher, sind die Auslagerung des Bewusstseins oder genmanipulierte Änderungen des Menschen keine Utopie mehr.